Melancholisch-pharmakologische Utopie

Wo der letzte Textangriff – allem medialen Trubel zum Trotz – inhaltlich eigentlich nur eine kleine Gruppe an Intellektuellen betroffen hatte, wendet dieses neuerliche Beweisstück terroristischer Subversion sich schlicht an alle Menschen von Quanzland. Wenn deshalb hierauf nicht noch heftigere Verrisse und Anfeindungen folgten, wäre ich doch sehr verwundet.

Der Text hätte eine unglaublich sozial-kulturelle Sprengkraft, würde seine Kritik ernst genommen und seine Appelle in historische Tat umgesetzt. Da es aber genug schöne, bequeme und anerkannte – kurz normale – Alternativen zu dem darin angedeuteten Lebensentwurf gibt, begnügt sich der typische Einwohner Quanzlands lieber mit allerlei Zerstreuung, anstatt zu fernen Ufern aufzubrechen.

Eine Utopie im besten Sinne des Wortes haben wir also hier vor uns: Kritik des Bestehenden und konkreter Entwurf des Besseren. Allerdings krankt sie an einem naiven und idealistischen Pathos. Geblendet von diesem unterschätzt der Entwurf die verbreitet Angst vor den Abgründen der Seele, den Tiefen des Ozeans Namens Geist. Die Wenigsten ertragen die erschreckende Stille und den schmerzlichen Verzicht; wo doch soll viele Reize locken und Bedürfnisse – künstliche wie natürliche – nach Stillung dürsten. Dennoch und gerade wegen ihrem träumerischen Idealismus sind die Worte Albert Hoffmanns getragen von nüchternem Ernst und zugleich durchdrungen von kreativer Hoffnung – eine seltene und erstrebenswerte Haltung.

In mild-utopischer Stimmung wünscht Euch nur das Beste, Euer Satorius


 

Dieses Bedürfnis steht im Zusammenhang mit der geistigen und materiellen Notlage unserer Zeit. Es erübrigt sich, im einzelnen aufzuzählen, wo es nicht mehr stimmt in unserer Welt. Gemeint sind auf geistigem Gebiet Materialismus, Egoismus, Vereinsamung, Fehlen einer religiösen Lebensgrundlage; auf der materiellen Ebene Umweltzerstörung infolge Technisierung und Überindustrialisierung, drohende Erschöpfung der natürlichen Reserven, Anhäufung von ungeheuren Vermögen bei einzelnen bei gleichzeitiger zunehmender Verarmung einer Großzahl der Bevölkerung. Diese bedrohliche Entwicklung hat ihre geistige Ursache in einer dualistischen Weltanschauung, in einer bewusstseinsmassigen Aufspaltung des Welterlebens in Subjekt und Objekt.

[…]

Alle Mittel, alle Wege, die zu einer neuen, universalen Geistigkeit führen, verdienen, gefördert zu werden. Zu diesen gehört vor allem die Meditation, die durch verschiedene Methoden unterstützt und vertieft werden kann; durch Yoga-Praktiken, Atemübungen, Fasten usw. und durch sinnvollen Einsatz von gewissen Drogen als pharmakologische Hilfsmittel. Die Drogen, die hier gemeint sind, gehören zu einer besonderen, als Psychedelika und neuerdings auch als Entheogene bezeichneten Gruppe von psychoaktiven Substanzen. Ihre Wirkung besteht in einer enormen Stimulierung der Sinneswahrnehmungen, einer Verminderung oder gar Aufhebung der Ich-Du-Schranke und einer Bewusstseinsveränderung im Sinne einer Sensibilisierung und Erweiterung.

 

Albert Hofmann (1906 – 2008), Vorwort zur Enzyklopädie der psychoaktiven Pflanzen von Christian Rätsch (1957 – ): S.2 (1988)

Eine Zuflucht vor den Diskursen der Nacht

Es ist endlich soweit: Zu Hause!

Ich habe mich nun tatsächlich in der provinziellen Peripherie von Quanzland häuslich niedergelassen. Allen politisch-kulturellen Bedenken zum Trotz, es bleibt meine Heimat. Die Verschiebungen in Politik und Öffentlichkeit, die sich, zunächst befürchtet, zwischenzeitlich leider als weitgehend zutreffend herausgestellte haben, setzen mir zwar ein wenig zu; dennoch, die Vorteile und Annehmlichkeiten im Privaten überwiegen in der Abwägung klar. Hier bleibe ich erstmal, schaue mich um und lebe mich ein.

Denn ein sehr Gutes haben die rapiden und radikalen Veränderungen der politischen Hierarchie und institutionellen Struktur von Quanzland: Meine Anklage, meine Akte und die persönlich von mir oder durch mich betroffenen Akteure sind allesamt spurlos verschwunden. Vermutlich irgendwo in den düsteren Tiefen dessen, was man abstrakt und harmlos Geschichte nennt.

Wie revolutionär diese von Statten ging, muss ich gelegentlich noch in Erfahrung bringen – mit den erschreckend selten gewordenen, klaren und reinen Quellen. Positive und hoffnungsvoll-naive Gemüter sprechen dieser Tage von Fortschritt und preisen das, was aller Wahrscheinlichkeit nach eine irgendwie gewaltsame Revolution war und eventuell noch ist, fast unisono als notwendige Reform. Wenn diese Frohnaturen Redakteure und Herausgeber renommierter Medien sind, schleicht sich der Begriff Propaganda als Verdachtsmoment in meine Hirnwindungen. Aktuell noch subtil und hintergründig, nur sporadisch und leise wispernd, gilt es dieses Hirngespenst entweder zu bannen oder herzlich willkommen zu heißen. In meinem neuen Domizil wäre jedenfalls noch genug Platz für Neuanschaffungen und Zuwachs.

Da ich aus Gründen der Wahrheitsfindung also darauf angewiesen bin, meine Nase in allerlei aktuelle und historische Texte zu stecken, bin ich kürzlich auf ein neues, terroristisches Fragment gestoßen. Dass dieses englische Text-Fast-Food für einigen Wirbel sorgt, dürfte unseren altbekannten Gedankenterroristen beglücken.

Er hatte mit dieser vor vier Tagen aufgetauchten, intellektuellen Provokation die Gemüter der Staatsgeistlichkeit von Quanzland spürbar erhitzt. So hatten ein großer Anteil der Professorenschaft auf die philosophische Anfeindung, wenigstens mit verärgerten, teilweise gar mit unflätigen bis obszönen Stellungnahmen reagiert. Bei der Publikation halfen dann mediale Multiplikatoren derart eifrig mit, sodass aus einer akademischen Mücke ein innenpolitischer Elefant geworden ist: Etwa konzertierte Stimmungsmache?

Einer der vielen, verdächtigen Text war mir – wie anfangs gesagt – in die Hände gefallen und hatte sofort mein Interesse geweckt. Einfach erstaunlich, wie viel öffentliche Aufmerksamkeit unser altbewährter Aktivist damit bekommt: Ich möchte ihn nur noch ungern einen Terroristen nennen. Ich hege ja seit Längerem eine wachsende, intellektuellen Sympathie diese(n) Menschen gegenüber. Seitdem ich auf meiner Reise zurück in meine alte Heimat unterwegs war – treue Mitreisende erinnern sich eventuell – und vor allem seit ich hier angekommen bin und lebe, hat sich das Dunkel des Falls Terrorexzess mit Text-Fast-Food schrittweise ein klein wenig erhellt. Soweit zumindest, um sagen zu müssen: Ich bin ich in meinen Zweifeln milde bestärkt; verliere dadurch die Hoffnung auf Heimat aber nicht.

Integrität und Authentizität von Medien und Institutionen hier in Quanzland, stehen für mich nun also insgesamt auf dem Prüfstand. Wobei ich dem staatlichen Informationsmoloch und der Handvoll, noch verbliebenen, privat-wirtschaftlichen Medienkonzerne mit der gleichen, methodisch-kalten Skepsis begegnen möchte. Der Umgang mit Mr. X, wird dabei einer meiner journalistischen Lackmustest sein. Man bräuchte im Ideal eine profundes Insider-Wissen und könnte dann abwarten, um ganz sachlich zu beobachten wer, was, wie verdreht. Da dies wohl so schnell nicht passieren wird, finden sich vielleicht noch andere tagesaktuelle, möglichst politische Themen, deren Hintergründe direkter, unvermittelter erfahren werden können. Es gibt derzeit viele Kontroversen die in Frage kämen: Krieg vor der Haustür, Elend an den Grenzen, Zwietracht und Diskriminierung im Inneren und Äußeren.

Schon der hochverehrte Epikur riet zu einem Leben im Verborgenen, fern von großer Politik, Geschichte und Geschäft. So lag sein Schule – passend und konsequent zugleich: Ein Garten – abseits des Zentrums vor den Toren Athens. In seiner 58. Weisung formuliert kurz und knapp, dabei ermutigend imperativ: Befreien muss man sich aus dem Gefängnis der Alltagsgeschäfte und der Politik.

Wie immer viel geschrieben, wenig erklärt, fast nichts gewusst und so komme ich schließlich mit dem eigentlichen Aufhänger des Textes, nun als Absacker, zu einem Ende; sonst verirre ich mich noch in den Diskursen der Nacht und finde am Ende womöglich nicht mehr heraus und zurück in mein Haus – die ultimative Zuflucht.

Hin- und hergerissen zwischen heimatlicher Geborgenheit und nächtlich-diskursiver Skepsis, Euer Satorius


Without consciousness the mind-body problem would be much less interesting. With consciousness it seems hopeless. The most important and characteristic feature of conscious mental phenomena is very poorly understood. Most reductionist theories do not even try to explain it. And careful examination will show that no currently available concept of reduction is applicable to it. Perhaps a new theoretical form can be devised for the purpose, but such a solution, if it exists, lies in the distant intellectual future.

 

[…]

 

Strangely enough, we may have evidence for the truth of something we cannot really understand. Suppose a caterpillar is locked in a sterile safe by someone unfamiliar with insect metamorphosis, and weeks later the safe is reopened, revealing a butterfly. If the person knows that the safe has been shut the whole time, he has reason to believe that the butterfly is or was once the caterpillar, without having any idea in what sense this might be so. (One possibility is that the caterpillar contained a tiny winged parasite that devoured it and grew into the Butterfly.)

 

Thomas Nagel (1937 – ), What is it like to be a bat?, in: The Philosophical Review LXXXIII – 4, S. 435 & 450 (October 1974).

#12/12 – Einstweiliges, erweitertes Ende eines ergötzlichen Einstands

Eine kleine Geschichte in der großen Geschichte geht zu Ende. Jedenfalls lässt der Einstand mehr erwarten. Mehr zu lesen vor diesem ersten Ende der Erzählung gibt es noch oben drauf. Der ungenannte Kollege und Erstlingsschreiberling trat mit weiteren Seiten an mich heran. Deshalb gibt es nun zum Abschluss in Teil 12 eine doppelte Portion Text.

Genussvolles Lesen und Leben, Euer Satorius


Die Heimkehr des verspannten Fast-Magisters

Teil 12 von 12: Seiten 34 bis 40.

Nachdem der Aggressor buchstäblich außer Gefecht gesetzt worden war, stürmte Frau van Beeger die wenigen Meter zu ihrem Mann und kümmerte sich sofort mit ihren Möglichkeiten um ihn; ohne die sofort herbeigerufene, mobile Medizinalstation wären all ihre Fürsorge und Liebe jedoch vergebens gewesen, hier half nur noch medizinische Hochtechnologie. Denn der aggressive Gewaltausbruch des gefechtsaugmentierten Wächters hatte ernstliche innere Verletzungen zur Folge gehabt, was angesichts von unfairen Vorteilen wie Muskelverstärkung, Panzerung und Nahkampferfahrung kaum überraschte. Dank enormer Fortschritte in Medizin, Robotik und Informatik würden die Behandlung der Schäden, die eine zertrümmerte Flanke und ein ebensolches Gesicht mit sich brachten, nur eine Frage von gut 15 Neu-Minuten Notfalloperation direkt vor Ort sein. Danach würde der Patient lediglich noch einige Tage Schonung bei normaler Alltagsbelastung bedürfen. Selbst die ästhetischen Entstellungen konnten kosmetisch gut kaschiert werden, bis sie endgültig abgeheilt sein würden. Ob dieser glimpfliche Ausgang Kirchner bewusst gewesen war, als dieser losgestürmt war und wie ein Wilder angegriffen hatte, mag angezweifelt werden.

 

Als er die erste Hilfe für das schwer verletzte Opfer veranlasst hatte, wies Hofmeister den nunmehr zwar wieder beweglichen, aber weiterhin mit Lähmungen gestraften Kollegen förmlich zurecht und beließ es aus Disziplinargründen bei einer Paralyse der oberen Gliedmaßen, mitsamt der Sprachmuskulatur. Damit gleichsam Richter und Henker, tat er sich selbst und allen anderen einen großen Gefallen. Xaver ging, während er die Situation bei Hofmeister in guten Händen wähnte, den kurzen Weg zurück und wollte holte, sehr zu dessen offenkundiger Freude, den kleinen Mauritius ab. Hofmeister hatte zuvor auf seine Anfrage hin, nur stumm und wohlwollend genickt.

 

„Hallo, da bist du – endlich! Gehen wir jetzt zusammen zu Mama und Papa, Zauberer Xaver Satorius?“ fragte dieser sofort frei heraus zur Begrüßung; dabei war Xaver wahrlich nicht sehr lange weg gewesen. Mauritus Mutter – Eris, wie er von dem roten Lockenkopf gerade auf dem kurzen Rückweg erfahren hatte – hatte in ihrer akuten Sorge um den lebensgefährlich verletzten Partner noch keine Zeit gehabt, nach ihrem Sohn zu sehen. Nun freute sie sich deshalb um so mehr, als dieser in Xavers Begleitung unerwartet die Szene betrat. Die Freude der Ehefrau über die Rettung ihres Mannes wurde noch durch die Erleichterung der besorgten Mutter gesteigert. Ihr wunderschönes, elfenhaftes Gesicht, nun noch verziert durch ein glockenhell klingedens, einfach bezauberndes Lachen, zog Xaver in seinen Bann. So ließ er sich einen unendlichen Augenblick des Glücks und der Liebe lang in das Antlitz von Eris van Beeger versinken. Es war geborgtes, fremdes Glück und die Liebe galt nicht ihm, trotzdem er hatte sie in dieser Form hier überhaupt erst möglich gemacht. Anteilnahme dieser Sorte war eine seltene Erfahrung für den emotionalen Einzelgänger, aber sie fühlte sich gar nicht so übel an; ein Ereignis das Matrina mehrfach hervorhob und dessen Bedeutsamkeit sie wortreich und schmeichlerisch betonte.

