Lebensräume, die Zweite: utopsiche(s) Gesellschaft(sbecken)

In der heutigen, abermals anonym aufgetauchten Bilderfolge teilen sich drei (von dreißig; wie eine der Metatext-Redaktion vollständig vorliegende, als Anhang dem Video beigefügte Excel-Tabell belegt) Gattungen (Guppy, Garnele, zwei Schneckearten) einen Lebensraum, der perspektivisch monoton auf eine verwackelte Nahaufnahme beschränkt bleibt. Zusammen damit geradzu minimalistisch anmutend, wird im gesamten Video auf eine Tonspur radikal verzichtet, womit das Sehen absoluten Vorrang erhält.

Als Vorbereitung für die zweite Bilderfolge erlaube ich mir jedoch zunächst, ein kleine Portion an Nervennahrung für den hoffentlich neugierigen Kopf zu kredenzen. So bleibt das anschlißende Video nicht so stumm, zusammenhanglos und unvermittelt, wie es das unkommentiert wäre. Drollig sind die Dutzend Tiere sicherlich, wie sie ihr jeweils natürliches Verhalten zeigen: die quirllige Zwerggarnele (Neocaridina davidi var. „Red-Fire“), die verspielten Guppyjungen (Poecilia reticulata spec.) und die träge dahinschlurfenden zwei Arten an Schnecken-Dudes, die gut sichtbaren, blauen Posthornschnecken (Planorbella duryi) und die nur mit Kennerblick (und mit einem detaillierten Fauna-Inventar als Excel-Sheet) unten rechts erkennbaren (Quell-)Blasenschnecken (Physa fontinalis spec.), die kleinwüchsiger sind und ein längsgewundenes Gehäuse mit goldigen Schimmer ihr Häuslein nennen.

Als Gesellschaft, alle zusammen tun sie das, was dieses Hobby, so spannend und reizvoll macht, sie leben gut miteinander, wie sie eben miteinander leben können und sollen und wollen, also artgerecht und plavoll abgestimmt; währendessen lassen sie uns (ja, zwangsweise – zugegeben) teilhaben an ihrem zufriedenen und friedvollen Zusammenleben. Homöostase und Harmonie herrschen hierbei; jede Art hat ihre Nische, ihre Funktion, sozialverträgliches Futter mitsamt Fressverhalten. Keiner knabbert den anderen also an, eines der wichtigsten, wenn selbst auch nur minimales Kriterien für ein sog. Gesellschaftsbecken. Ruhe und Frieden regieren in einem sozialen Kleinod: Blubber-Spaß und Wohlfahrt für alle!



Polizisten und Richter, Beamte und Politiker braucht es hier nicht, Ordnung und Recht, Effektivität und Gerechtigkeit erhalten sich beinahe von selbst, solange das Becken kompetent betrieben, befüttert und gewartet wird. Eine assoziativ naheliegende, tendenziell bissige Parodie-Analogie zu menschlichen Gesellschaften und dem (Nicht-)Funktionieren innerhalb ihres Lebensraumes drängt sich ebenso stark auf, wie ich diesen Impuls präventiv unterbinde. Mir und euch erspare ich damit ein neuerliches zu tiefes Abdriften in die Diskurse der Nacht, wo doch der Ausgang dieses Artikels abermals recht proto-politisch bis trüb ausfallen wird. Wer mag zusätzlich und willig ist, sich und seiner aktuellen Lebenswelt einen simplifizierenden Spiegel vorzuhalten, der denke über folgenden (Kon-)Text nach: (sozialer) Frieden, Population, Ressourcen(um)verteilung, (Arten-)Vielfalt, (subjektiver) Mangel, Konkurrenz, Grenze und Gewalt.

Um eine nachtdiskursive Allusion und deren Abstraktion komme ich also abschließend nicht herum, wie ich insgesamt merke, dass die Lebensräume eine stärkere Affinität zu den Diskursen der Nacht denn zu den Denkwelten entwickeln. Dabei gäbe es aus der Warte unterschiedlichster Wissenschaften, vieles zum Thema beizutragen: Chemie des Aquariumwassers, Physik der Beleuchtung, Biologie auf all ihren Ebenen, Ökonomie des Betriebs beispielsweise. Noch mehr Lebensräume also, noch mehr unterschiedliche Lebenwesen mithin und somit der ethisch brisante Fragekomplex, den ich bewusst twitterfreundlich auf Englisch ausformuliere: Who’s first – (e)quality for all or quality for some?

Für mich ist die Position hier absolut glasklar: Bedingungsloses Grundeinkommen in Form von globaler Grundversorgung und gleiche Grundrechte für alle primären, sekundären und (unschädlichen) tertieren Bewohner – eine analytisch-funktionale Differenzierung, die im Ideal kein moralisches Gefälle legitimieren soll. Die drei Stufen sind daraufhin rasch damit erklärt, dass der Primärbewohner (Guppy) der Hauptbesatz eines jeden Lebensraumes ist, Sekundärbewohner (Schnecke, „Bodenpolizei“) alle hinzugefügten, anspruchsloseren und z.T. maßenhaft vorkommenden Begleiter mit unterstützender Funktion sind und sich zuletzt die Tertierbewohner (Fliegen, Grillen, Schaben, Spinnen) aus diversen Futtertieren und eingewanderten Nicht-Schädlinge zusammensetzen. Die wirklichen Schädlinge (Planarien, Schimmelpilze, Milben und dergleichen) werden begrifflich gesondert und müssen in der Praxis leider aus katgorischen Gründen bestenfalls sanft reduziert oder schlimmstenfalls hart eleminiert werden. Die Gesetzgebung des Notstands also, wobei die Grenze für diese inanimalische Diskriminierung sensibel, offen und durchlässig, von Situation zu Situation verhandelbar ist, Klugheit muss hier her, und vor allem gilt: VORSICHT – Lebensgefahr! Denn jedes Tier, jede Pflanze, auch jeder Pilz, jedes Kleinstleben oder ganz buddhistisch einfach, jedes Lebewesen, dass unseren Lebensraum gewollt oder ungewollt bevölkert hat, besitzt unverbrüchliche Lebensrechte und diese liegen mitunter qua sog. Intelligenz in unserer Verantwortung als Züchter/Halter/Pfleger/Diener von Lebewesen. Dieses prinzipielle Zugeständnis sind wir der (Um- &Tier-)Welt schuldig: Nichts Lebendes ist eine Ware, nichts ontologisch unser Eigentum!

Euer Hohepriester des Lebens und Administrator seiner Räume, Satorius

Politische Wahrheit zwischen, über, unter Himmel und Erde

Dabei konnte uns das, was das politische Leben eigentlich ausmacht, garnicht in den Blick kommen: Nicht die große Freude, die dem schieren Zusammensein mit seinesgleichen innewohnt; nicht die Befriedigung des Zusammen-Handelns und die Genugtuung öffentlich in Erscheinung zu treten; nicht die für alle menschliche Existenz so entscheidende Möglichkeit, sich sprechend und handelnd in die Welt einzuischalten und einen neuen Anfang zu stiften.