 

Nachdem die pure Freude sich in einer unendlichen Folge unendlicher Augenblicke erschöpft hatte, kehrte die sogenannte Normalität zurück und damit griffen alle wieder zu ihren öffentlichen Masken: Er selbst, der augmentat-starrende Gelehrte, zufällig und unverhofft zum Retter avanciert; sie, die schrille und womöglich rebellische, atemberaubend schöne, junge Mutter; er, der ungeduldige und unstete, aber insgesamt integere und verträgliche Wächter; es, das überglückliche, verzogene, dennoch im Grunde sympathische Kind – es trägt übrigens, wie nicht anders zu erwarten, die kleinste Maske – und schließlich noch die beiden Archetypen: Das geschundene Opfer, das gerade von seiner Familie sehnlich erwartet, in einer mobilen Operationseinheit unter Temporalnarkose stand und in wundersamer Eile geheilt wurde, und letztlich der sadistische Peiniger, der einer Groteske gleich, stumm und sichtlich gematert am Rand der Szenerie stand, nicht konnte, was er wollte und zudem einer ernsten Strafe entgegensah – so standen sie da und wurden von nur wenigen verstohlenen Blicken gestreift. Die Passanten taten alles, um nicht aufzufallen, sei es im Guten wie im Schlechten. Man scheute sich davor, auch nur in den Blick der Mächtigen zu geraten, dieser Tage in dieser Gegend des Sonnensystems.

 

„Was ich vorhin sagen wollte, bevor Kirchner ausgetickt ist und mit seinem Übergriff den kleinen Rest an Glaubwürdigkeit verspielt hat, den ich ihm noch zugebilligt hatte, spielt nun keine Rolle mehr. Ich muss mich im Name der Karlus-Korporation vielfach bei ihnen und vor allem ihrem Gatten entschuldigen. Mein Kollege wird in jedem Fall disziplinarische Maßnahmen zu tragen haben. Es mögen düstere Zeiten sein, aber zumindest grundsätzliche Grenzen von Sittlichkeit und Anstande kennen wir noch, hier im alten Deutschland. Ich werde mich persönlich für eine Ausschüttung von Schmerzensgeld stark machen, kann aber in dieser Hinsicht nichts versprechen. Was die Behandlung und die Folgekosten der Verletzung angeht, garantiere ich ihnen weiterhin Kostenfreiheit in allen unseren Einrichtungen – und glauben sie mir, das sind fast alle Empfehlenswerten hier vor Ort.“ Eine glaubhafte Entschuldigung, mit der sich Hofmeister, etwas zu abrupt um gut platziert zu sein, an die Versammelten wandt; dem Ton nach untertänig und sich der Offensichtlichkeit der groben polizeilichen Verfehlung bewusst. Er würde des Weiteren selbstverständlich auf Ermittlung in diesem Fall verzichten und erbot sich nun uneingeschränkt als Fahrer für die vier, überraschend zusammengewürfelten Weggefährten. Wer hätte anfangs gewagt, diesen günstigen Verlauf der Ereignisse zu prognostizieren: 66,6023 Prozent Erfolgswahrscheinlichkeit hatten sich eindrucksvoller realisiert, als sie zunächst in ihrer Nüchternheit hatten erwarten lassen hatten. Wahrscheinlich war der Ausraster des ungehobelten Barbaren der ausschlaggebende Faktor gewesen, zum Leidwesen von Edgar van Beeger, durch dessen Ausbleiben Xavers Blatt, seiner Trümpfe zum Trotz, wie ein Kartenhaus in sich hätte zusammenstürzen können – früher oder später.

 

Nun nach den Zugeständnissen durch Hofmeister, gab es auch endlich die Gelegenheit, sich einander zu näher vorzustellen und abzusprechen, selbstverständlich unter Wahrung der Rollen, also teilweise hinter vorgehaltener Hand und im Flüsterton. Eris hatte sich zuerst erfrischend herzlich, offen und ehrlich, aber nicht distanzlos bei ihrem Retter bedankt und hatte ihm während der kurzen Umarmung, die Xaver sehr genossen hatte, die nötigsten Informationen zugeraunt. Kurz darauf war dann auch ihr Partner Edgar wohlbehalten aus der mobilen Medizinalstation gestiegen und hatte damit von der Schwelle zum Tod zurück ins Leben gefunden. Wenn man sich seines jämmerlichen Anblicks von Vorhin entsann, mit schmerzverzehrtem Gesicht, schreiend und blutend, grenzte diese spontane Heilung beinahe an ein Wunder. Er hatte etliche Rippenbrüche erlitten; Läsionen von Milz, Nieren und Lunge zu ertragen sowie schwere bis leichte Traumata bis Prellungen aller inneren Organe zu beklagen; einschließlich eines gebrochenen Kiefers mitsamt einem schweren Schädelhirntrauma. Schließlich war er nun Dank einer ersten, zwiespältigen Kontrolltechnologie vor noch Schlimmerem – dem Tod vermutlich – bewahrt worden und wurde nun von einem zweiten, medizinischen Artefakt kuriert.

 

Nach seinem Ausstieg nach Außen hin fast vollkommen wiederhergestellt, eilte er freudestrahlend zu seinen Lieben und feierte seine Wiedergeburt entsprechend frenetisch. Danach wandte er sich zu Xaver um, der still und zurückhaltend dem familiären Glück seinen Raum gegeben hatte, indem er auf halber Strecke zu Hofmeister abgewartet hatte. Er und sein Familie bestanden zum Dank für Xavers Hilfe darauf, ihn wenigstens zu einem gemeinsamen Essen einzuladen. Mauritius liebte seinen Zauber sowieso und so war die anschließende Fahrt in lebendigeren Bezirke von Frankfurt Rhein/Main schnell beschlossen. Dafür galt es nun als erstes aus dem Zentralknoten herauszukommen, wofür sie sich geschlossen auf den Weg in die subterranen Tiefen machen mussten. Dort, ungefähr drei Kilometer unter der Erde, so erklärte Hofmeister auf dem Weg, würde sein und Kirchners Fahrzeug auf sie warten. Gegen den Weg und die kurzweilige Möglichkeit, Eris genauer kennenzulernen, hatte Xaver wenig einzuwenden – ganz im Gegenteil; Kind und Ehemann zum Trotz und ohne den Glauben, seine verstiegene Fantasie je verwirklichen zu können, überhaupt wirklich zu wollen. Sowohl stand er sich, als auch sie ihm dabei im Wege. Er mochte Mauritius viel zu sehr und begann langsam Edgar wertzuschätzen, außerdem war er Frauen gegenüber immer ziemlich abgeneigt gewesen – früher, bevor er schrittweise augmentiert worden war. Ein nicht zu unterschätzender Nebeneffekt, der sich im Laufe seines Exils auf dem Mond eingestellt hatte. Vor allem aber hatte Eris noch ein Wörtchen mitzureden, von Edgar mal großzügig abgesehen. Sie war zwar zutiefst dankbar und öffnete sich, alleine wegen ihrer extrovertierten Art, anderen gegenüber relativ schnell, mehr aber auch nicht.

 

So tat ein augmentierter Neu-Mensch, der wider seiner Natur und hauptsächlich aus existenzieller Notwendigkeit heimkehrte Richtiges im Falschen: Im Herzen Zorns und auf dem größten Schlachtfeld das die menschliche Geschichte je hervorgebracht hatte; im Vakuum der Humanität hatten er und die Segnungen der Hochtechnologie für eine hoffnungsvollen und schönen Moment an diesem Saturntag den 21.5 des Jahres 2205 gesorgt. Nur zehn Sonnen-Jahre nachdem der Fortbestand der solaren Menschheit in 2195 aufs Äußerste gefährdet worden war; aufgrund einer Katastrophe, deren unmittelbaren Schäden noch nicht annähernd beseitigt und deren mittelbare Konsequenzen, geschweige denn langfristige Folgen, kaum vorstellbar waren – dem historisch unvergleichlichen Einschnitt, der so prosaisch als solarer Kollaps Eingang in die Annalen der Menschheit gefunden hatte. Dieser düstere, solar-historische Hintergrund spielte aber seit der Landung für Xaver Satorius und seine kuriosen Bewusstseins-Module kaum noch eine Rolle; für den kleinen Mauritius, dessen Eltern Edgar und Eris und die beiden Wächter ebenso wenig. Denn es gab Wichtigeres, wie Matrina so geschwungen und sachlich zugleich formulierte: „Abstrakt gesprochen geht es um das gute Leben, was konkret bezogen bedeutet, die Leiden und Freuden der Wirklichkeit in eine gute Balance zu bringen, wobei couragierte und inspirierte Tätigkeit, gute Arbeit also, privilegiertes Medium sein sollte.“

 

Alle litten sie unbewusst oder bewusst auf ihre eigene Art an den vielfältigen Folgen dieses epochal-traumatischen Ereignisses. Am folgenreichsten waren wohl Menschen wie der brutale Wachsoldat Kirchner betroffen oder auch die vielen ungenannten, anonymen Dritten, die ihre Hilfe unterlassen hatten, oder wie Hofmeister davor standen wieder einmal wegzusehen. Sie alle zusammen aber, das muss hier wirklich betont werden, zählten mit ihrem alltäglichen, grauen Leid dennoch zu einer auserwählten Elite der Menschheit. Ob Organiker oder Neu-Mensch, sie alle besaßen vom Bruchteil des zivilisatorischen Erbes einen ungebührlich großen Anteil. Sie gehörten damit zu den wenigen, privilegierten Menschen, welche – der Fast-Magister Xaver Satorius exerziert es biografisch und zugleich pathologisch – die Augen nur fest genug verschließen mussten, um sich einfach vorstellen zu können, alles wäre oder würde wenigstens bald wieder gut. Sie standen damit in ihrer einigermaßen geordneten, leidlich funktionierenden Existenz im beinahe inhumanen Kontrast zu der tatsächlichen Lebenswirklichkeit der großen Masse an Überlebenden: Auf der Erde, den vielen Monden, Planeten, Planetoiden und Asteroiden des Sonnensystems, sogar weit unter den Oberflächen der Landmassen und in den tiefen der Ozeane, weit oben in den vielen Raumschiffen, Orbitalstationen und künstlichen Habitaten, die sich die Menschheit an den unmöglichsten Orten geschaffen hatte; überall dort litten derzeit Abermilliarden von Menschen an existenziellem, rotem Leid. Dieses Leid forderte wenigstens schmerzlichen Blutzoll und kostete höchstens das nackte Überleben. Eine unhaltbare Kluft zwischen technologisch-märchenhaftem Luxus auf der einen Seite und erbärmlichen, menschenunwürdigen Zuständen geprägt von Elend, Leid und Unfreiheit; eine historisch unhaltbare Asymmetrie.

 

Eine ambivalent schimmernde Seifenblase insgesamt, deren Anschein von politischer und technischer Stabilität diese ersten beiden Etappen der Reise geprägt und erleichtert hatte. Allerdings handelte es sich dabei um ein fragiles Gebilde, das zunächst glanzvoll in seinen bunten Regenbogenfarben blendet, im Nu aber bereits wieder zu zerplatzen droht. Ein impulsiver, technologisch überzüchteter Wächtersoldat, ohne nötige Selbstbeherrschung und bar humanen Anstands, reicht da vielleicht schon aus. Aber auch ein knapp kalkuliertes Budget konnte für Exilanten problematisch werden. War man nicht Teil der so unterschiedlichen Kollektive, die es derzeit im Sonnensystem gab, traf man nicht immer und überall auf Gastfreundschaft, Hilfsbereitschaft und Selbstlosigkeit. Von Geld als universellem Tauschwert konnte kaum noch die Rede sein, seit dem Zusammenbruch der meisten planetaren und nahezu aller solaren Strukturen und Institutionen. Bisher hatte Xaver auf seiner Reise in exakt sieben unterschiedlichen Währungen gezahlt. Vom digitalen Kredit bis zur handfesten Goldmünze erstreckten sich dabei die ontologischen Aussprägungen von Geld.

 

So war die Lage in vielen der Lebenszonen hier auf der Erde, den anderen Planten und Monden sowie den anderen Refugien der Menschheit, sehr unterschiedlich und extrem. Das konnten Googol und Sokrates nicht unterlassen, immer wieder zu wiederholen und damit über Gebühr zu betonen: „Ausdifferenzierung der historischen, zivilistarotischen und existenziellen Zustände: Vom postapokalyptischen Überlebenskampf, über die diversen guten wie schlechten Formen von Politik und Nichtpolitik hin zu hoch entwickelten, sozialen Utopien und Dystopien“, so lautet eine letzte Version dieser Überzeugung. Soweit es seine Persönlichkeit zuließ, stimmte sogar der prinzipiell ablehnende Nietzsche mit diesem Bild der Menschheit weitgehend überein und war damit abermals auf Seiten seines historischen Namenspatrons, wenn auch aus anderen Gründen als dieser im 19. Jahrhundert. Zunächst aber blieben ihm, also dem heroischen Exilanten Xaver Satorius der schimmernde Glanz der technisierten Seifenblase auf seiner Reise noch ein klein wenig erhalten, nachdem er sich angeschickt hatte, den gigantischen Komplex des zentralen Raumknotens Zentraleuropa in Frankfurt am Rhein und am Main in unverhofft reizvoller und vielfacher Begleitung zu verlassen.

 

In diesem Moment wanderte sein Blick das erste mal bewusst durch den düster-grauen, technikdurchzogenen, irgendwie schaurig-schönen Himmel, soweit das über die medial gefilterten Panoramaschirme auf dem Weg in die Tiefe hinab zu den Schwerefeldern eben möglich war; ein verstörrender Anblick, wie er und fast alle Module außer Nietzsche und Hoffmann befanden. Letzter enthielt sich, da er sich in Hinblick auf Emotionales und Ästhetisches für inkompetent hielt, wie er in gewohnt wenigen Worten zögerlich als Begründung vor sich hernuschelte. Eben jenem Hoffmann, genauer seiner Kompetenz im Mixen pharmazeutisch-psychedelischer Cocktails verdankte Xaver seine rasche Erholung nach dem Flug und ein Gross seines bravourösen Istzustands. So ging es ihm nunmehr in fast jeder physischen und psychischen Hinsicht wieder gut und sogar noch mehr als das. Seit der therapeutisch induzierten Applikation kurz nach der Landung sorgten die diversen Mixturen für die wirksame Erholung des gesamten Körpers, allem voran durch das restlose Verschwinden aller Psychosomatiken und physischen Folgen des auszerrenden Fluges. Nach dem Ende der sozialen Bewährungsprobe entfaltete nun eine dritte Rezeptur aus Hoffmanns Repertoire ihre Wirkung. Anfangs hatte sie sich nur leicht, mittlerweile aber merklich berauschend geäußert. Die Droge spendete mild-manische Euphorie; entspannte Körper und Geist gleichermaßen tief und restlos; stimulierte und ermunterte derart, das keine Anstrengung zu groß und kein Herausforderung zur schwer erschienen und regte nicht zuletzt Kreativität und Fantasie zu unbeschreiblichen Höhenflügen an – dies alles ganz ohne Nebenwirkungen, von den unvermeidlichen alltäglichen Abhängigkeiten mal abgesehen. Technisch sanktionierte Sucht ohne physische Konsequenz oder moralischer Reue, aber mit modularem Korrektiv namens Matrina. Lucy‘s Soma nannte Hoffmann diese Wirkstoffkombination, welche Xaver nicht mehr missen wollte, die aber als Suchtobjekt nicht mit den eskapistischen Ausflügen in Wissensnetze und Erfahrungswelten zu vergleichen sind. Im Gegensatz dazu musste Xaver nämlich in seinem Leib und damit in der wirklichen Welt präsent sein, um Hoffmanns pharmazeutische Alchemie empfinden zu können. Tiefenimmersion durch das Gedankenkonzil oder leiblicher Genuss, es gab keine Synergien zwischen beidem, nur den Wechsel.

 

Fast alles beim Alten beim aktuell verzückten Fast-Magister also: Vom planetaren Umzug ohne Rückkehr, der Heimkehr aus dem Exil und dem damit beginnenden neuen Lebensabschnitt mit all seinen Ungewissheiten und Hürden sowie selbstverständlich der Verlängerung des Endes der Geschichte selig berauscht mal abgesehen. Neugierde überspülte gerade Xavers Bewusstsein: Wer waren wohl diese seltsamen van-Beegers wirklich und was würde er hier in Zentraleuropa, nur noch wenige 100 Standard-Kilometer von seinem Ziel entfernt, wohl als nächstes zu erleben haben? Der eingeschlagene Weg führte ihn nun als nächstes im kleinen hinunter in die subplanetaren Tiefen des Zentralknotens und daraufhin im großen Maßstab weiter nach Nordwesten an den Rand des Einflussbereichs der KK – wie die fast staatsähnliche Neo-Genossenschaft Karlus-Korporation meist abgekürzt wurde. Er würde die wenigen Todeszonen, die er auf der Route nicht einfach umfliegen konnte, gut zu überstehen zu haben, denn die dort hausenden Schrecken sollte niemand am eigenen Leib erfahren müssen. Hätte er innerhalb der zivilsatorischen Hierarchie ganz oben gestanden, wäre vielleicht ein direkter Gleiterflug von hier zum Ziel finanzierbar gewesen. Da er aber mit seinen geringen monetären Mitteln haushalten musste, blieben ihm nur unsichere, aber dafür sehr viel günstigere Fortbewegungsarten. Mit einer Techno-Karawane aus einer der großen Sieben Metropolregionen in die Peripherie einer zweiten.

 

Aber erst stand noch ein rauschender Spaziergang in die Tiefe, mit anschließendem Höhenflug an. Der lange Tag würde im Anschluss von einem vergnüglichen Festmahl mit Eris und den anderen beiden van-Beegers gekrönt werden und dann in einem x-beliebigen Hotel enden. Erst am nächsten Morgen musste er weiterreisen, an den Rand der hiesigen Lebenszonen und damit den der relativen, zivilisatorischen Sicherheit. Die Route führte den Rhein hinunter in eine Region die früher mal Nordrhein-Westfalen genannt worden war, als es die Bundesrepublik Deutschland noch gegeben hatte. Das bedeutete, man musste durch neue und alte Wildnis reisen, musste dabei ausgedehnte urbane und teilweise sogar eine der wenigen natürlichen Todeszone bezwingen. Letztere lag als düsterromatische Wälder im Süden der Reiseroute und erstere würden als trostlose Architekturwüsten das atmosphärische Hauptthema der Reise ausmachen. Beiden gemein war die dort herrschende, ständige Lebensgefahr, auch wenn eine Techno-Karawane von schwer bewaffneten Fahrzeugen und den unvermeidlich dazugehörigen Militärs begleitet wurde – zumeist dreckige, ungehobelte Söldner.

 

Mitsamt seine vielen Lebenszonen lag das Ziel der Reise im Nordenwesten; dorthin zog es den verspannten Fast-Magister, der sich derzeit beinahe auf einer Heimreise in seine eigene Vergangenheit befunden hätte. Wenige dreistellige Standard-Kilometer Differenz zu seiner eigenen Geburtsregion auf der Erde im Nordosten von Frankfurt Rhein/Main werden im solaren Maßstab zur unbedeutenden Winzigkeit – hier vom galaktischen oder gar kosmischen Maßstab zu reden, wäre zu viel des Vorstellbaren und blieb neben allem technischen Fortschritt und historischen Rückschritt weiterhin unerreichbar für die solare Menschheit. Ein noch immer viel zu abstrakter, unerreichbarer Horizont, zu dem sich die Menschehit gerade erst im Aufbruch befunden hatte, als alles kollabierte: Der galaktische Lebensraum Milchstraße hatte bisweilen an Glanz verloren. In der unmittelbaren existenziellen Nähe galt es die entscheidenden Herausforderungen zu meistern, erst dann würde der Blick langsam wieder in die Fern gerichtet werden können. Ob Xaver, Eris und Edgar, Mauritius sowie die beiden Wächter Hofmeister und Kirchner diesen Zeitpunkt noch erleben würden, blieb wie alles Zukünftige zu erwarten: Je nach Herkunft, Haltung, Charakter und Zufall voll optimistischer Hoffnung; versunken in pessimistischer Verzweiflung; getrieben durch aggressive Projektion oder geblendet von purer Ignoranz.

#11/12 – Ein elftes Segment der blutigen Frühgeburt

Der dramaturgische Höhepunkt der Geschichte naht, und ebenso das Ende dieser Exkursion in den Bereich roher und frischer Literaturversuche. Wie es danach weitergehen wird, liegt im ungewissen Dunkel der Zukunft. Durch einen Abgrund aus Zufall, Freiheit und Entscheidung von der Gegenwart, der Präsenz dem unendlich kleinen und kurzen Hier und Jetzt.

Auf einen ordentlichen Klimax und einen angenehmen Ausgang des Wochenendes, Euer Satorius


Die Heimkehr des verspannten Fast-Magisters

Teil 11 von 12: Seiten 31 bis 34.

Ein Wimpernschlag später setzte Xaver – ein prächtiges Exempel des technisch optimierten Neumenschen – dazu an, auf das Drängen der beiden Sicherheitskräfte zu reagieren und würde dies mit kalkulierten 66,6023 Prozent Erfolgswahrscheinlichkeit dafür tun, dass sein geplanter und geübter Vorstoß letztlich erfolgreich sein würde. Als mäßig hoher Wert nicht unbedingt sicher, waren die zu erwägenden Nachteile jedoch in ihrer Wahrscheinlichkeit und Schädlichkeit insgesamt harmlos; also war die notwendige Intervention und anvisierte Bereinigung der Lage vielleicht elegant auf einem diplomatischen Weg machbar; andere Weg blieben dem Fast-Magister auch nicht – wollte er sich nicht selbst ernsthaft in Gefahr bringen. Dies zu vermieden war als eine der prinzipiellen Direktiven der gesamten Arbeit des Konzils vorrangig, stand somit fast außer Frage. Denn das letzte Wort hatte immer das klassische Ich und Xaver glaubte fest an dessen Existenz. Dessen Ränder mögen porös geworden sein, wegen der vielen technischen Erweiterungen und Eingriffe, aber es musste eine stabilen Kern geben; eine in sich veränderliche aber autonome Domäne seines ureigenen Willens. Damit weit mehr als bloß Ich – selbstverständlich war Bewusstsein synergetisch aus mindestens neun weiteren Aspekten zusammengesetzt. Je nach favorisierter Theorie des Bewusstseins, die derzeit anerkannte Mode waren, gab es diesen Minimalkompromiss: Die Bewusstseins-Dekade.

 

Die weitgehend Passivität, welche die beiden anderen Figuren im Zuge dieser Eröffnung bis hierhin an den Tag gelegt hatten, zeugte entweder von Klugheit, Verwirrung oder Unentschiedenheit. Wahrscheinlich war es Klugheit, sonst hätte Frau van Beeger nicht so geistesschnell auf sein Erscheinen reagiert. Sie standen seither gespannt und neugierig daneben, während sie schweigsam dem kommunikativen Schlagabtausch folgten. Bis auf die abgewürgte Begrüßung und eine kleine Geste der Dankbarkeit auf Xavers Nachricht über den Zustand gemeinsamen Sohn hin, hatten sie sich bisher zurückgehalten. Für den weiteren Verlauf stand damit jedenfalls eine gewisse Stabilität zu erwarten; sollten sie also gerne weiter die Ruhe bewahren.

 

„Oh – Demos! Das ist wirklich keine unerhebliche Kleinigkeit mehr, da stimmte ich ihnen natürlich sofort zu“, nahm er der Neuigkeit kompromissbereit und verständnisvoll ihre Schärfe, während er zu seinem Meisterargument fortschritt: „Das wäre für mich sehr traurig und unerwartet zu hören. Als ich während unserer gemeinsamen Reise mit den beiden Angeklagten des Längeren angeregt über meine berufliche Zukunft gesprochen habe, äußerten sie sich glaubhaft und vor allem wohlwollend über die damit unweigerlich verbundenen politischen Aspekte. Sie müssen wissen“, er macht ein bedeutungsvolle Pause, bevor er die rhetorische Rakete zündete, „zwei meiner zukünftigen Auftraggeber begleiten nämlich nicht gerade unbedeutende Positionen innerhalb der kontinentalen Politik. Ich bin derzeit auf dem Weg, um Anstellungen sowohl bei General Tadeusz von Quarz als auch bei Direktorin Eleonora Rether anzutreten. Mehr darf ich allerdings, wie sie sicher leicht nachvollziehen können, aus Gründen der Diskretion und Geheimniswahrung nicht sagen. Diese beiden Namen sollten ihnen aus den höchsten Führungskreisen der großen Sieben bekannt sein. Wenn sie, wie ich unschwer zu erkennen meine, Mitarbeiter der Karlus-Korporation sind, sei es direkt oder indirekt, so können sie sich wohl besser als die meisten vorstellen, dass man über diese beiden prominenten Persönlichkeiten schnell ins Gespräch über die große Politik gerät. Stehen unsere Arbeitgeber nicht sogar in ausgewiesen gutem Verhältnis zueinander?“

 

Während sich erste Reaktionen auf Xavers Aussage bei allen Beteiligten abzuzeichnen begannen, war dieser sehr froh darüber, durch die Finte mit dem Datenschutz, um hinderliche Details herumgekommen zu sein. Hoffentlich würden demütige Verblüffung und vorauseilender Gehorsam verhindern, dass diese Lücken noch sichtbar würden. So hatte er leichter Dings verschweigen können, dass er erst noch eine letzte, persönliche Runde im Auswahlverfahren um die Anstellung zu bestehen hatte und dass er eigentlich letztlich lediglich die Kinder der Mächtigen schulen und optimieren würde. Aber das waren alles andere als offensichtliche Schwächen, denn die Academia unterhielt bekanntlich Verbindungen zu fast allen Spielern im großen, solaren Spiel und offerierte diesen ihre diverse Dienstleistungen. harmlose Anwendung des durchaus gefährlichen Wissens ging, das Xavers Organisation den Mächtigen nicht nur dieser Welt anbot, war in diesem Zusammenhang, ein solches hinderliches Detail. Er blickte aufmerksam und neugierig, aber zugleich ruhig und unaufgeregt in die Runde und registrierte dabei zufrieden die Wirkung, die seine Eröffnung erzielte. Er konnte seine aufkeimende Freude an diesem Spiel in vollen Zügen genießen und wunderte sich während all dessen weiterhin über sich selbst: Früher hätte er nie so selbstbewusst und ausnehmend raffiniert eine derart brenzlige Situation meistern können, geschweige denn hätte er diese Hölle der Emotionen souverän beherrschen und sogar genießen können.