Denn worum es mir in diesen Betrachtungen ging, war zu zeigen, dass dieser politische Raum trotz seiner Größe begrenzt ist; dass er nicht die Gesamtheit der menschlichen Existenz und auch nicht die Gesamtheit dessen umfasst, was in der Welt vorkommt. Was ihn begrenzt sind die Dinge, die Menschen nicht ändern können, die ihrer Macht entzogen sind und die nur durch Lügen und Selbstbetrug zum zeitweiligen Verschwinden gebracht werden können.

Die Politik kann die ihr eigene Integrität nur wahren und das ihr innewohnde Versprechen an die Menschheit, dass sie die Welt ändern können, nur einlösen, wenn sie die Grenzen, die diesem Vermögen gezogen sind, respektiert.

Wahrheit könnte man begrifflich definieren als das, was der Mensch nicht ändern kann. Metaphorisch gesprochen ist sie der Grund auf dem wir stehen und der Himmel, der sich über uns erstreckt.

Hannah Arendt (1906 – 1975), Wahrheit und Politik – Eine philosophische Studie, 1:17:38 – 1:19:13 (1969, Rundfunkbeitrag – Direktlink)


Zwischen Himmel und Erde, in der Mitte der Dinge, motivisch sogar zwischen Text und Welt, lebt der Mensch. Ich, du, er, wir, ihr, sie und es, das gnadenlose Geschehen und das unermessliche Universum, das unheimliche Unbewusste und der geniale Gedanke. Alles tendiert zur Tat, vita passiva unterliegt vita activa.

Diese treffsicheren Schluss-Betrachtungen zur metaphysischen Grenze und Verortung ihrer politischen Philosophie sind ein solcher Geniestreich des tätigen Geistes, der dem genius loci gleichermaßen Tribut zollt, wie er seine Wurzeln tief in den Boden unserer nacherzählten Lebenswelt treibt. Vom Himmel herab in die Herzen der Menschen holt Hannah Arendt die Sterne der Politik, gibt sie in die Hand von Gutmenschen; integer und engagiert, kompetent und interessiert sowie vor allem sozial sollen sie sein, sollen wir Bürger einer guten Demokratie bestenfalls sein.

Wer sich hier ein klein wenig überfordert fühlt, der hebe die Hand und werfe mit ihr den ersten Wattbausch kräftig in die einschlägige Richtung: Moralmonster. Der kleine Mann soll große Geschichte schreiben, soll Gratwanderer und Silver-Surfer eines irgendwie gearteten sozial-strukturalistischen Idealismus werden. Rebell trifft Reformer, Vater und Mutter kondolieren dem General und der Nihilist gratuliert dem Fundamentalist zur soliden Basis. Die wenig verdeckte Forderung zum Guten, Schönen und Wahren wirkt trotz aller Sympahtie wie ein allzu große Synthese nach dem historischen Tiefpunkt, wie die große Äquivalenz nach absoluten Differenzerfahrung. Schnell und salopp wird eine gigantische Brückenkonstruktion zwischen Leben, Politik und Denken geschlagen, quasi die eierlegende Wollmilchsau der praktischen Philosophie (nach Auschwitz) ersonnen. Der implizite Imperativ gipfelt in aktuelle individuelle Überforderung, statt und nach historischer kollektiver Überforderung: Gleichzeitg mit beiden Beinen fest auf dem Boden der politischen Tatsächlichkeit stehen, sich bewährend, die Bedinungen des politische Möglichen kennend und weise erwägend, zugleich aber ebenso mit dem Kopf hoch in den Wolken wahrer Tugend schwelgen und empathisch mitfühlen, mitleiden, miteinander leben – puh! Viel zu versöhnen für eine jede Epoche und jedes Menschenleben erst recht. Einfach mal vom Narren zum Magier werden, als Gruppe gar Menschehit den Kursus der Alchemie durchlaufen – Schwarz, Weiß, Rot, fertig ist der Tod!

Warum dabei naturalistisch fehlschließen, wenn man kurzerhand narrativ-normativ hochstapeln kann? Ausgehend von einer gesunden Basis aus Humanismus und positiver Psychologie landet Arendt letztlich dann doch bei der guten alten Wahrheit, um die es fast allen Philosophen (leider) am Ende ihrer Argumentation und ihres Lebens bestellt ist. Wahrheit findet sich auch bei ihr, ganz klassisch, außerhalb, vor und also jenseits des Menschen wieder, draußen in der weiten Welt, tranzendent entrückt. Aber eben nicht entrückt, denn ein Zipfel Wahres ragt hinein in die Immanenz, wird zum griffbereiten ethischen Strohhalm für die gute Form politischer Praxis und die eigene Parteinahme. Der Genuss der gemeinsamen Aktion lockt den politischen Aktionisten zum Handeln in der Gruppe, lässt ihn aber im Ideal nicht blind werden für die Widerstände seiner Um- und Mitwelt, fern von Herde und Heimat, und schult Geduld und Gelassenheit, Passion und Eifer gleichmaßen. Demütig zieht der politische Ideal-Soldat aus, die Wahrheit zu suchen, vor der er seine politische Aktion heiligen lassen kann. Und Gott segnete den Menschen und gab ihm die Erde mit all ihren Tieren und Pflanzen, Bergen und Flüßen, Wäldern, Wiesen und alle dem Leben darinnen zur Pflege und Obhut, überließ sein Schöpfung der Führung seiner geliebten Kinder, auf das sie sich seiner Aufgabe als würdig erweisen. Amen!

Wie sähe wohl die aktuelle Zwischenbilanz inpuncto Weltpolitik und bzgl. des erreichten Niveaus an Zivilisation und Fortschritt aus, das uns von Seiten welcher Wahrheitsintanz und ihrer Jünger auch immer ausgestellt werden würde? Oder was würde Frau Arendt zu Trump, Netanjahu, Putin, Erdogan und der arabischen Rasselbande sagen, wie fände sie wohl Frontex, Orban, AFD und Co. KG? Ich überlasse die Antwort großzügig Äther und Archiv, überlasse ihre Beantwortung der Globalgeschichte, aber vor allem der persönlichen, politischen Aktion wie nicht zuletzt sondern zuerst der öffentlichen philosophischen Reflexion – auf die Plätze fertig, Schluss aus!

Euer gottesunfürchtiger Kurz-Diskurser (mitten in) der Nacht, Satorius

Biedermeiernde Kulinarik

Einfach mal gepflegt auf den Balkon legen, sich den Wind um die Schläfen säuseln und die Sonne auf die Stirn scheinen lassen, kultiviert ein paar unbedeutende, aber nützliche Worte in die Tastatur hacken; einfach nur dasein, anstatt Waren zu produzieren und Dienstleistungen anzubieten, anstatt Überzeugungen zu demonstrieren und gegen das Böse zu rebellieren, anstatt sich zu optimieren oder wie immer zu konsumieren. Also in einem absonderlichen Wort, einem Partizip I zumal: Hart ab(-neo-)biedermeiernd, finde ich an diesem Wochenende sogar zur Kulinarik zurück, wenn auch nicht mit meinem früheren Elan und dem gleichen Maß an Begeisterung, Produktionslust und Kreativität wie zuvor; insbesondere, da das angekündigte Rezept heute nicht eben originell noch allzu eigenwillig ausfällt: Guacamole aka Avocado-Mousse.