 

Den Eltern von Mauritius sah man bereits verhaltene Erleichterung an und die beiden Wachen verloren spürbar an Autorität im Angesicht solch mächtiger Namen und damit Referenzen, mit denen Xaver sich zu schmücken vermochte. Was, wenn sich herausstellte, dass zwei mehr oder weniger einfache Wachen Freunden oder auch nur Bekannten einer Person, die im Dienst solch erlesener Kreise stand oder stehen würde, Unannehmlichkeiten bereitet hatten; sie womöglich zu Unrecht der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung bezichtigt hatten. Dann riskierten diese einfachen Wachen schlicht Kopf und Kragen. In despotischen Zeiten, in den steile Hierarchien klarer und unversöhnlicher hervortraten als sonst, war man gut beraten, diese zu kennen und sofern möglich für seine Ziele zu nutzen. Nicht immer waren Klugheit und Wissen um Historie oder besser ein Wissen um zeitgenössische Solarpolitik und die dazugehörigen sozialen Zustände so unmittelbar nutzbringend wie in dieser Situation. Xaver jedenfalls war einstweilen sehr zufrieden mit der Entwicklung, ohne dass dafür bestätigende Worte hätten gewechselt werden müssen. Sogar als Wachführer Hofmeister scheinbar entrüstet zu einer Erwiderung ansetzte, blieb sich Xaver seiner machtvollen Verhandlungsposition bewusst und las aus der Haltung, dem Gestus – ja aus der ganzen Erscheinung der beiden Wachen, dass er die Partie so gut wie gewonnen hatte, wenn er seine Karten mitsamt den schlagenden Trümpfe von Quarz und Rether sicher zu Ende spielen würde. Natürlich war diese Gewissheit kein Ergebnis harter Arbeit oder ausgeprägten Talents, sondern wurde abermals von Berechnungen und entsprechenden Folgerungen technischen Ursprungs gestützt. Die aktuelle Prognose der Erfolgswahrscheinlichkeit hatte sich zwischenzeitlich auf stattliche 86,4231 Prozent erhöht – gut so, die Wächter schienen von dem Glanz der puren Macht nachhaltig beeindruckt worden zu sein.

 

„Sie meinen also ihre flüchtige Bekanntschaft mit diesen beiden Subjekten und ihre angebliche Anstellung in höchsten Kreisen, sei Anlass genug, unseren Indizien zu misstrauen? Ziemlich gewagter Einsatz, wenn sie mich fragen,“ hob er an, nur um dann unmittelbar, schon etwas leiser fortzufahren: „Wenn sich ihre Angaben aber tatsächlich als richtig erweisen würden, wären unsere Ambitionen gewiss flexibel. Sie wissen ja – Eine Hand wäscht die andere; wenn sie wirklich für General von Quarz arbeiten sollten, dann wären sie qua ratifiziertem Vertragswerk mein Verbündeter und als solcher annehmbarer Bürge für die Beiden hier.“ Dabei zeigte er auf das schrille Pärchen und fügte nun im Flüsterton noch näher zu Xaver gewandt hinzu: „Unter uns gesagt: Die Indizien sind sowieso nicht allzu stark. Das Ganze lag auch mehr im Ermessen Kirchners und wurde von mir nur geduldet, damit dieser beschäftig ist und unter meiner Führung vielleicht sogar mal was dazulernt. Wie gut der Versuch geklappt hat, haben sie ja hautnah miterlebt und so gekonnt entschärft – Danke dafür! Der Typ ist kaum zu zähmen. Eine der vielen Bestien, die dieser Tage die Welt unsicher machen. In seiner Uniform ist er ein Wolf im Schafspelz, wie man früher wohl gesagt hätte. Aber auf die Wache müssen sie uns noch kurz begleiten, auch wenn ich sie und vielleicht sogar ihre Freunde von dort im günstigen Fall gerne an einem Ziel ihrer Wahl absetze.“

 

Wieder lauter und zu allen Anwesenden gewandt, wollte er seine Entscheidungen verkünden als Kirchner plötzlich auf Herrn van Beeger losging. Er hatte wohl irgendwie mitgehört und sah nun den krönenden Abschluss seiner Schikane in Gefahr geraten. Das in jeder Hinsicht unterlegen Opfer musste sich nach einem gebrüllten: „Scheiß Terroristenschwein, friss das hier!“, einen ziemlich derben Schlag ins Gesicht gefallen lassen, den ihm der im Spurt losgerannte Wüstling gnadenlos mit aller augmentalen Kraft und Wucht gerade zufügte. Daraufhin zu Boden gegangen, trat ihm Kirchner mit einem mächtigen Tritt von der Seite durch die Rippen in den Brustkorb. Zuerst ein vernehmliches Krachen und dann ein widerwärtiges Schmatzen zeugten von katastrophalen Folgen. Der Angriff konnte tödlich enden, wenn nicht jemand einschritt.

 

Zu diesem zu späten Zeitpunkt machte der sichtlich entsetzte und deshalb überforderte Hofmeister gerade noch rechtzeitig von den Privilegien seines höheren Rangs Gebrauch. Der rasende Berserker hielt wie vom Blitz getroffen in seinem Wüten inne. Er hatte gerade seinen blutbeschmierten Stiefel aus der Flanke seines Opfers gezogen und wollte eben neu ansetzten. Seine Visage war noch hässlicher geworden, verzerrt von Zorn, Wut und purem Gewaltrausch. Hofmeister hatte diesen Exzess soeben beendet, indem er den Schinder einfach kurzerhand paralysiert hatte; sonst hätte man vermutlich nach einem nächsten in Richtung der Kopfregion angesetzten Tritt mit dem Schlimmsten rechen müssen. Diese Rettung in aller letzter Sekunde gelang ganz ohne Einsatz der Waffe, die in Hofmeisters Gürtelhalfter ruhte und durchaus auch dazu im Stande gewesen wäre. Er als Wachführer und Unteroffizier hatte gegenüber Untergebenen gewisse disziplinarischen Möglichkeiten, um einen total ausgerasteten, augmental aufgerüsteten Wächtersoldaten technisch in seine Schranken zu weisen – per augmentaler Zwangsorder, die von ihm in Notfällen über Kirchners Cerebralschnittstelle mit Überrang direkt ausgeführt werden konnte: Technischer Zwang hatte rohe Aggression gebändigt.

#10/12 – Das zehnte Segment der blutigen Frühgeburt

Wo sich in dem doch recht meditativ und hintergründig gehaltenen Auftakt der Geschichte, erstmals so etwas wie Aktion und Handlung entwickelt, möchte ich deren Fluss nicht allzu lange unterbrechen. Deswegen gibt es hier und heute bereits Teil 10 von 12. Die Spannung steigt milde, aber sie steigt. Also – wie gesagt, so nun getan – bremse ich sie nun nicht weiter und schreite zur Veröffentlichung.

Vergnügliche Lektüre und insgesamt eine gute Zeit, Euer Satorius


Die Heimkehr des verspannten Fast-Magisters

Teil 10 von 12: Seiten 28 bis 31.

„Guten Tag – angenehm, die Bekanntschaft von zwei so eifrigen Wächtern zu machen. Ich bin Xaver Satorius. Tatsächlich Magister und nicht Mönch, noch gar Möchtegern um das gleich zu Beginn aufzuklären. Danke für ihre Aufmerksamkeit und die Gelegenheit, mich einzubringen. Ich wüsste zunächst gerne, was meinen geschätzten Mitreisenden zur Last gelegt wird, denn ich wäre über eine Verwicklung dieser beiden in verbrecherische Aktivitäten ebenso entsetzt wie sie“, antwortete er erst einmal mit einer Gegenfrage und wandet sich zwinkernden Auges unbemerkt an seine gänzlich uneingeweihten Schützlinge. „Hallo ihr beiden. Eurem Sohn geht es wieder gut. Macht euch wirklich keine Sorgen mehr, ich haben mich gewissenvoll um ihn gekümmert. Er wartet drüben auf uns.“ Ob diese schwache Finte funktionieren würde, war zu bezweifeln, aber den rhetorisch gefahrlosen Versuch war sie auf jeden Fall wert.

 

„Hi Xaver! Das ist liebenswert von dir, nach unserem Jungen zu schauen. Wir …“, setzte die junge Schönheit, blitzschnell in ihrer Rolle aufgegangen, freudestrahlend zu einer Reaktion auf Xavers Eröffnung an, wurde aber sogleich harsch vom aufbrausenden Kirchner angefahren und damit im Ansatz unterbrochen.

 

„Schnauze, Pack! Ihr hattet eure Gelegenheit und sie, kommen sie zum Punkt – kein Geschwafel, Magister: Was wissen sie, was wir nicht wissen, aber ihrer Meinung nach wissen sollten?“, übernahm leider der unangenehmere Part in seiner rüden Manier die Gesprächsführung, bezeichnender Weise ohne seinerseits eine Art der Vorstellung unternommen zu haben. Kirchner hatte ihn sein Vorgesetzter vorhin genannt, bevor er sich nun zu seinem Einstieg ins Gespräch anschickte.

 

„Dem was Wachsoldat Kirchner gerade so unvergleichlich zum Ausdruck gebracht hat, stimme ich im Kern sogar zu. Ich bin übrigens Wachführer Hofmeister – auch angenehm. Aber wir werden zu laufenden Fällen kaum Jedermann Auskunft erteilen; also verdienen sie sich unser Vertrauen durch eine plausible Erklärung ihrer Anwesenheit und ein paar erhellende Hintergründe.“ Nachdem er damit zu Xavers Freude die Führung wieder übernommen hatte, warf der Vorgesetzte seinem Untergebenen nun im Wechsel mahnende und seltsam flehende Blicke zu. Die weitere Eskalation war damit zunächst verhindert worden, aber nun galt es, rhetorisch vorsichtig und strategisch klug voranzugehen. Sokrates, Xaya und Hoffmann waren hochaktiv, um Xaver bestmöglich zu unterstützen – (aug-)mental und physiologisch, kognitiv und kreativ gleichermaßen.

 

„Nun, wie gesagt, von Verwicklungen der beiden in illegale Aktivitäten oder was auch immer hier so lange besprochen wurde, weiß ich rein Garnichts. Wir haben uns während unseres gemeinsamen Transitaufenthalts in Eluna zufällig kennengelernt und sind schnell ins Gespräch gekommen. In den nächsten Stunden haben wir uns angeregt unterhalten; was wir auch während des Fluges fortführen konnten. Eigentlich bin ich kein besonders offener und gesprächiger Typ, aber die Wellenlänge stimmte bei uns wohl einfach von Anfang an. Jedenfalls habe ich dabei eine rechtschaffene und lautere, wenn auch nach Außen hin unangepasste, junge Familie kennengelernt. An ihrer moralischen Integrität habe ich trotz der zugegeben kurzen Dauer unserer Bekanntschaft keinerlei Zweifel mehr. Denn als Magister Universalis sind Menschen und deren rasche Kenntnis meine professionelle Domäne. Wer ein Bewusstsein optimieren will, ist zu Beginn auf ein möglichst akribische Beschreibung und optimale Beurteilung des Trägers angewiesen, müssen sie wissen. Mit dieser noch immer großen und mächtigen Institution sind sie ja sicher grundsätzlich vertraut?“, begann der Fast-Magister mit gewagt dosierten Übertreibungen und gutmütigen Auslassungen. Er glaubte, damit einen guten Mittelweg zwischen nutzlosen Fakten und sophistischer Fiktion zu gehen, der sich zur Eröffnung seiner Verteidigung anbot. Dieser argumentativ vage und schwache Auftakt seiner Apologie würde zusammen mit der Prahlerei das anschließende Kernstück der Rede ungleich stärker wirken lassen.

 

„Das ich nicht laut losschreie! Pah, Magister …“, setzte Kirchner zu einer scharfen Antwort auf die bloß rhetorisch gemeinte Frage von Xaver an, wurde jedoch herrisch von seinem direkten Vorgesetzten unterbrochen und gestenreich zur Ruhe gewiesen. Dieser ging seinerseits erwartungsgemäß galant über die letzte Spitze von Xaver hinweg und ließ sich inhaltlich auf dessen Eröffnung ein: „Wir sollen also in einer Ermittlung, welche die innere Sicherheit tangiert, auf die unbestrittenen Kompetenzen eines Magister Universalis vertrauen – einfach mal so? Nach unserem bescheidenen Kenntnisstand haben wir hier wahrscheinlich zwei Mitglieder von Demos gestellt. Sicher sind sie mit dieser rapide wachsenden und als illegal und terroristisch geächteten Organisation grundsätzlich vertraut?“ Damit spielte er seinerseits den Ball im Spiel der anregenden Konversation mit einem Mindestmaß an neuer Information zurück, ohne die unter diesen Umständen kein konstruktives Gespräch möglich gewesen wäre. Immerhin wurde Xaver bisher als ebenbürtiger Gesprächspartner – von relevanter, weil vorgesetzter Seite jedenfalls – akzeptiert und respektiert. Die Schwere der eröffneten Hintergründe, mit denen die Festsetzung und das Verhör des Ehepaars van Beeger begründet worden waren, komplizierte die Lage jedoch unglücklich. Glücklicherweise waren Rechtsstaatlichkeit und Dienstbeflissenheit vor Ort keine besonders gefestigten Werte, deswegen entschloss sich Xaver unverzüglich zum Konter und kam damit schneller als anfangs geplant zum Kernstück seiner kommunikativen Strategie – soviel zum Vorsatz, rhetorisch sorgsam vorzugehen. Dennoch stimmte er Sokrates und Xayas psycho-rhetorischer Spontanberatung zu, Kirchner musste sowieso überrumpelt werden und Hofmeister durfte sich gar nicht erst in der Rolle des korrekten Wächters einnisten. Sonst wäre das entscheidende Finale von Xavers Argumentation in seiner Wirkung reduziert und überdies psychologische Komplikationen auf Seiten Hofmeisters nicht ausgeschlossen. Er war zu geschliffen, um ein sicher lesbarer Akteur und damit gewisser Faktor in der Kalkulation zu sein, wenn er sich einmal aus seiner bequemen Lethargie herauslaviert hatte.    

 

Während des Gesprächs wurden selbstverständlich permanent unzählige Daten über dessen Verlauf und das Verhalten aller Beteiligten erhoben und ausgewertet, um darauf aufbauend mögliche Szenarien für die Zukunft, diesbezügliche Optionen und Entscheidungspfade zu generieren. Das Gedankenkonzil war schon eine enorm wertvolle Unterstützung, wie es in Echtzeit die sich flüchtig entziehende Dynamik des Geschehens mit seinen magischen Algorithmen zu bannen vermochte; um diese sodann in nüchterne Statistiken gegossen und in schlichten Prozentwerten und Baumdiagrammen ausgedrückt anzubieten. Je nach Präferenz als Visualisierung im optischen Bereich oder als spontane Bewusstseinsinformation, also auf mentalem Weg zugänglich. Was sehr abstrakt klingt, bedeutete ein bisschen konkreter, dass halbtransparente, im Vergleich zur vollen Aktivität minder farbenfroh kolorierte Erfahrungs- und Wissensbereiche in Xavers Bewusstseinskanälen verankert wurden. So konnte er als Zeichen und Bild darstellbare Informationen optisch als Text und Grafik in seinem Gesichtsfeld wahrnehmen; die vielfältigen anderen Aspekte der Situation konnte er wahlweise in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft mit einer jeweils angepassten Anwahl an beteiligten Sinnen, also auf authentischere, vollere Weise erleben; und schließlich konnten die unerlässlichen Szenario-Übungen in Erfahrungsräumen synchron zu allem absolviert werden – zeitlich parallel und damit neben und während der eigentlichen Gesprächsführung ohne ernstlichen Aufmerksamkeitsverlust, der irgendwie auffällig oder gar einschränkend gewesen wäre; alles auf einmal, mit optimaler Verteilung der individuellen, kognitiven Ressourcen. Sokrates sowie Xaya und Hoffmann befanden sich dafür derzeit in enger Koexistenz mit Xaver und waren dabei auf ihrer je eigene Art unterstützend, beratend und medizierend tätig.

 

Modellierte und simulierte Kognition, Emotion und Aktion waren Grundfunktionen des Gedankenkonzils und wurden sogar noch von den diversen Modulen integriert und addiert, damit funktional ungeahnt potenziert. Da mit diesen Technologien Handlung und Denken weitgehend administrierbare Parameter geworden waren, hatte sich alltägliches Dasein für Menschen wie Xaver radikal verändert. Das zufällige Chaos, die spontane Freiheit und das unvermeidliche Allzumenschliche, welche ohne Augmentate – normaler-, natürlicherweise also die Existenz zu weiten Teilen bestimmten, wurde so zum rationierten, notwendigen Gut. Ohne sie war wenig Kreativität zu haben und vor allem die Menschlichkeit fundamental gefährdet; mit einem nicht regulierten, weil natürlichen Überschuss hingegen waren Effizienz und Harmonie bedroht. Ganz so einfach ließ sich die Existenz des Menschen dann aber doch nicht erklären und anschließend fugenlos technisch beherrschen, wie unter anderen Exempeln auch Xavers Techno-Biografie eindrücklich belegte. Bevor jedoch die historische Situation als existenzielle Belastung hinzugekommen war, waren die damals vorhandenen Augmentate fast problemlos angenommen worden und hatten reibungs- wie tadellos in den Alltag eingefügt werden können. Die pathologischen Fehlentwicklungen, die sich später, vor allem in seinem letzten Lebensabschnitt eingestellt und verschärft hatten, könnten vielleicht eine Reaktion auf individuelle Faktoren sein oder sie waren auf das fast singuläre, zivilisatorische Trauma zurückzuführen; hingen wenigstens irgendwie mit all dem zusammen. Aller technischen Kontrolle und Präzision zum Trotz, blieb also ein kleiner und entscheidender Rest Kontingenz in den Gleichungen erhalten, der aus den Tiefen der Person und von den Rändern deren Lebenswelt her die Existenz bereicherten und damit für Überraschungen aller Art gut blieben. Der metaphysische Albtraum, den frühere Generationen poetisch als Laplaceschen Dämon umschrieben oder nüchterner als Determinismus rationalisiert hatten, war für kleine und mittlere Systeme durchaus zu einer realen und technischen, also physischen Möglichkeit geworden. Der Preis für diesen Grad maximaler technologischer Beherrschung des Bewusstseins fiel zum Glück jedoch derart hoch aus, dass nur Wenige in zu zahlen bereit waren und es für den Rest noch immer genügend rationale wie ideale Gründe gab, ihn nicht zu zahlen, um damit sich selbst und ihrer menschlichen Natur treu zu bleiben.

#9/12 – Das neunte Fragment der blutigen Frühgeburt

Früh am Morgen, verschlafen und wortkarg überreiche ich Euch den nächsten Teil der Geschichte um Xaver und die van Beegers.

Beste Wünsche für den gerade heraufgedämmerten Tag, Euer Satorius


Kapitel 1 – Die Heimkehr des verspannten Fast-Magisters

Teil 9 von 12: Seiten 25 bis 28.

Die Meinungslage im Gedankenkonzil im Vorfeld dieser Entscheidung war uneins gewesen, deshalb war dementsprechend hochkontrovers diskutiert worden. Letztlich hatte sich natürlich klar die Position von Xaver durchgesetzt und ehrlicher Weise hatte er das komplexe Streitgespräch zwischen Xaya, Matrina, Nietzsche und Sokrates manchmal nicht so recht verstanden. Er zweifelte wenig an seiner pragmatische Haltung und war anfänglich nur neugierig auf den Disput gewesen. Im wirklichen Leben hätte er wohl zusammen mit Googol und Hoffmann unbeteiligt dabeigestanden und hätte sich durch seine eigene Initiative selbst zum schweigenden Zuhörer degradiert; ab und zu wohlwollend genickt, dabei interessiert und wissend dreinschauend. Hier aber war er Gott; er klinkte sich also einfach aus und begann seinen pragmatischen Plan endlich in die Tat umzusetzen. Diesem zufolge war der Junge nun abermals mit einer Medizin zu versorgen und sollte durch diese, ohne sein Wissen selbstverständlich, erst ruhiger, dann friedlich und schließlich richtiggehend lammfromm werden. An diesem Punkt angelangt, konnte er über den nächsten Schritt nachdenken. Sofern die Dauer eines Verhörs in einem Verhältnis mit der Schwere des Verdachts oder gar Delikts stand, sah es langsam schlecht für Familie van Beeger aus. Denn mittlerweile waren Herr und Frau van Beeger, nach deren Vornamen hatte Xaver bisher versäumt zu fragen, volle 30 Neu-Minuten in ihr unfreiwilliges Gespräch verwickelt – das waren sie doch noch?

 

„Sie halten das Alles also noch immer für ein riesiges Missverständnis; dann haben sie doch sicher keine Einwände dagegen, noch kurz mit auf die Wache zu kommen, um die Vorwürfe restlos zu zerstreuen?“, drohte der besonnene der beiden Wächter eine nächste Konsequenz an, da er wohl mit dem Verlauf des Gesprächs bis zu diesem Punkt nicht ganz zufrieden gewesen war.

 

„Dreckige Revoluzerbande, ihr gehört sicher zu Demos! Tut nicht so intellektuell, ihr sitzt nämlich zu Recht derb in der Scheiße. Ihr beiden meint wohl, nur weil ihr ein bisschen gebildeter seid als die Meisten und euch geschwollen ausdrücken könnt, wärt ihr was Besseres als Unsereins. Dabei sind nicht wir es, die dem Allgemeinwohl schaden; wir bewahren es sogar – stellt euch das mal vor! Und den ganzen Scheiß hier, nur für so ein paar bescheuerte, total verstiegene Ideale von Vorgestern?“, polterte der kleiner und stämmiger geratene, entschieden weniger besonnene Wächter unwirsch auf die Beiden los – wohl nicht zum ersten Mal. So wie er die Rolle des bösen Wächters ausfüllte, war der Genuss echt, den ihm das Schikanieren der beiden jungen Erwachsensen sichtlich bereitete.

 

Seine Opfer waren soweit man das sagen konnte athletisch gebaut, wirkten jung und gesund und in ihrem exzentrischen Auftreten durchaus attraktiv. Die Beiden waren Xaver bereits in der planetaren Fähre aufgefallen und dabei gleich sympathisch gewesen. Bis auf wenige, routinierte Gesten und Phrasen während Ein- und Ausstieg, waren sie einander nicht wirklich begegnet; dennoch waren das Paar zusammen mit ihrem quirligen Spross die einzigen Menschen an Bord der Fähre gewesen, denen Xaver mehr als nur gutmütige Ignoranz geschenkt hatte. Frau van Beeger war mit ihren exakt vermessenen 1,70m in einen olivenfarbenen, militärisch wirkenden Parker gekleidet, unter dem recht provokant ein pinke Skintex-Strumpfhose ihren Ausgang über die reizvollen Beine nahm, bis sie in neontürkiese Highheels mündete; das seidenglatte, wasserstoffhelle Haar mit den aufgetupften Farbakzenten in Pink, Türkis und Olive trug sie zu drei losen Zöpfen gebunden, dabei halb unter einer ziemlich gewagten, türkisen Fellmütze verborgen. Sie wirkte im Angesicht der hör- und spürbaren Brisanz ihrer Lage enorm selbstsicher und noch immer recht gefasst. Ihr fein geschnittenes Gesicht mit den hohen Wangenknochen, der kleinen spitzen Nase und den großen grünen Mandelaugen eingebettet in ein Antlitz hellen, fast blassen Teints hatte Etwas bezauberndes an sich, wurde scheinbar von innen beleuchtet und dabei kaum durch düstere Emotionen getrübt. Ihr mindestens einen Kopf größerer Partner war in so gut wie jeder Hinsicht eintöniger, aber eben nicht weniger eigenwillig gekleidet; wie er im Moment, fast Schutz suchend, halb schräg hinter ihr stand, in seinen kniehohen schwarzen Militärstiefeln; der derben, weißen Jeans, gefolgt von einem pechschwarzen Kapuzenpulli, auf dem ein seltsam stilisiertes „A“ in weißem Kontrast prangte, dessen Bedeutung Xaver Googol bereits recherchieren ließ. Über seinem unauffälligen, schwarzen Haar trug er einen um so auffälligeren Zylinder, in klassischem Schwarz gehalten mit dem passenden weißen Band, auf dem etwas Unleserliches geschrieben stand. Abgerundet wurde sein Farbthema konsequent von weißen Handschuhen und einer in Weiß verspiegelten Sonnenbrille. Er war keineswegs von Angst gezeichnet, wirkte im Gegensatz zu seiner Gefährtin aber weit weniger zufrieden mit Stand und Lage der Dinge. Intuitiv betrachtet zeigte er damit sogar die plausiblere Reaktion auf die ungewöhnliche Situation. Der Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation bezichtigt zu werden, war nicht eben eine Bagatelle.

 

Die zwei ungleich großen, beide jedoch auf ihre Art bulligen Wächter schienen Mauritius Eltern im Verhör ziemlich hart bearbeitet zu haben. So ertrugen sie wohl schon eine ganze Weile ein wechselnd kühles bis impulsives Kreuzverhör, während sich das Gespräch nun einem entscheidenden Wendepunkt zu nähern schien. Sollte er nun direkt, buchstäblich noch planlos und damit ungewohnt spontan eingreifen? Nein – er musste in aller Schnelle eine instantane Krisensitzung des Konzils einberufen, um ein erfolgversprechendes Szenario auf Basis der bekannten Informationen auszuarbeiten. Den Jungen hatte er zur allseitigen Sicherheit lieber doch nicht mitgenommen. Er war nun besänftigt genug, um guten Gewissens wieder alleine gelassen werden zu können; jedoch sicherlich nicht friedfertig genug um den Peinigern seiner geliebten Eltern ruhig und zurückhaltend gegenüberzutreten.

 

Der entscheidente Hinweis kam wie so häufig vom streitlustigen, aber sehr produktiven Gespann SokratesNietzsche und basierte auf der Annahme, dass die Persönlichkeit der beiden Wächter leicht beeindruckt werden konnten. Der entscheidende Trumpf in diesem Plan waren zwei zukünftige Gelegenheiten, deretwegen Xaver die notwendig gewordene Umsiedlung nach Zentraleuropa unternahm. Seine Hilfe durfte er nun keinesfalls mehr versagen, sonst würden die Armen auf der Wache womöglich weit schlimmeres Übel zu erdulden haben, als wie bisher nur angeschrien und kurzzeitig ihrer Freiheit beraubt zu werden. Eine hypothetische Spekulation von Googol, auf Basis statistischer Auswertungen breit angelegter Netzrecherchen zu Sittlichkeit und Humanität in den Sicherheitsapparaten in Frankfurt Rhein/Main, deren weitere Details teilweise sehr unappetitlich gewesen waren, kaum zu dem ernüchternden Ergebnis: „Die teilprivatisierten Polizeidienste und teilweise autonomen Milizverbände, durch welche die öffentliche Ordnung hier und im Einflussbereich der großen Sieben so gut es geht aufrecht erhalten wird, sind im Grunde noch illegitimer und korrupter als es ihre Auftrageber schon sind. Ethische Normen und moralische Richtigkeit sind reine Glückssache, aber durchschnittlich sehr schwach ausgeprägt.“ Keine gute Prognose also leider für die Eltern des jungen Mauritius; deswegen wurde der sofortige Beistand nun tatsächlich zur moralischen Pflicht. Da ließ der ethische Rigorist Xaver Satorius nicht mit sich reden, jedoch bedurfte es zur Umsetzung dieser klaren Leitlinien der Hilfe und Unterstützung einiger Module.