Nachdem meine über Jahre hinweg weiterentwickelte Variation des eigentliche einfachen Küchen-Klassikers derweil bereits häufiger zu Rezeptnachfragen geführt hat, bin ich jetzt endlich bereit dazu und werde das Gericht nun endgültig entzaubern. Ergo und also wird heute mal wieder eine kulinarische Einmaligkeit entsingularisiert, mit dem Ziel, sie so objektiv wie nötig und frei wie möglich auf digitales Papier zu bannen. Per se wird die Persea dabei gematscht, aber für mich gehört noch ein klein wenig mehr an Raffinesse zu einer gelungenen Guacamole, auf die Feinheiten der Zubereitung und die Feinheit der Zutaten kommt es eben an.

Genussvolle Grüße, Euer Satorius


Persea-Matsch

– Metadaten des Gerichts –

Kochniveau: 2/10  Dauer: ~ 30 Minuten  Art: Beilage/Vorspeise Kosten: mittel

Rezept zum Ausdrucken: Persea-Matsch (PDF)

Zutatenliste

  • 4 kleine, 2 mittelgroße oder 1 große Avocado (Ohne Kerne und Schale ca. 300g, wobei ich wiederholt 4 kleine Früchte als aromatischer und damit leckerer empfunden habe)
  • 1 (rote) Zwiebel
  • 2 Zehen Knoblauch
  • 1 milde Chili (Entkernt und gewaschen; wer es jedoch scharf mag, nimmt entweder eine heftigere Chili-Sorte oder lässt einfach die Kerne drinnen)
  • 4 – 2 Dattel- oder Cocktailtomaten (ca. 50g)
  • 50g getrocknete Tomaten
  • 1 TL Salz (Bevorzugt Rauchsalz oder alternativ Fleur de Sel)
  • 2 TL schwarzer Pfeffer
  • ½ TL (scharfes, geräuchertes) Paprikapulver
  • ½ TL Kumin/Kreuzkümmel
  • 1 EL (frischer) Limettensaft
  • 1 EL Olivenöl
  • 2 EL Joghurt
  • 2 Prisen Rohrzucker

Praxis-Anleitung

  1. Zuerst müssen die reifen Avocados geschält und entkernt werden. Ob die Früchte vor- oder nachgereift wurden, spielt kaum eine Rolle, solange sie handweich sind. Es hat sich dafür bewährt, die Avocado der Länge nach vom Struck ausgehend kreisförmig einzuschneiden. Daraufhin sollte man die beide Hälften problemlos gegeneinander drehen und so die Hülle öffnen können. Nun noch den Kern entfernen, aber nicht wegwerfen und für später zur Seite legen. Zuletzt das Fruchtfleisch mit einem Löffel aus der Schale herausschaben, um es in eine Schüssel zu geben. (Das Fleisch der Avocado sollte saftig grün bis gelblich sein, weshalb ggf. vorhandene dunklere oder sogar holzig Stelle besser gleich entfernt werden.)
  2. Die geschälte und fein gehackte Zwiebel zusammen mit den ebenfalls fein gehackten, getrockneten Tomaten und der (entkernten) Chili sacht auf niedriger Flamme mit dem Olivenöl in einer Pfanne andünsten, ohne sie zu stark zu braten oder gar zu rösten. Dabei mit dem Rohrzucker überstreuen und dadurch leicht karamellisieren. Danach den Inhalt der Pfanne zum Avocadofleisch in die Schüssel geben.
  3. Tomaten und Knoblauchzehen ungeschält in die Pfanne geben und von allen Seiten ausgiebig rösten. Anschließend bei beiden die Schale entfernen, den Knoblauch pressen und beides zur Avocadomasse hinzugeben.
  4. Die restlichen Gewürze und Zutaten mit in die Schüssel dosieren, wobei Pfeffer und Kreuzkümmel bestenfalls frisch gemörsert sowie der Limettensaft frisch gepresst wird. Nun mit einer Gabel die Avocado zerdrücken und dadurch solange mit den anderen Zutaten vermengen bis eine homogene, cremige Konsistenz entstanden ist.  
  5. Die fertige Guacamole luftdicht verschließen, kurz kühl ruhen lassen und bald servieren. Denn leider wird die Avocadomousse spätestens an der Luft sehr schnell unansehnlich, färbt sich dabei dunkelgrün bis braun ein, obwohl sie auch weiterhin bedenkenlos genießbar ist – gekühlt sogar mehrere Tage. Dieser Prozess kann erstaunlicherweise verlangsamt werden, indem man die zuvor entfernten, zumal dekorativen Avocadokerne am Ende wieder hinzufügt.

Die erste Bilderfolge Quanzlands: K(l)eine Utopien in „Bone“ oder Neo-Bied feat. NRx


Nein, wie schön, alles so grün und vital – von wegen!

Dieses prächtige und authentisch-verwackelte Amateur-Video, vermutlich aufgenommen in der Heimstatt besagten Amateurs, wurde mir über die Metatext-Redaktion anonym zugespielt. Es ist daraufhin Anlass geworden, für diesen allusionsreichen, aber letztlich argumentativ viel zu anfänglichen Artikel über eine politisch-pikante Polarität. Dieses Spannungsfeld versteckt sich als reflexiver Abgrund unter und hinter der zunächst beschaulichen bis erbaulichen Fassade eines Terraristik-Heim-Videos; es verbirgt sich eine politisch-brisante Problematik hinter der konkreten Oberfläche. Eine vemeintlich zyklisch wiederkehrende Systematik historischen Ausmaßes kündigt sich schlussendlich an: Rückzug trifft Reaktion!

Beginnen wir am Anfang am Ende, zunächst also auf der schönen Oberfläche: Mit der allzu positiven und allzu unvermittelten Einladung einer hörbar wohlbehaltenen Stimme, die für ein unbestimmtes „Uns“ spricht und den Zuschauer einlädt, einen vermeintlichen realexistierenden Ort namens „Bone“ zu besuchen, was nuschelinduziert an „Bonn“ oder auch „Baun“ erinnern könnte, aber tatsächlich ungewiss bleibt, endet das ansonsten vermeintlich selbstevidente Video.

Das Ganze hier ist, nebenbei und metatextuell bemerkt, der erste Auftritt bewegter Bilder innerhalb der neuerlich auch katergoriell wieder sanft expandierenden Grenzen Quanzlands. Ein neues Medium manifestiert sich damit in unserer bunten und vielfältigen Zwischenwelt und bildet damit den Ursprung für eine neue Unterform des Formats Lichtrausch: die Bilderfolgen. Nicht einzelne, fokussierte Motive, sondern großzahlige Folgen von ca. dreißig, nicht bewusst wahrgenommenen Bildern pro wahrgenommener Sekunde Lebenszeit malgenommen mit der Länge der jeweiligen Folge laden ziemlich hochzahlig zu einer rasanten Serien-Variante des bisher so kontemplativen Lichtrausches ein.