 

„Moment mal bitte! Darf ich mich kurz einmischen? – Vielleicht kann ich einige Unklarheiten beseitigen“, griff Xaver eventuell gerade noch rechtzeitig verbal in die Situation ein, bevor der aktuelle Aggressionsausbruch des impulsiven Schlägertypen sich vielleicht hätte weiterentwickeln können. Im Verlauf der anfänglich mitgehörten Hasstriade hatte der sich mittlerweile nämlich derart in Rage geredet, dass er jederzeit die Kontrolle restlos zu verlieren drohte. Sein Kollege wirkte trotz aller ihm eigenen Sachlichkeit und entgegen der Dominanz, die ihm sein höherer Rang einräumte, überfordert mit der rohen Emotion seines Partners und hätte wohl irgendwann bequem weggeschaut und so den Konflikt gelöst. So sah man ihm die Erleichterung an, als er die angebotene Einmischung dankend zum Anlass nahm. Von neuem Mut beseelt, stand er Xaver unverhofft und blitzschnell zur Seite: „Halt Kirchner! Lass die Kleinen bitte noch eine Weile in Ruhe – vor allem nicht hier, in aller Öffentlichkeit. Mann!“ gebot er und fragte an Xaver gewandt, „Wer sind sie denn? Sie haben hoffentlich Hilfreiches zum Sachverhalt beizutragen?“

 

„Macht doch alle mal halblang – boah, was’n Dreck! Diese Gören haben sich ihre Tracht Prügel redlich verdient. Die ganze verdammte Menschheit ist am Abkratzen und die haben nichts Besseres zu tun, als in ihrer vielen Freizeit Rebellion zu spielen. Seid froh, dass ihr hier so viele Schutzengel habt und wir nicht alleine unter sechs Augen sind. Wer kommt denn da zur Hilfe: Magister, Mönch oder Möchtegerndiplomat? Was willst du dich denn hier einmischen Alter; jeden Tag eine gute Tat, oder was?“, wurde nun auch Xaver standesgemäß aber erwartbar begrüßt. Wer lässt sich schon freudig die Befriedigung archaischer Triebregungen versagen? Sicher kein Barbar mit Dienstbefugnissen; mögen diese auch noch so gering ausfallen.

#7/12 – Das siebte Fragment der mutigen Erstveröffentlichung (Die Zweite)

Seltsames passiert: Dieser Beitrag war zum chronologisch richtigen Zeitpunkt, vor #8/12 veröffentlicht worden und ist nunmehr verschwunden gewesen. Also liefere ich schnell den Ersatz; denn falls jemand lesen sollte, wird damit ein arges Ärgernis behoben.

Viel Spaß, Euer Satorius


 

Die Heimkehr des verspannten Fast-Magisters

Teil 7 von 12: Seiten 18 bis 21.

„Der praktische Unterschied zwischen technologisch verbesserten Übermenschen wie uns und den zurückgebliebenen reinen Organikern, also den meisten anderen, ist im Alltag dermaßen groß, dass deren erbärmlicher Zustand fast als Fanal eines mit aller Überzeugung gelebten Idealismus der Reinheit durchgehen könnte. Aber das nehm ich ihnen einfach nicht ab, diesen Schwächlingen“, kommentierte Nietzsche gewohnt bissig und übertrieben geschliffen und langatmig, was ihm direkt die gewöhnliche Rüge von Sokrates einbrachte: „Denk doch erst mal – nur beispielsweise! – über die Frage nach, was mit Xavers Mensch-Sein, beeinflusst durch die Technik, in den letzten Jahrzehnten so alles passiert ist; gerade sogar weiterhin passiert, just während wir mit ihm zusammen denken und vor uns hin existieren. Oder frage dich besser gleich auch noch, ob die meisten anderen überhaupt die Wahl haben, sich technologisch zu verändern oder nicht – und ich sage bewusst verändern und spreche nicht vorschnell von Weiterentwicklung oder unreflektiert von Verbesserung. Geborgte Macht ist es vor allem, die unseren Anfragen Gewicht verleiht. Nur ein paar Fragen, Spekulationen und eine Perspektive – schnell aus dem diskursiven Stegreif. Bereits mit deren oberflächlicher Auseinandersetzung könnte dein krudes Weltbild gründlich erschüttert werden!“ Wie stets mischten sich die anderen Module selten in die intellektuell anspruchsvollen, aber gleichzeitig ziemlich provokativ geführten Kontroversen der beiden ältesten Mitglieder des Gedankenkonzils ein. Nietzsche beließ es in diesem Fall überraschend kleinlaut bei der anfänglichen Spitze und reagierte nicht auf die starke Eröffnung seines Kontrahenten. Er wusste wohl wann Schweigen Macht war, nämlich wenn er so verdammt schlechte Karten in einem Disput hatte, wie hier mit der unbedachten Polemik, die ihrem tatsächlichen historischen Vorläufer alle Ehre gemacht hatte. Ein paar dieser reinen Organiker fielen derzeit unangenehm auf. Die zuvor noch so beschauliche Familie fiel nun sogar ihm auf und damit den meisten anderen Passanten und Passagieren sicher schon lange zur Last. Den Kontext würde er sich mithilfe der Umweltprotokolle schnell rekonstruieren lassen müssen und was sich über den Hintergründe noch herausfinden ließ war der notwendige nächste Schritt.

 

Nach einem Bruchteil eines Augenblicks hatte er mit Hilfe von Googol und unter kurzen Kommentaren von Sokrates und Nietzsche den Verlauf der Ereignisse nachvollzogen und steckte nun mitten in den Auswertungen und vor allem bereits in spekulativen Projektionen. Der während der Passage so verzückte und verzückende Spross war seit der unruhigen Landung außer sich geraten, sodass die sorgenden Eltern sich letztlich nach einem längeren, anfangs verdeckt geführten, zuletzt in aller Öffentlichkeit lautstark beendeten Grundsatzstreit doch dazu durchgerungen hatten, die pharmazeutische Hilfe einer der vielen, in diesen melancholischen Tagen gängig gewordenen, vollautomatischen Medizinalstationen in Anspruch nehmen zu wollen. Allerdings hatte an dieser Stelle der Ereigniskette das Schalmassel begonnen. Vielleicht war mit dem Aufenthalts- oder Sicherheitsstatus der beiden Erwachsenen etwas nicht in Ordnung oder deren Bonität bereitete unerwartete Unannehmlichkeiten; eventuell nur ein unglücklicher Zufallsvektor. Was genau los war, das war bisher nicht plausibel zu bestimmen gewesen und sprach damit allen Analysen und Beratungen Hohn. Die Faktenlage bis zum Eintreffen der zwei momentanen Gesprächspartner der Eltern war glassklar, ohne Hintergründe über den persönlichen Status waren all die die Prognosen und Szenarien des Gedankenkonzils praktisch wertlos. Zwar deutete man die Lage einhellig im Sinne subtile sichtbarer Tendenzen hin zu einer möglichen, langsamen Eskalation der Lage, aber das waren müßige, stochastische Spekulationen.

 

Was auch immer wirklich zur aktuellen Lage der beiden geführt hatte, war also im Grunde völlig unklar; was immer sich ereignen würde bahnte sich jedoch gerade vor Xavers sehenden Augen an. Das Vorhaben des Vaters, die ideologisch scheinbar verteufelte Medizinaltechnik zur Beruhigung seines Sohns in Anspruch zu nehmen, war folgenreich gescheitert. Nach der rückwirkenden Verhaltensanalyse war ein Verhaltensprimat, möglichst wenig Aufmerksamkeit auf sich zu wissen und unbehelligt voranzukommen. Letztlich war dieser Vorsatz kapital schiefgegangen; denn die Vorfälle hatten sie zu allem Überfluss nicht nur in den Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit gebracht. Andere Mächte waren erwacht, sodass die Eltern nur restlos ihrer auffälligen Unauffälligkeit beraubt worden waren. Sie waren seit kurzem in Konfrontation mit den hiesigen Ordnungsmächten geraten und sprachen mit zwei unbehaglich aussehenden Schergen, vermutlich Mitarbeiter der Karlus-Korporation. Da sich die anschließende Diskussion gerade zu entwickeln begann, waren die Nöte des Kleinen auf einmal zweitrangig geworden.

 

So verblieb der Filius ebenso alleine in seinem bedauerlichen Zustand, wie er seine Umwelt umgekehrt lautstark hören und zur Belustigung der wenigen, verstohlen schauenden Schaulustigen auch spüren ließ. Für die vielleicht ernsten Gründe seiner Eltern hatte das verstörte Kind in seiner definitiv ernsten Hilflosigkeit kaum etwas übrig. Außerdem schien derzeit Niemand couragiert genug zu helfen – kein Wunder bei der systemweit herrschenden politischen Neuorientierungsphase. Zivilcourage hatte es ohne Zivilgesellschaft besonders schwer. Nicht nur hier vor Ort in Zentraleuropa war die politische Atmosphäre frostiger geworden. „Du hast sicher Recht mit deiner Überlegung, dass brutale Zeiten brutale Zustände auf den Plan rufen, aber einzig und allein Gutes zu tun kann daran etwas ändern eventuell mit Glück sogar verbessern“, ermunterte ihn ein gemeinsamer Ratschlag von Xaya und Matrina. Diese beiden Module waren sogar zusammen nicht einmal annähernd so lange bei oder besser mit Xaver, wie Sokrates oder Nietzsche jeweils für sich alleine es gewesen waren, genossen aber hier und jetzt aufgrund der ihnen eigenen Kompetenz- und Zuständigkeitsbereiche eine höhere Priorität in den Beratungen des Konzils. Zumal sie für die Zukunft von so entscheidender Bedeutung waren, dass ihnen effizientere Einflussnahmen möglich waren – ein Privileg, das Xaver ohne Weiteres annullieren konnte, aber aus guten, weil gesunden Gründen nicht für ratsam hielt.  

 

Den Verlauf der Ereignisse bis hier hin hatte er sich also fluchs aus den Protokolldaten seines Umweltsensoriums, einmal auf alles aufmerksam geworden, rekonstruieren können und nun waren Entscheidungen zu fällen. Von der Situation ergriffen und angetrieben von den Impulsen der nur zufällig einzigen beiden weiblichen Modulen aus der Lähmung durch seinen hyperrealen Äther aufgeschreckt, wurde er sich der unerwarteten Wendung und des damit drohenden Finales der anfangs noch so tröstlichen Familiengeschichte gewahr – förmlich von der Komödie zur Tragödie – und konnte nicht anders, als sich entgegen seiner kompletten Gewohnheit und gegen jede Erwartung stärker zu interessieren. Sollte er sich nun wirklich einmischen, vielleicht wenigstens dem Kind zur Hilfe kommen, wenn schon nicht den Eltern zur Seite zu stehen. Wer aktiv leben wollte, musste handeln – und nun hatte er mutig einen weiteren Schritt in dieses aktive Leben zu gehen.

 

Nur wie – und ob wirklich in letzter Konsequenz –, das musste nun zunächst entschieden und dann noch theoretisch ersonnen werden, um überhaupt je praktisch bewerkstelligt werden zu können. Es galt einiges aus verschiedenen Bereichen gegeneinander abzuwägen. Die beiden stämmigen Kerle zu aller erst, die sahen reichlich ungemütlich aus, in ihren robusten, in mattem Blauschwarz schimmernden Körperpanzern, mit all den Indizien latenter Aggression und steter Gewaltbereitschaft. Problematisch war die professionelle Befugnis Beidem nach eigenem Ermessen Ausdruck verleihen zu können und zu dürfen. Besorgnis erregten in dieser Richtung besonders die ersten zögerlichen Anzeichen kaum gebändigter Impulsivität, die bei dem kleineren der beiden Ordnungshüter just aufkeimten; auch wenn sein größerer Kumpane so wirkte, als brächte er das nötige Übermaß an Ruhe und Besonnenheit mit, um hier mit seiner Präsenz einen Ausgleich zu schaffen.

 

Aus historischer Erfahrung wusste Xaver, dass das Verhalten von Menschen, die am unteren, ausführenden Ende ungerechter und ungerechtfertigter Hierarchien ihren Platz gefunden hatten, unberechenbar sein konnte und einer fatalen, charakterlich-enthemmenden Dynamik unterworfen war. Das unwürdige Nebeneinander von demütig-feigem Desinteresse einerseits und gehorsamer bis geheuchelter Empörung andererseits, das eine kurze Sondierung der sozialen Dynamik ergab, rief in ihm Erinnerungen an Ausflüge in Erfahrungs- und Wissensnetze wach. Leider waren es Inhalte aus dunkelsten Kapiteln der Menschheitsgeschichte gewesen. Sah man gutmütig von der historisch zufälligen Fortschrittlichkeit der Oberflächen ab, hatte man ein immer gleiches, stereotypes Szenenbild einer im Kern faschistoiden und inhumanen Zwangsgesellschaft und ihrer typischen Rollenmuster vor sich. Menschen übernahmen dabei nach Zahl und Temperament die ihnen gemäße Rolle im System: Opfer, Täter, MitläuferHeld oder Märtyrer? Worum es hier ging war Verantwortung, nicht bloß eine Frage der Konformität also, sondern eine von ehernen Prinzipien höchsten Rangs – in Fragen von Ethik und Moral brauchte Xaver keine Beratung; von Niemandem. Die wohl fundierten Überzeugungen jedoch zum unbedingten Gesetz des Willens zu machen, hätte zu viel des Guten für den Anfang bedeutet. „Glücklicherweise muss jede Moral gewordene ethische Überzeugung, ein ihr entsprechendes Können vorfinden, um zur moralischen Pflicht zu werden. Klassisch gesprochen: Sollen impliziert Können“, gab Matrina die Eröffnung. „Die Kerle können und dürfen weit mehr als wir, also leg dich bloß nicht dummdreist, außerdem schlecht aufgewärmt direkt mit den Platzhirschen an!“, führte Xaya den Gedanken wie zufällig und auf ihre eigene, schnoddrige Art zu einem Ende.

 

Ein Heiternis gegen die öffentliche Moral

Heute biete ich zur Abwechslung einen Text anderer Qualität; mal wieder in einer anderen Rubrik erscheinend. Der Ausschnitt stammt aus meinem persönlichen Lieblingsbuch – ja, ich getraue mich diesen Superlativ zu gebrauchen. Denn diese Trilogie mit dem klangvollen Obertitel Illuminatus! hat meinen Lebensweg entscheidend geprägt. Nur soviel sei gesagt an dieser Stelle, zu dieser Zeit.

Gespenstisch und sympathisch zugleich, wie häufig der Terrorist auch mit diesem neuerlichen Text-Fast-Food wieder meinen Geschmack getroffen hat. Es war ruhig geworden in der Anschlagsserie gegen die „Stabilität der öffentlichen Moral“ (Wächterrat von Quanzland – Zensor Silvan Teebau, Monatliches Schwarzbuch subversiver Tendenzen – Januar 2015: S. 1;S. 3; S. 6; Passim und ff.); doch jetzt fand ich auf meinen Wegen wieder einmal ein neues Exemplar – dieses mal aus der Gruppe der ausgewiesen kurzweiligen Heiternisse.

Der hochverehrte Autor hatte bereits einen Auftritt mit einer anderen Trilogie, weswegen ich Euch und mir erneute Huldigungen und Lobpreisung erspare. Dieses Meisterwerk – soviel sei mir erlaubt – entstammt einer Kooperation von Robert Anton Wilson und Robert Shea. Seine drei Bände warten mit den Untertiteln Das Auge in der Pyramide, Der goldene Apfel und Leviathan auf. Sehr skurrile Episoden mit noch skurrileren Charakteren parodieren die Weltgeschichte und spinnen nebenbei wilde Fiktionen, die ihrerseits untergründig miteinander verschränkt sind. Ein wenig Liebe zu einer teilweise manierierten Diktion, ziemlich derbem Humor und satirisch-schonungsloser Offenheit vorausgesetzt, steht dem heiteren Leseereignis nichts im Wege. Nun aber genug angedeutet und kurz an-rezensiert, hier der kürzlich gefundene Texthappen.

Gute Nacht und liebe Grüße, Euer Satorius


Er liebte es, stundenlang damit zuzubringen, über das wilde, mit Kakteen bestandene Ödland zu starren, obgleich er nicht wusste, warum. Hätte man ihm erzählt, dass er der Menschheit symbolisch den Rücken zukehrte, würde er es nicht verstehen, noch würde er sich beleidigt fühlen; die Bemerkung wäre für ihn vollkommen irrelevant. Hätte man hinzugefügt, er sei selbst eine Kreatur der Wüste, wie etwa das Gilamonster oder die Klapperschlange, würde es ihn höchstens langweilen, und er würde einen als Narren bezeichnen. Für Carmel waren die meisten Menschen auf der Welt Narren, die ständig bedeutungslose Fragen stellten und sich bei Nebensächlichkeiten aufhielten; nur ein paar wenige, und er war einer von ihnen, hatten entdeckt, was wirklich wichtig war – Geld – und dem jagte er unbeirrt und skrupellos nach. 

Robert Anton Wilson (1932 – 2007) & Robert Shea (1933 – 1994), Illuminatus! – Das Auge in der Pyramide (Band 1): S. 23 (Der erste Trip, oder Kether; 1977)

#8/12 – Das achte Fragment der blutigen Erstveröffentlichung

Ein digitales Lebenszeichen: Piep .. Piep .. Piep – wo zuvor nur ein langgezogenes Piiieeeppp zu hören war. Das schöne an einem freien Blog ist; wenn man keine Zeit und kein Bock auf den Blog hat, dann lässt man es eben einfach. Ihr, wenn es Euch denn bereit gibt oder irgendwann geben werdet, verzeiht es mir sicher gerne. Wer ist dieser Tage nicht selbst beschäftigt und findet daher zu wenig Zeit für zu viele Vorhaben?

Mit dem Auftritt von Mauritius van Beeger schließt sich der erste Passant auf Xavers Handlungsreise ins Ungewisse an. Dabei wächst der Fast-Magister über sich hinaus. Weiter geht es also – langsam aber stetig dem Ende der kurzweiligen Erzählung entgegen: Viel Vergnügen mit Teil 8!

Ein wirklich aus seiner tatsächlichen Heimat heimgekehrter Satorius wünscht eine gute Woche!


Die Heimkehr des verspannten Fast-Magisters

Teil 8 von 12: Seiten 21 bis 25.

Wenn er in wenigen Wochen tatsächlich bereits mit der Instruktion und Formung von jungem Bewusstsein sein Auskommen verdienen wollte, dann sollte ihn diese Situation keinesfalls überfordern. War dem Kind erst einmal geholfen, konnte er womöglich im Anschluss sogar doch noch den Eltern beistehen, je nach dem, wie ernst deren Lage dann sein würde. Der Test seiner Überzeugungen kam oder kam eben nicht; unweigerlich und notwendig. Nach seinem Wissensstand ging die örtliche Exekutive schon nicht gerade unter den Prinzipien der Humanität mit ihren widerspenstigen Bürgern um; da wollte er sich gar nicht erst ausmalen, was Fremden Drakonisches drohte. Hoffentlich waren die Gründe für die Verwicklung trivialer Natur und die polizeiliche Willkür würde schlimmstenfalls entwürdigend ausfallen. Dessen Vermeidung konnte aber nötigenfalls ein Fernziel sein, Nahziel musste und sollte ein anderes sein: Die Entscheidung war gefallen, nun galt es diese in die Praxis umzusetzen.

 

Hier auf dem Planeten seiner Geburt, am zweiten Etappenziel seiner noch gut zwei Neu-Wochen dauernden Reise in seine nahende, berufliche wie private Zukunft, wagte er den Sprung. Unter strenger Begleitung durch Matrina versuchte er sich zu Erheiterung des Kleinen an etwas radikal Neuem – Kompromisslosem. Die Eltern führten währenddessen ihr unangenehm investigatives Gespräch einige Meter entfernt, in einem abgeschirmten Konsularbereich und waren dadurch von ihrem Sohn abgeschnitten worden. Wohl eine perfide bis schikanöse Demonstration von Macht, wo doch offensichtlich war, dass dem Kind Zuwendung, Trost und vielleicht sogar Medizin fehlten. All das zu geben, war Privileg und zugleich erstes Bedürfnis sorgender Eltern, wurde diesen hier aber verwehrt. Das noch immer schreiende Kind war damit wohl eher Auslöser, denn Gegenstand der Debatte gewesen.

 

Während Xaver entschiedenen Schrittes und optimal vorbereitet auf den unruhig umherlaufenden Jungen zuging, schickte er sich gerade an, seine bestmögliche Umsetzung einer gewagten Interventionstaktik zu inszenieren: Erschrecken und Verblüffen! Eindrucksvoll war für die dutzenden Zuschauer sicher der absurde Kontrast eines zunächst bieder daherschlurfenden Magisters in der puristischen Ordenstracht, der sich abrupt, ohne jede Ankündigung und in sekundenschnellem Übergang farbensprühend in einen clownesken Paradiesvogel verwandelte. Farblich gingen nüchternes Grauweis und tristes Alltagsgrau über in die schrillsten nur vorstellbaren Tönungen und Kombinationen aller Regenbogenfarben. Klanglich wurde diese gutmütige Attacke untermalt von einer, nur eng gebündelt in Richtung des Kindes wahrnehmbaren, akustischen Bühne: Auf einen quäkenden Alarmton folgte ein Tusch und daraufhin amüsante Zirkus-Musik, die einem ohne das man sie eigentlich so recht mochte, trotzdem einfach ein Lächeln aufs Gesicht gezaubert hätte. Olfaktorisch und haptisch wurde dem Jungen eine konfuse Abfolge von angenehmen Gerüchen und wohligen Gefühlen bereitet, soweit das telemanipulativ eben möglich war. Leider konnte er den Geschmackssinn nicht ansprechen – noch nicht, wenn das dann überhaupt noch nötig sein sollte. Er hatte einen kurzen Sketch mit Elementen aus Pantomime und Slapstick in den Netzen gefunden, den er dank Xayas kinetisch-mimischer Kompetenzen schon perfekt beherrschte. Als Lohn für seinen couragierten Einsatz erntete er auch prompt einiges an verkniffenem Lachen und sogar etwas ersticktes Prusten von den vorbeieilenden Passanten; zu klatschen traute sich aber keiner und glücklicherweise nahm niemand Anstoß an der ungewöhnlichen Aktion. Ansonsten sorgte der Einsatz, der fabelhaften Technologie sei Dank, für erstaunlich wenig Aufsehen und vor allem für den gewollten Effekt. Der Junge hielt sofort erschrocken inne und schaute erst einmal nur verdutzt drein. Seine Aufmerksamkeit war nun absolut bei Xaver, vergessen aller Verdruss von zuvor; absorbiert von der Magie des Augenblicks, stand er einfach nur ungerührt da. Während er der Darbietung mit fast allen Sinnen folgen konnte, hob sich seine Stimmung sichtlich und gegen Ende der kleinen Show lachte er sogar herzlich und strahlte fast wieder so, wie noch vor der Landung in seinem Spiel und bei seinen Eltern.

 

„Es freut mich wirklich, dass meine kleine Einlage dich erheitern konnte“, wandte sich Xaver, nach seiner letzten Drehung noch außer Atem und leicht schnaubend, an sein Publikum – den nun wieder fröhlichen und neugierig zu ihm aufschauenden Jungen.

 

„Das war einfach spitze! Wie hast du das gemacht – bist du ein Zauberer?“, war die kindlich direkte Antwort mit der unweigerlichen Anschlussfrage.

 

„Danke und sehr gerne geschehen. Mein Name ist Xaver Satorius und nein – ich bin kein Zauberer, aber so etwas Ähnliches vielleicht schon“, stellte er sich kurz vor und erklärte dann: „Das eben waren bloß ein paar teuere, technische Spielereien. Ein Wunder, dass die noch nicht eingerostet waren.“ Ohne diese Spielereien hätte er nicht einmal mit dem Kleinen reden können. Denn dieser sprach sicherlich kein Neo-Latein, was aber auch nicht nötig war. Er besaß mit Googol nämlich einen sehr potenten Simultanübersetzer und seit der Auswertung der sensorischen Protokolle wusste er mit hoher Wahrscheinlichkeit, dass die Familie sich in Deutsch unterhalten hatte.

 

„Hallo. Ich bin der Mauritius van Beeger und eigentlich darf ich gar nicht mit dir sprechen. Soll nämlich nicht mit Unbekannten sprechen. Du warst aber so lustig und lieb, da mache ich eine klitzekleine Ausnahme. Aber bloß nichts der Mama sagen – pssst!“

 

„Wir sind doch schon zusammen in der Fähre gewesen. Also sind wir sogar nicht einmal wirklich Unbekannte. Ich saß nur ein paar Reihen hinter euch, aber in meiner Ordensrobe bin ich weit weniger auffällig, als jetzt gerade.“ Daran erinnert, wie exzentrisch bunt er noch immer dastand, deaktivierte er das Körperfeld. Sofort erlangte er seine alte Erscheinung zurück – mal abgesehen von den psychedelischen Verzerrungen, die den Übergang notwendig begleiteten. Nun unterhielt sich ein unscheinbarer, erst auf den zweiten, genauen Blick hin eindrucksvoller Mann mit schwarzen, schulterlang und glatt herunterhängenden Haaren, deren Grauanteile unverkennbar waren, mit einem Halbwüchsigen, der blass und pausbäckig dastand, mit seinem rot-blonden Lockenkopf. Dort standen ein 1,90m Riese und ein 1,20m Zwerg beisammen und sprachen trotzdem auf Augenhöhe. Unterdessen wurde der Riese innerlich von seinen Elfen Xaya und Matrina und den Kobolden Sokrates und Hoffmann mehr oder weniger frenetisch bejubelt und zu seinem Erfolg beglückwünscht.

 

Der Junge überlegte erst angestrengt, kam aber dann rasch zu dem Ergebnis: „Ich kann mich wirklich nicht an dich erinnern Herr Satorius. Aber ist ja nicht schlimm – die Ausnahme!“ Er zwinkerte Xaver kess zu und begann sich fragend umzusehen.

 

„Du fragst dich sicher, wo deine Eltern sind, oder?“, nahm Xaver erstaunlich feinfühlig den situativen Faden auf.

 

„Oh ja, da kamen vorhin so zwei dumme Kerle und haben sich aufgespielt. Dann haben sie Mama und Papa einfach mitgenommen und zu mir gesagt, ich soll hier warten und ruhig sein. Doof waren die! Besonders der Kleine war richtig fies!“, schloss er und schnitt eine unflätige Grimasse.

 

„Geht es dir denn gesundheitlich soweit wieder gut genug, um deine Eltern suchen gehen zu können oder soll ich dir erst etwas Medizin machen – ihr wolltet doch gerade Medizin holen als ihr vorhin unterbrochen wurdet?“, erkundigte er sich daraufhin neugierig und zugleich sorgenvoll bei Mauritius. Er hatte den Jungen auf Anhieb gemocht und war bis hierhin selbst von seiner Extraversion und dem ziemlich erfolgreichen Einstand überrascht – technische Unterstützung hin oder her, er war gut.

 

„Jetzt, wo ich mich wieder beruhigt habe – mir ist schon noch ein bisschen komisch im Bauch und Kopf-Aua hab ich auch noch ganzschön dolle. Aber gar nicht so schlimm, wie ich vorhin noch gedacht habe. Blöde Fähre, blöde Landung!“

 

„Warte kurz und vertraue mir. Ich habe immer eine Art Medizinschrank – oder besser noch eine Art Apotheker bei mir und da hol ich dir jetzt schnell deine Medizin her“, bot Xaver freimütig an und erteilte zeitgleich Hoffmann den Auftrag, ein nebenwirkungsfreies Universalpräparat gegen leichte Übelkeit und Kopfschmerzen mit saurem Zitrone-Ingwer-Aroma herzustellen.

 

„Das wäre toll. So was kannst du auch noch? Sei ehrlich – du bist doch ein Magier oder sogar eine Art Superheld“, erstaunte sich der Junge als Xaver unter seinem Gewandt ein daumengroßes, intensiv gelbes Bonbon hervorholte und ihm auffordernd hinhielt. „Her damit – mhh, lecker!“, schmatzte der Kleine munter vor sich hin und genoss seine leckere Medizin sichtlich.