Von diesem singulären, finalen Satz aus also, vielmehr von seinem einzigen semantisch-markanten Wort aus, von diesem Leuchtturm des Sinns her, lässt sich das komplette und inhaltlich sonst unterkomplex scheinende Stück erhellen, durchleuchten und damit in seinen letztlich zutiefst politischen Konsequenzen überhaupt erst verstehen: „Bone“ (Man beachte: kursiv & „Ausrufung“) bezeichnet hierbei in meiner Lesart gewissermaßen nur grammatikalisch-lexikalisch einen echten Ort. Denn dieser profunde Nicht-Ort existiert exakterweise in Form einer virtuellen Utopie und ist damit ontologisch-redaktionell gesehen bloß ein fiktionales Fragment von Quanzland; ein gebrochener Splitter reinster Hyperrealität herausgesprungen aus einer spährischen Blase von Lebenswelt; in der nunmehr ein obskures Cyberkonstrukt seine kristallinen Strukturen chronologisch in die Höhe zu schrauben, zu stapeln beginnt.

Vor allem aber bietet dieses ominöse bis mysteriöse „Bone“ ziemlich viel Leben einiges an Raum, schafft Lebensräume, so viel steht neben aller unötiger Posie ganz faktisch fest und ist für alles Weitere der leitende Impuls. Natur wird dort in diversen Lebensräumen kultiviert, gleichsam geschützt und gehegt, augenscheinlich umfassend umsorgt. Vermutlich von einem gütigen Hausherren, man könnte ihn einen Mäzen des Lebens nennen. Er herrscht, regiert und reguliert das pflanzliche und tierische Leben dort gemäß seiner Gesetze, zugleich stehend unter den komplementären Kategorien, den Idealen von Ökologie wie Ökonomie, wohl immerdar versuchend, eine optimale Synthese aus beidem zu erreichen. Dort in „Bone“ hat er ein echtes Idyll, ein Kleinod von Heimlichkeit und Heiterkeit geschaffen und dafür schlussendlich nüchtern-rhetorisch betrachtet schlicht einen echten Neologismus geprägt. Soweit meine erst aufwärmende An-Interpretation des Videos.

[Kommentar @ Metatext-Redaktion: Vorsicht und Verzeihung lieber Leser! – fortgesetzte Lesegefährdung durch den folgenden Nerd-Absatz nach bereits wiederholt erfolgter Prosa-Poesie-Attacke, die wir schon beinahe als „Lyrik-Alarm!“ klassifiziert hätten]

Für Freunde der lateinischen Sprache und neugierig Etymologen sei nebenbei hinzugefügt, dass es sich prinzipiell um den semantisch unmöglichen Lokativ des substantivierten Adjektivs „bonus“=“gut“ handelt. Soweit der Latein-Bedeutungs-Noob, der aber immerhin ein respektabler Kenner der grammatischen Strukturen ist; der vokablegestählte Bedeutungsforscher hingegen differenziert tiefergehend und entdeckt dabei erstaunt, dass „bouns“ nicht bloß adjektivsch schlicht „gut“ sondern vielmehr auch „brav, gütig, tauglich, tüchtig, nützlich, ehrenhaft etc. pp.“ bedeutet und überdies substantivisch noch soviel meint wie „Ehrenmann, Herr, Kavalier, reichere Leute“, also im Prinzip die Pratrizier im alten Rom bezeichnet haben dürfte.

Es geht also, etymologisch hinter den Neologismus geschaut, um einen kosmopolitisch organisierten Ort, der von guten Gesetzen, geschaffen von einem unsichtbaren Philosophen-König, weise und klug, regiert wird; überdies um eine Welt der natürlichen Tüchtigkeit und der Lebensleistung, wo Taugliche und Untaugliche in kleinen Habitaten artgerecht eingepfercht, wettkämpfend dort gehalten und gezüchtet werden. Einen Förderer des Lebens scheinen wir vor uns zu haben, stillt er doch jedenfalls die Grundbedürfnisse seiner Schutzbefohlenen und lässt überdies der Natur nur wo nötig und dann nur technisch, nach Gusto und Gutdünken ihren sonst so freien Lauf. Mal wird er wohl in seinem Handeln liberal sein, mal paternalistisch, immer irgendwie idealistisch und am Überleben des Habitats und seiner (Primär-)Bewohner interessiert. Gott gewordenen Gutmensch oder terraristschen Spießer könnte man ihn somit auch nennen. Genaueres wissen wir ja derzeit nicht über den Urheber des Videos, die unsichtbaren Hand, die an die Glasgefäße und die Play-Taste gelegt wurde. Wir kennen ja nur ihr Werk und können dabei ihre Präsenz bloß durch Schatten und Schöpfung hindurch, also höchst indirekt erahnen; müssen somit notwendig spekulieren, zum wem die Hand wohl gehört und welche Attribute dem Besitzer der Hand wohl zukommen, welche Ideale womöglich in seinem Kopf herumspucken und wodurch sein Handeln letztlich also beeinflusst wird. Viel Raum trifft auf wenig Substanz.

Theologisch gesprochen suchen wir die Eigenschaften Gottes; hoffen wir, dass wir beim Finden keinem Terrarien-Teufel auf dem Leim gegangen sein werden. Die Klassiker von Allmacht und Allwissen jedenfalls können wir schon mal demütig von der Liste der Attribute streichen. Dennoch kommt dem Halter von Heimtieren, insbesondere bezogen auf die Bewohnern solcher Habitate, eine derart große Macht zu, dass er praktisch relativ nah an Allmacht herankommt. Für die Geschöpfe, die arglos in ihren gläsernen Gefängnissen sitzen, spielt der Protagonist der Bilderfolge eine herausragende, lebensbestimmende Rolle. Er ist gewiss kein Gott, aber etwas konkret sehr Ähnliches ist er schon, eine Art transzendentes Wesen, das jenseits der Lebenswelt der Heimtiere wohnt, Wunder wirkt und seinen Schützlingen willkürlich gewährt und wieder entzieht.

Sollen wir hier netterweise, weil seine Schöpfung ja so hübsch anzuschauen ist, von einem kompetenten Herrscher, einem „tüchtigen Ehrenmann“ der Terraristik ausgehen? Ja das könnten wir, oder nein, das lassen wir, hinterfragen lieber kurz den thematischen Zusammenhang des Videos: Die Haltung (exotischer) Tiere und Pflanzen zu Hause. Denn wie kann sich ein tieferes, gar analytisches Verständnis unseres bewegten, bebilderten „Textes“ entfalten, ohne dass zuvor seine Inhalte thematisch erhellt wurden. Ohne ein wenigstens grundlegendes Vorwissen über die zu beurteilende Materie, das was der Fall ist also, kein legitimes Urteil. Ohne Verfahren und Beweise erscheinen weder Richter noch Angeklagter, noch Zeugen und Anwälte oder gar Polizisten und Henker auf unserer Bühne. Ohne einen vernünftigen Maßstab gibt es hier wie überall keinerlei Gut – ein fataler Eindruck, der tunlichst vermieden werden soll; weil banalerweise das Gute nur dann logisch überhaupt möglich ist, solange Hoffnung und Handlung auf Verbesserung zielen könnten.

Ist unser Halb-Gott mit Kamera nun „gut“ oder „böse“, ein Förderer des Lebens oder bloß ein machtbessener Teufel? Was verbirgt sicht unter der kitschig dekorativen Oberfläche dieser hübschen Heimtier-Oase; was also sind nun eigentlich Ideale und Werte einer „guten“ Terraristik; was also ist nötig, um solche schönen und sogenannten „Becken“ am Leben zu erhalten? Fragen, von deren Beantwortung her erst das nächste im Text verständlich werden wird. Denn die Sprungstelle zur hintergründigen, noch herbeizuführenden Politikdimension des zunächst harmlosen Hobbys erhellt sich argumentative erst ganz allmählich. Der Name des neuen Seiten-Themas deutet die dabei Problematik auch bestenfalls vage an: Lebensräume.

Glücklicherweise, und im Angesicht der Situation ein geradezu kosmisch-komischer Zufall, bin ich selbst Heimtierhalter von allerfrühesten Kindesbeinen an bis heute. Als langjähriger Pfleger von Säugetieren, Reptilien, Amphibien, Insekten und als Züchter diverser Algen, Bakterien, Pilzen und Pflanzen, vermag ich einiges zur Thematik beizusteuern, halte mich aber gerade deshalb maßvoll zurück – versprochen!

Meine Tiere und Pflanzen (dem Stil zuliebe diskriminiere ich den Rest der biologischen Systematik im Folgenden – Tschüss: Algen, Bakterien und insbesondere ihr armen Pilze!) ihrer nirgendwo verbrieften Persönlichkeitsrechte zu berauben, fiele mir persönlich zwar trotzdem nicht ein; ich danke dem Regisseur jedoch dafür, dass er sich für uns seine ethischen Fingerchen schmutzig gemacht hat. Dank ihm bekam ich den Anstoß zu diesem Artikel und beiläufig die Gelegenheit mich zu outen: Ja ich halte Heimtiere, betreibe und beherrsche selbst Lebensräume!

Das Prinzip eines Lebensraumes ist hierbei denkbar simple, wenn auch die Praxis schwierig; für jede Gattung, jede Art und Weise der Haltung beginnt sie mit einer z.T. sehr steilen Lernkurve (Aquaristik war zunächst z.B. meine Nemesis). Es geht also um viel Lebenszeit und Arbeitkraft in Form von Lektüre, Planung, handwerklicher Umsetzung, Wartung und Optimierung. Letztlich zählt dabei immer die einfache Formel: Kenne die Bedürfnisse deiner Pfleglinge, die primären wie Raum, Licht, Wärme, Luft, Nahrung, Wasserqualität ebenso wie die sekundären Bedürfnisse, die sehr teilweise sehr divers sein können, und erfülle sie immerdar bestmöglich. Das klar formulierte Ideal hierbei lautet: Immer mindestens so artgerecht wie nötig und maximal so wie ökonomisch und ökologisch möglich; denn jedes Haus hat begrenzten Raum und jeder Mensch ein limitiertes Budget. Daraus folgt für die Praxis, dass der Schwierigkeitsgrad eines jeden spezifischen Lebensraumes von den technischen und methodischen Anforderungen abhängt, die nötig sind, um seine Bewohner bedürfnis-zu-befriedigen. Der Schimmelpilz (Ha, getrickst!) unter’m Klo beispielsweise lebt Leichterhand, fast wie von selbst; das Multi-Habitat-Gesellschaftsbecken mit 10 Primärbewohnern, die von circa 20 weiteren Tierarten und ebensovielen Pflanzenarten begleitet werden, hingegen erfordert ein hohes Maß an Wissen und Wartung, einen ganzen Technikpark und jahrelange Erfahrung, zudem viel Baumaterial und im Betrieb Unmengen Subsistenzmittel und einiges an Energie. Vor allem aber wird es immer wieder vorkommen, dass harte Entscheidungen über Leben und Tod rational erwogen und emotional vor dem eigenen Gewissen verantwortet werden müssen. Es geht um Leben und Tod.

So weit, so klar, aber was tun, wenn die Komplexität der Lebensraum-Parameter zunimmt, die potentiellen Lösungsstrategien für immer wieder auftauchende Herausforderungen kontrovers sind oder es schlicht keine greifbare Evidenz oder profunde Vorerfahrung gibt – die prognostische Qualität bröckelt manchmal einfach dahin. Gute Entscheidungen jedoch berücksichtigen nicht nur alle relevanten Fakten und die Interessen der betroffenen Lebensform, vor allem müssen sie die Zukunft in den Blick nehmen und kalkulierbar, kontrollierbar machen. Dabei hilft und orientiert ein wenig die Vergangenheit, hilft ein wenig die Erfahrung, aber ein lebensbedrohliches Risiko bleibt notwendig ständig bestehen. Leben ist also bedroht.

Das Offene und Unbestimmte des Werdens lässt sich also weder beim Betreiben häuslicher Lebensräume aufheben, tendenzielle Laborbedingung hin oder her; noch vermag selbst ein idealer Betrieb des großen, menschlichen Lebensraumes, einer ganzen Gesellschaft gar oder sogar das globale Treiben der Menschheit dieses konstitutive Merkmal von Herrschaft und Politik aufzuheben. Ob eine dbzgl. Entscheidung also „gut“ oder nur „richtig“ ist, kann bisweilen bloß retrospektiv und somit selten eindeutig aus der Gegenwart heraus entscheiden werden. Zumal sich Werte und Emotionen, ideologische Blockaden und partielle Interessen als weitere Zumutungen in die sprachliche Gleichung einschreiben. Im Übergang vom Kleinen zum Großen, vom Hobby zur Politik, potenzieren sich die Widerstände und Komplexitäten. Denn wo sich die Heimtiere und Pflanzen in relativ geschlossenen Räumen effizient und diktatorisch regulieren lassen, da ist der mündige Mensch und ist die weite Welt eine unvergleichlich andere Herausforderung an Lebensraum-Politik, an Biomacht, um mit Foucault zu sprechen. Beiden Formen der Herrschaft geht es zuallererst um eine günstige und bestenfalls gütige Regulation von Lebensräumen und ihren Lebewesen, um das Über-Leben beider zu sichern. Hier wie dort ist Präzedenz in der Entscheidung eine seltene Angelegenheit, sind Fakten häufig nicht zweifelsfrei objektiv und Fiktionen nicht einheitlich intersubjektiv vermittelbar. Deshalb, trotz aller konkreten Differenz in Qualität und vor allem Quantität, taugen Terrarium, Aquarium, Paludarium und dergleichen mehr als Miniatur-Modelle für  bio-politische Dynamiken und deren Konzeption. Fortpflanzung, Nahrungsaufnahme, Gesundheit sind in beiden Kontexten bedeutsame (Be-)Handlungsfelder, die es zu kontrollieren und zu prognostizieren gilt, will man hierbei erfolgreich sein. Jedoch reicht die Analogiebildung nicht allzu weit, sprengen also bereits nur wenig höhere und zivilisatorisch feinere Domänen von Politik wie z.B. Wirtschaft, Wissenschaft und Diplomatie den Vergleich der beiden Welten.