 

Dass diese Medizin ein hochwirksames Erzeugnis erlesenster Hochtechnologie war, zeigte sich bereits wenig Momente später. Zu Mauritius wiedergewonnener Heiterkeit gesellte sich nun eine körperliche Spontangenesung, was bei Kindern diesen Alters und von vergleichbarem Temperament leicht zu Überschwang frühen konnte und zu Xavers Leidwesen in den folgenden 10 Neu-Minuten auch führte. Anfangs wurde er nur etwas lauter und wortreicher, dann zunehmend unruhig und schließlich hibbelig, frech und vorlaut. Mit der Begründung, eine zweite Medizin wäre trotz allem doch noch von Nöten, sollte dieser unschöne Verlauf nun jedoch subtil gedämpft werden. Er tat zwar insgesamt Gutes, aber diese Zwangsmaßnahme gegenüber dem Bewusstsein des Jungen hielten einer ethischen Prüfung kaum stand; selbst konsequent folge-ethisch bewertet, war sein Verhalten gegenüber Mauritius bestenfalls eine Gratwanderung und das finale Urteil hing noch von der Zukunft und schlechterdings dabei von Glück ab. Er zögerte den anstehenden Gang zu den Eltern nicht nur deshalb heraus, weil er sich vor ihm und seinen Gefahren scheute, sondern weil der Junge vor seinen Augen zu einem eklatanten Sicherheitsrisiko mutiert war. Hätte er den kleinen Raufbold nicht in Zaum gehalten, so wäre der wohl schnurstracks zu den beiden Ordnungshütern gegangen; dort hätte er sich dann theatralisch aufgebaut und seinem Unmut schonungslos Luft gemacht. Mit seinem quäkenden Stimmchen und in Worte, die seinem Alter alle Ehre gemacht hätten, wäre er für das Recht auf Eltern ungleich mutiger gewesen, als es Xaver sich gerade selbst zutraute. Wahrheit und Direktheit standen derzeit jedoch nicht überall hoch im Kurs. Ein, wie er nunmehr wusste, Fünfjähriger konnte den Ernst der Lage gründlich missverstehen. Besonders dann, wenn es ihm zu gut ging und er weiterhin derart sehnlich sein Eltern vermisste. So galt es abzuwägen, zwischen der Freiheit des Kindes und der Sicherheit aller Beteiligten inklusive eines leidenden Kindes.

#6/12 – Horcht auf: Der Frischling darf beschaut werden

Ernüchtert vom Karneval und frei nach dem Motto: „Viele Zeichen publizieren, wenige selbst fabrizieren“, geht es ohne allzu viele Umschweife weiter mit Teil 6. Der Blick wandert dabei weiter von innen nach außen; von der Vorstellung zur Welt; von der Vergangenheit in die Gegenwart – schließlich langsam von der Meditation zur Aktion. Es entsteht also, wenn auch nur zaghaft so etwas wie erste Bewegung und damit der Anfang einer Handlung.


Die Heimkehr des verspannten Fast-Magisters

Teil 6 von 12: Seiten 16 bis 18.

So auch hier in Frankfurt Rhein/Main einem der größten aktiven Raumknoten in Zentraleuropa, inmitten einer der größeren Lebenszonen, die es derzeit im alten Europa noch oder besser – bereits wieder gab. Der Blick nach Osten wurde vom erdrückenden Anblick der hiesigen Orbitalanbindung unweigerlich aufgehalten. Obwohl diese organisch-stählernen Ungetüme aus der Ferne betrachtet wie elegant geschwungene, lässig aus dem losen Spinnennetz der Orbitalstationen heruntergelassene Kabelstränge wirken, stellten sie aus der Nähe besehen das Gegenteil von Lässigkeit und Eleganz dar. Mehr als 120° des Panoramas, mehr als eine ganze Himmelsrichtung also, waren hier verschwunden, verdeckt durch einen Transportkanal mit einem Durchmesser von gut drei Kilometern. Seine düstere Bedrohlichkeit, verstärkt durch die vielen Anbauten, die aussahen wie Auswüchse, wurde aus der Nähe durch die vielen Lichter, die schimmernden Sphären und den Flugverkehr gemildert. Diese gigantischen und lebensspendenden Bauwerke beeinflussten sichtlich sogar das Wetter. Im Bereich des künstlichen Massivs bildeten sich lokale Abregnungszonen, sodass es im Kerngebiet Frankfurts fast ständig regnete. Technisch als zusätzliche Kühlung einkalkuliert, wurde dieses Phänomen dieser verlustreichen Tage zu einem noch gewichtigeren Faktor in der Geopolitik als jemals zuvor. Wasser konnte zwar natürlich noch immer künstlich erzeugt werden, aber nur zu Energiekosten, die seine Eigenenergie um ein Vielfaches überstiegen – ergo war Energie mehr als Geld und damit derzeit wertvollste Ressource. Für die Bewohner Frankfurts bedeutete dieser Umstand aller ökonomischen Vorteile zum Trotz ganz konkret, ziemlich miserables Wetter.

 

Aus der Ferne besehen hatte der Dauerregen eine atemberaubend schönen Nebeneffekt: Lokal derart stark begrenzt bilden sich in den Übergangszonen Myriaden vielgestaltiger Formationen von Regenbögen. Diese veränderten sich ständig, verblassten und tauchten überraschend wieder auf – tanzten beinahe einen spielerischen Reigen. Neben dem Regen war nämlich eine unruhige Thermik und entsprechende Winddynamik weitere meteorologische Nebeneffekte des tiefen Eingriffs in das chaotische System Wetter. Wollte so wundersam, wie wunderschön und zugleich symbolträchtig inszenierte Hoffnung für finstere Propagandazwecke instrumentalisieren, so hätte man diese Anblicke konservieren sollen. So oder so ähnliche Phänomene boten sich vermutlich weltweit im Anflug auf die Lebenszonen dar, welche sich wie viele andere um die intakt gebliebenen Transportkanäle herum gebildet hatten. Das angedeutete Schattenphänomen rundete das spektakuläre Panorama noch ab, indem es dem utopisch schönen Farbenspiel der Lichtseite die triste Unwetterdüsternis der Schattenseite entgegensetzte. Der Gesamteindruck wäre in einer ästhetischen Beurteilung bestenfalls als kitschig weggekommen, war aber in seiner Unwirklichkeit berauschend. In Gegenrichtung zur aufgehenden Sonne und wurden die westlich liegenden Bereiche der Metropolregion in künstliche Dunkelheit getaucht. In solchen Schattenbereichen, wie dem hier im Westen von Frankfurt, funkelten derzeit nur die sporadisch gestreuten Lichtfunken der Lebenszonen, dort wo früher einfach alles lebendig und fast immer hell gewesen war; alles ständig im Glanz der künstlichen Sonnen vor Leben pulsiert hatte. Heute hingegen lebten die unter den Überlebenden, welche Zivilisation und damit Sicherheit schätzten, in ausgewählten und abgegrenzten Bereichen innerhalb der Ruinen des einstigen planetaren Utopias. Global betrachtet lagen aber wenige der diversen Schutzzonen im Bereich eines der wandernden Schlagschatten, aber so nah am Zentrum einer Macht, wie hier in Frankfurt Rhein/Main, war man spendabler mit den raren Ressourcen.

 

Dies alles aber nahm Xaver nicht sehenden Auges wahr, sondern höchstens als ein Datum unter vielen in einer Reihe von, stark gefilterten, kategorisierten, insgesamt zugerichteten und verarbeiteten Informationen. Neben der Freude über die Schönheit, hätte er sicher einiges an Wissenswertem zur Geschichte dieser Region beigetragen, aus dem Fundus an Fakten, die er sich in seinen ausschweifenden Vorabrecherche angeeignet hatte. Zur düsteren Monotonie der globalen Vogelperspektive und der ambivalent-kitschigen Note der Fernsicht hätte sich letztlich unweigerlich doch wieder bittere Depressivität gemischt. Gespeist aus sich unvermeidlich aufdrängender, historischer Einsicht, beim schonungslosen Blick auf den aktuellen Zustand des nackt und geschunden daliegenden Planeten. Ein Vergleich zum Status von vor gerade einmal 10 Sonnen-Jahren ergäbe, dass dieser Planet in großen Teilen buchstäblich ausgestorben und ruiniert war. 150 Sonnen-Jahre Entwicklung und Fortschritt, in denen und durch die das Antlitz der Erde von einer radikalen Urbanisierung ebenso radikal umgestaltet – nein weitergestaltet worden war. Die Entwicklung von der Klein- zur Großstadt, weiter zur Metropole und schließlich zur Metropolregion ohne klare Grenzen zueinander, folgte einer schlichten, weil räumlichen Logik. Dass natürliche Zwischenräume, einem Reservat nicht unähnlich, hierbei ausgespart wurden, folgte einer ebenso schlichten ökologischen Überlebensstrategie. Die einst als Utopie ersten Ranges gehandelte globale Homöostase hatte sich tatsächlich wieder herbeiführen lassen und konnte sogar über Dekaden hin stabilisiert werden. Damit wurde ein Gleichgewichtszustand aller beteiligten Systeme ohne gleichzeitige Stasis derselben konserviert – hier konkret und grob die Balance zwischen technisierter Menschheit und konsumierter Umwelt. Dieser traumhaft scheinende, wohl aber in Wirklichkeit rigide gelenkte und aufwendig optimierte Zustand war abrupt implodiert. Mental endeten die Überlegungen wie notwendig wieder an dieser Zäsur im nachdrücklichsten Sinn dieses Substantivs – immer wieder beim solaren Kollaps.

 

Unterdessen gelang es auch der spektakulären, bunten Vielfalt und ausnehmenden Hektik der näheren Umgebung mit ihren Holofenstern, öffentlichen Netz-Schnittstellen, Terminals und Gates für Transportröhren und Fähren nicht, Xavers Aufmerksamkeit im Außen zu binden. Nach den vielen Jahren des Rückzugs schenkte den ungewohnten Massen an Mitmenschen, die um ihn herum geschäftig vorüber eilten, ein erschreckend geringes Maß an Zuwendung, welcher Art auch immer. Damit schlug er mehrfache die überzeugend und sensibel vorgetragene Ermunterung Matrinas aus, sich auf ein Gespräch oder wenigstens irgendeine Art der Konfrontation mit einem menschlichen Gegenüber einzulassen. Sogar die vielen, attraktiv aufbereiteten und reizvoll dargebotenen Waren und Dienstleistungen, die hochkarätigen Erfahrungs- und Wissensangebote, die ein zentraler, dynamischer Ort wie dieser so hervor- und mit sich brachte, nahm er nicht ihrer öffentlichen, physischen Gestalt wahr. Denn er war seit der Landung hyperreal absorbiert, durch eine persönlich getroffenen derselben Informationsquellen – blind für die reale Welt, geblendet durch die unermesslichen Möglichkeiten seiner diversen Körpertechnologien. Er hatte sich durch deren Hilfe die Situation seinen individuellen Bedürfnissen entsprechend schön zurechtgeschnitten, sich nur das für ihn relevante an Daten aus der Umwelt zugemutet und vor allem aus den nun verfügbar gewordenen Netzen geschöpft. Diesen fein verlesenen Anteile an und Perspektiven auf die Realität hatte er sich, abgeschirmt durch den Reisekokon, im Gedankenkonzil dann auf seine ganz persönliche Art und Weise in seine selbst konfektionierten hyperrealen Welt geholt und dort gefügig und beherrschbar gemacht. Kaum noch etwas Fremdes war noch an ihr; alles war wohlig fabriziert.

 

Derzeit standen weitere Datenakquise und primär die Integration der gewonnen Erkenntnisse in die weitere Reiseplanung sowie eine abschließende Diskussion der Analyseergebnisse an. Das große Quanten an Arbeitszeit und kognitivem Potenzial auf verstiegene Fragekomplexe und deren unnötige Vertiefung hin verschwendet wurde, die aktuell im augmentalen Fokus lagen, fiel bei den vorhandenen Kapazitäten erstaunlich wenig ins Gewicht. Denn die sechs Module waren nun allesamt erwacht und das Konzil insgesamt funktionierte somit nun wieder tadellos. Für die übrigen Augmentate galten, nach sorgfältiger Prüfung durch den nicht gerade wortgewandten, wohl deshalb meist sehr schweigsamen Hoffmann volle Funktionsfähigkeit und uneingeschränkte Einsatzbereitschaft: „Läuft! Alles klar SchiffChef, äh, Xaver…“, lautete der logisch etwas verunglückte Missbrauch einer alten Redewendung durch das Modul. Die anderen Module nahmen wie häufig wenig Rücksicht auf die Befindlichkeit des schüchternen, sozial unsicheren Praktikers, als sie sich ob seiner verbalen Entgleisung je nach Charakter, Temperament und Sympathie mit oder über ihn amüsierten. Am Ende geboten die nüchtern-effiziente Xaya und der genervte innere Avatar von Xaver dieser heiter-peinlichen Episode Einhalt. Das was man gewöhnlich Ich nannte, wurde innerhalb der hyperrealen Existenz des Gedankenkonzils durch eine frei gestaltbare Selbstrepräsentation – einen inneren Avatar bezeichnet; ebenso übrigens, wie die semiautonomen Module, die ihr Aussehen innerhalb gewisser von Xaver definierter Grenzen selbst bestimmten. Was hierbei an Skurrilem zu Tage trat, war oftmals unbeschreiblich – wie vermutlich überhaupt das Erleben hyperrealer Daseinsformen teils neuer Gestalten der Sprache bedurfte. Da reichte selbst das semantisch hochpotente Neo-Latein nicht annähernd aus. Die bürokratischen Formalitäten der nomadischen Ankunft jedoch, die im Normalfall vielleicht höchst nervenaufreibend gewesen wären, glichen einer Selbstverständlichkeit. Er konnte sich ihrer aller mit nur wenigen vorab abgelegten Gedankenpaketen und einer simplen, terminierten Datenroutinen, buchstäblich also im Vorübergehen, entledigen. Wobei die enthaltenen Signaturen zweier seiner potenziellen Klienten wohl eine wesentliche Rolle gespielt haben dürfte.