Dennoch: Wer als terraristischer Autokrat auf der einen oder als wenig bis stark demokratisch legitimierter Souverän (Führer, König, Kanzler, Parteivorsitzender, Minister, Präsident oder wie auch immer betitelt) auf der anderen Seite die Leitung eines Lebensraumes übernimmt, muss Macht auf Lebewesen ausüben. Schlimmstenfalls bedeutet dies, in die Rolle eines hoffentlich immerhin utilitaristisch motivierten Massenmörders zu schlüpfen. Dann werden Leichterhand der Stabilität oder schlimmer noch der Bequemlichkeit wegen invasive Lebensformen dezimiert oder ganz eliminiert, werden schweren Herzens sekundäre Bewohner zugunsten von primären geopfert und letztlich wird als Ultima Ratio sogar die gutwillige Zerstörung und freiwillige Neuerschaffung eines Lebensraumes, die Apokalypse einer ganzen Welt billigend in Kauf genommen. Frei nach dem kalten reuelosen Optimierungscredo: Schluss jetzt damit; und nochmal von vorne – jetzt aber bitte richtig!

Biopolitik also, das weiß ich als leidgeprüfter Patron von Heimtieren und -pflanzen, ist ein schmutziges Geschäft, wobei Ethik und Edelmut gleichzeitig von Effektivität und Effizienz sowie von Eitelkeit und Eigensinn eingeschränkt werden. In jedem Fall findet eine Form der bewussten oder natürlich-blinden Selektion statt, werden die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen geworfen. Denn auch im gutbürgerlichen Glasskasten tobt, aller Rundumversorgung zum Hohn, eine selektive Schlacht ums Überleben.

Inwieweit nun die Lebensräume im einschlägigen Bewegtbild diesen Idealen genügen oder nicht, kann ich zwar so besehen nur erahnen, glaube aber, den Anspruch der Artgerechtheit erblickt zu haben. Ob und wie weit dieser Anspruch tagtäglich erfüllt und somit geheiligt wird, weiß nur der biopolitische Lebensraum-Halbgott selbst zu sagen; wenn das überhaupt jemand exakt zu sagen vermag. Denn nur wenn Natur und ihre Systematik vollständig verstanden und modellierte worden sind, werden die Kriterien und Bedingungen einer total artgerechten Natursimulation zweifelsfrei ermessen worden sein. So lange das aussteht, bleibt dem ambitionierten Biopolitiker dreierlei zu tun übrig: stete Wachsamkeit, kompetente Pflichterfüllung und besonnenes Eingreifen.

Lebensräume bedürfen, wie jedes andere Hobby, wie jede Form existenzieller Praxis überhaupt, vor allem auch dreierlei: Investition, Aufmerksamkeit und insbesondere Zeit. Womit wir uns nach dem ersten politisch-finsteren Tal der Biopolitik einem zweiten Polit-Abgrund nähern: dem Rückzug ins private Idyll oder der sog. Politikverdrossenheit.

Frustriert von der Komplexität des Systems, der empfundenen Ineffektivität politischer Teilhabe und dem Mär vom alternativlosen Automatismus der Tagespolitk zieht man sich sich sukzessive aus der politischen Öffentlichkeit zurück, man diskutiert und demonstriert nicht mehr, deliberiert und  debattiert nicht mehr und überlässt das tunlichst und gefälligst den Anderen, schlimmestenfalls den bösen Politikern. Wenn sich solcherart die Bürger in ihrem alltäglichen Leben nicht mehr für ihre politischen Belange, die gesamte Gesellschaft und die sie formierenden Regeln und Prozesse interessieren, wird aus vermittelter Selbstherrrschaft zunehmend Fremdherrschaft; aus einer ursprünglichen Demokratie ein andere „…-kratie“.

Ein vermeintlich ewig wiederkehrender Kreislauf vollzieht sich, das Rad der politischen Zeit beginnt sich von neuem zu drehen und historische Veränderungen liegen in der Luft. Klassischerweise dargestellt bei Aristoteles, dem Urvater der politischen Philosophie (erweitert um sein modernes Google/Wiki-Simulakrum), klingt die Reflexion auf dieses Phänomen dergestalt an:

Anzahl der Herrscher Gemeinwohl Eigennutz
Einer(-Wenige) Monarchie Tyrannis
Einige(-Viele) Aristokratie Oligarchie
Alle Politie Demokratie

Derzeit herrscht wohl lokal irgendwas in Richtung von Oligarichie/Demokratie bzw. Aristokratie/Politie, je nach dem, ob Optimismus oder Pessimismus beim einem vorherrschen; oder in ein paar anderen, moderner klingenden Worten: Technokratie, Infokratie und Bürokratie, alles gründlich ökonomisch („kapitalistisch“) eingefärbt. Ganz offiziell besteht eine freiheitlich-demokratische und soziale, rechtsstaatliche und föderale „Bundesrepublik“. Viele Worte, aber wer kennt sie alle schon ganz und gar, weiß exakt, was sie bedeuten sollen; selbst nach Schule und Studium der Materie bleibt ein großer Gedankenraum für Subjektivität übrig. Zumal global gesehen  sowieso die absonderlichsten Permutationen regieren. Es herrschen „X-Kratien“. 

Hinzu kommt, dass laut Aristoteles und vieler seiner namenhaften Fans in der historischen Rezeption, also quer und längs durch in Epochen und Traditoinen der Geistesgeschichte Geschichte an sich als zyklisch gedacht wurde und wird. Es dreht sich also das Rad der Regierungsformen munter und unablässig weiter, ohne dabei je etwas wirklich anderes, so etwas wie echten historischen Fortschritt hervorzubringen – so die Denkart. Eine erzkonservative Vorstellung, die der Pendellogik der meisten modernen Demokratien mit ihrem effektiven Zweiersystem (Links gegen Rechts, bürgerliches Lager vs. sozial(istisch)e Partei, konservative contra progressive Politik) auf fatale Art zu ähneln scheint. Hier ändert die Regierungspartei/-koalititon binär ihren Namen, dort gibt es echte, aber systematische enge Abwechslung; hier scheinbar nur den Wechsel zwischen 0 oder 1 – böse Zugen sprechen sogar aus diversen Gründen (ewige Mitte, politische Ökonomie, wahlfixierter Aktionismus etc.) von dauerhaftem 0,5 -, dort klar klassifizierte Wertebereiche zwischen 0 und 1. Genug der metaphorischen Zahlenanalogie, denn wie dem im analytischen Detail auch immer sei, auch Geschichte lebt: Überall enstehen neue Formen und Varianten des Neuen aus dem Alten, passen sich Mensch und System jeweils veränderten Bedingungen an.

Klar ist: Geschichte permutiert ständig und eventuell gibt es dabei gewisse Grundtypen oder Muster, eine Art politischer Attraktor. Die Zeit jedenfalls ist im Fluß; und wir schwimmen darin oder sitzen bestenfalls mit anderen zusammen in einem kleineren oder größeren Boot; suchen Halt und gründen Familien, Dörfer, Länder bilden Rudel, Herden, Nationen und erfinden Religionen, Ideologien, Strukturen; letztlich vermischt sich sowies wieder alles und mündet in das harmlose Abstraktum: Gesellschaft. Die meisten von uns sitzen also durch Geburt zufällig in dem einen oder anderen der Boote, sind Teil der einen ode anderen Gesellschaft, je nach Charakter und Situation um die Strömungen und Turbulenzen der Historie wissend oder sie geflissentliche ignorierend. Aber jedes Boot, externe Strömungsdynamik hin oder her, wird gesteuert. Es bewegt willentlich, ändert seine Position in einem schwierigen Terrain; weiß nicht, was kommt, was hinter der nächsten Biegung, des Flußes seiner nächsten Eng-, Sprung- und/oder Flachstelle auf ihn zukommt. Fluß oder Ozean, Werden oder Sein, in jedem Fall wird navigiert und das tun immer: Der Menschen.

Denn die tolldreiste, simple-reduzierende Metaphern-Genealogie der sozial-historischen Wirklichkeit führt uns zum Wesenskern der Bildfolgen-Analyse zuück; zur politischen Praxis und der ganz konkreten Frage: Reagieren oder relaxen, ein unklares Verhältnis, ein bisschen von beidem, oder keines – wie die Logik uns gnadenlos und klar gebietet. Oder nicht?!

Bevor ich hier am Ende der Analyse eines schönden Heimvideos, des davon ausgelösten, assoziativ-argumentativen Roadtrips unter die Oberfläche des Phänomens, hin zur Oberfläche der (Bio-)Politik, nun auch noch anfange spekulativ frei zu drehen, zu sinnieren, zu fabulieren, zu explodieren, beende ich die Gedankenkette lieber abrupt mit einem doppelten Text-Fast-Food hinter dessen wiederum eigener Oberfläche sich ganz eigene Abgründe auftun würden.

Das Lager des Reagierens vertritt hierbei historisch konkret eine obskure Ideologie, die sog. Neoreaction oder NRx. Primär im Angelsächsischen verwurzelt ähnelt dieses Amalgam aus Monarchie, Markt und Science-Fiction der Art der Regierungsführung bei unseren lieben Lebensräumen. Mit Hilfe von Technik reguliert ein guter Vater, KI und/oder CEO, den Lebensraum optimal und effizient – Qualityland!

Die Adepten des Relaxens enden schließlich exemplarisch im Neo-Biedermeier, betrieben die extravagantesten Freizeitkativitäten, zerstreuen und optimieren sich unsterschiedlichst: bloggen, bauen Lebensräume, erlernen alte und erfinden neue Handwerke, betreiben krasse Sportarten und reisen pauschal bis abenteuerlich individuell, ernähren sich bewusst vegan bis ohnmächtig industriell. Neo-Bied ist überall und droht, in der wirklichen Lebenswelt noch weniger, wie es in der digitalen Technik-Blase mit ihren autistischen Tendenzen lockt – Stichwort: MEINE Virtualität. Umgeben sind wir von einem Wirr-Warr an Produkten und Dienstleistungen, Netzwerken und Plattformen, Freunden und Folllowern. Wir leben dort, wo sich permanent alles Mögliche ereignet, und existieren dann, wann sich mit nur einem Klick respektive Tap alles permanent warenförmig verwirklichen lässt – hierbei rhetorisch-polemisch mal eine perverse bis paradoxe Ressourcenvielfalt angenommen: Viel hart erarbeitetes Gehalt ausgeben in einer zugleich und zeitgleich stattfindenden, üppigen wie erholsamen Freizeit. Ein klassisches Dilemma wiederholt sich: Leben um zu arbeiten und arbeiten um zu leben.

Fatal wäre es definitiv, nicht das dies auf breiter Front drohte, würden politikverdrossener Freizeitjünger und (progressiv-)reaktionärer Technonerd politisch zusammenkommen. Den einen interessiert die Politik nicht, der andere sieht die Geschicke der Gesellschaft gern in den Händen einer guten Hierarchie, den Fängen eines weisen Oberhauptes demütig übereignet. Viel Spaß also mit: Neo-Bied feat. NRx!

Your high-quantity, divers-quality Content-Blogger, Satorius


Neo-Bied (Neo-Biedermeier)

Gerne bezeichnet man das aktuelle Zeitalter als Neo-Biedermeier, was auch zutrifft, beschränkt man den Begriff auf einen Rückzug ins Private. Doch die Zeitgenossen des historischen Biedermeier waren immerhin nur Untertanen, die sich ins erzwungene Schweigen schickten und Blumenbilder malten, statt Bajonette gegen die Paläste zu richten. Die jetzigen Biedermeier dagegen sitzen mit in den Palastkanzleien, verwalten die Unterdrückung und spekulieren darauf, ihren Clan dort zu halten, wenn sie Blumenbilder ins iPad malen. Die historischen Biedermeier versuchten auch nicht, sich durch Charity-Spenden und organische Produktion von ihrer Mitschuld freizukaufen. Sie hatten ihre irren Despoten wenigstens nicht gewählt, sondern waren ihnen ausgeliefert.

Leo Fischer (1981 – ), Neo-Biedermeier (https://www.neues-deutschland.de/artikel/1050869.neo-biedermeier.html, zuletzt: 18.06.18)


NRx (Neo-Reaction)

Reading Moldbug is like listening to somebody who informs you of his plan to take care of the termites by burning his mansion down and then starts romanticizing life in a log cabin despite never having lived in one.

But then Moldbug, unlike a lot of his followers, doesn’t want to move into the log cabin, even if he’d take it over his current digs. So what’s the actual prescription?

It’s this: Democratic governments will be replaced with sovereign joint-stock corporations, their shares to be owned perhaps but not necessarily by property holders or residents of the realm. The shareholders will elect an executive, who will have plenary authority to rule as he wishes, kill as he wishes, enslave as he wishes, etc. But he won’t do such nasty things, because it would be simply incompetent. The corporation gets its income from property taxes; subjects of the realm may leave whenever they wish; and so genocide will be terrible for business. Should the executive prove to be incompetent, the shareholders may string him up at will and replace him with someone abler.

Jason Lee Steorts, Politics & Policy: Against Mencius Moldbug’s ‘Neoreaction’ (June 5, 2017; https://www.nationalreview.com/2017/06/problems-mencius-moldbug-neoreaction/, zuletzt: 18.06.18)


Link-Sammlung zu Neo-Bied:

  1. https://de.wikipedia.org/wiki/Biedermeier (Übersicht zur namensgebenden, historischen Epoche)
  2. http://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/gesellschaft-rueckkehr-des-biedermeier-138495.html (Zeitdiagnostisches Exempel, zufällig dem sog. Qualitätsjournalismus entnommen)
  3. https://www.pinterest.de/pin/362539838727116043/ (Bunte Vielfalt eines biederen bis paternalistischen Hobbys)

Link-Sammlung zu NRx:

  1. http://neoreaction.net/ (Primäre Plattform der brisanten Bewegung)
  2. http://unqualified-reservations.blogspot.com/ (Kontext des TFF und somit programmatischer Primärtext)
  3. http://slatestarcodex.com/2013/10/20/the-anti-reactionary-faq/ (Sekundärer Überblick, der beginnende Viralität belegt)

Von Zauberbergen, Sitzenbleiben und der Borderline zwischen Olymp und Hades

Es ist wie auf dem Gymnasium, wenn es entschieden war, daß man sitzen blieb und nicht mehr gefragt wurde und nichts mehr zu tun brauchte. Zu diesem glücklichen Zustand bin ich nun endgültig wieder gediehen. Ich brauche nichts mehr zu tun, ich komme nicht mehr in Betracht, ich lache über das Ganze. Wollen Sie Schokolade? Bedienen Sie sich! Nein, Sie berauben mich nicht, ich habe massenweise Schokolade auf meinem Zimmer. Acht Bonbonnieren, fünf Tafeln Gala-Peter und vier Pfund Lindtschokolade habe ich da oben, – das alles haben die Damen des Sanatoriums mir während meiner Lungenentzündung zustellen lassen . . .« Irgendwoher gebot eine Baßstimme Ruhe. Herr Albin lachte kurz auf, – es war ein flatternd-abgerissenes Lachen. Dann ward es still in der Liegehalle, so still, als sei ein Traum oder Spuk zerstoben; und sonderbar klangen die gesprochenen Worte im Schweigen nach. Hans Castorp lauschte ihnen, bis sie völlig erstorben waren, und obwohl ihm unbestimmt schien, als ob Herr Albin ein Laffe sei, so konnte er sich doch nicht eines gewissen Neides auf ihn erwehren. Namentlich jenes dem Schulleben entnommene Gleichnis hatte ihm Eindruck gemacht, denn er selbst war ja in Untersekunda sitzengeblieben, und er erinnerte sich wohl des etwas schimpflichen, aber humoristischen, angenehm verwahrlosten Zustandes, dessen er genossen hatte, als er im vierten Quartal das Rennen aufgegeben und »über das Ganze« hatte lachen können. Da seine Betrachtungen dumpf und verworren waren, so ist es schwer, sie zu präzisieren. Hauptsäch- lich schien ihm, daß die Ehre bedeutende Vorteile für sich habe, aber die Schande nicht minder, ja, daß die Vorteile der letzteren geradezu grenzenloser Art seien. Und indem er sich probeweise in Herrn Albins Zustand versetzte und sich vergegenwärtigte, wie es sein müsse, wenn man endgültig des Druckes der Ehre ledig war und auf immer die bodenlosen Vorteile der Schande genoß, erschreckte den jungen Mann ein Gefühl von wüster Süßigkeit, das sein Herz vorübergehend zu noch hastigerem Schlage erregte.

 

Thomas Mann (1875 – 1955), Der Zauberberg, S.116f. (1924)


Während unterdessen ein zweiter größerer Artikel rund um die „Diskurse der Nacht“ und das noch inhaltslos neue Thema „Lebensräume“ in der Mache ist, habe ich das Bedürfnis nach Zerstreuung in einem fiktionalen Kleinod. Namentlich habe ich mich seit ein paar Wochen in ein skurriles Sanatorium in den Davoser Alpen verirrt. Bisweilen geht es dort langatmig, anspruchsvoll und spannungsarm zu, dann aber faszinieren mich illustere Persönlichkeiten und philosophische Anwandlungen doch wieder so sehr, dass ich mich weiter des Weges bis zur beinahe 1000. Seite des monumentalen Romans von Thomas Mann mache.

In obigem Auszug geht ein lebensüberdrüssiger Dandy (sog. „Laffe“) auf seiner ganz persönlichen Borderline zwischen Leben und Ableben, regt damit die Sanatoriumsgesellschaft insgesamt und den bisher recht voyeuristisch gehaltenen Protagonisten Hans Castorp zu Refelxionen über Ehre und Schande an, denen ich nur zustimmen kann. Ich bin zwar selbst nie sitzengeblieben, konnte mich aber auf meine Weise frühzeitig vom Joch der Ehre befreien und genieße seither die eine oder andere „wüste Süßigkeit“.

Ob dieser Lebensstil, wie oben zu lesen, notwendig zu einem „Russischen Roulette“ mit dem Tod als Spielleiter bzw. Mitspieler werden muss, wage ich zwar zu bezweifeln; dennoch glaube auch ich, dass ein sanftes Abstand nehmen vom Selbst den Menschen entlastet; eine milde Distanzierung vom Guten wie vom Bösen wenigstens das Denken befreit; ein tendenzielles Aufgeben von Kontrolle und Herrschaft über Geist und Körper das Bewusstsein transzendiert. Ich stimme also in Anbetracht aller Konsequenzen und in Manns/Castorps Worten der These vom Verzicht auf Ehre zugunsten von schandvollem Genuss grundsätzlich zu.

Denn schon die alten Griechen wussten um die Nützlichkeit und Bedeutsamkeit von Fest, Rausch und Exzess als einer sehr simplen, individuell unanstrengenden Sozialtechnik. Die jährlichen Dionysien waren sicher auch nicht zufällig die Geburtsstunde des klassischen Theaters, denn wer Ehre fahren lässt, wird nicht nur verzückt, sondern zumeist auch fantasievoller als seine nüchternen Mitbürger. Ohne Aristoteles‘ „Goldene Mitte“ oder Epikurs „kluges Maß“ jedoch, soviel gestehe auch ich zu, endet schandvoller Hedonismus früher oder später vor den Toren des Hades, also nicht am Fuße des Olymps oder in den Armen der Musen.

Euer musisch-maßvoller Hedonist und Freund der Schande, Satorius

Russels Gute-Nacht-Geschichte: Mit vier Stunden ins Glück

Wenn auf Erden niemand mehr gezwungen wäre, mehr als vier Stunden täglich zu arbeiten, würde jeder Wissbegierige seinen wissenschaftlichen Neigungen nachgehen können und jeder Maler könnte malen, ohne dabei zu verhungern, und wenn seine Bilder noch so gut wären. Junge Schriftsteller brauchten nicht durch sensationelle Reißer auf sich aufmerksam zu machen, um wirtschaftlich so unabhängig zu werden, dass sie die monumentalen Werke schaffen können, für die sie heute, wenn sie so weit gekommen sind, gar keinen Sinn und keine Kraft mehr haben. Menschen, die sich als Fachleute für eine besondere wirtschafts- oder staatspolitische Phase interessieren, werden ihre Ideen entwickeln können, ohne dabei im luftleeren akademischen Raum zu schweben, was der Arbeit der Volkswirtschaftler an den Universitäten so häufig einen wirklichkeitsfremden Anstrich gibt. Die Ärzte werden Zeit haben, sich mit den Fortschritten auf medizinischem Gebiet vertraut zu machen, die Lehrer werden sich nicht mehr erbittert bemühen müssen, mit routinemäßigen Methoden Dinge zu lehren, die sie in ihrer Jugend gelernt und die sich in der Zwischenzeit vielleicht als falsch erwiesen haben.

 

Vor allem aber wird es wieder Glück und Lebensfreude geben, statt der nervösen Gereiztheit, Übermüdung und schlechten Verdauung. Man wird genug arbeiten, um die Muse genießen zu können, und doch nicht bis zur Erschöpfung arbeiten müssen. Wenn die Menschen nicht mehr müde in ihre Freizeit hineingehen, dann wird es sie auch bald nicht mehr nach passiver und geistloser Unterhaltung verlangen.

 

Bertrand Russell (1872 – 1970), Lob des Müßiggangs, S.30f (1957)


All human activity is prompted by desire.

[…]

The desires that are politically important may be divided into a primary and a secondary group. In the primary group come the necessities of life: food and shelter and clothing.

[…]

But other desires kept them [@Satorius: „the humans“ as a spices are driven by those „infinite“, secondary desires, and are moreover led by passions like excitement, hate and fear] active: four in particular, which we can label acquisitiveness, rivalry, vanity, and love of power.

[…]

I think every big town should contain artificial waterfalls that people could descend in very fragile canoes, and they should contain bathing pools full of mechanical sharks. Any person found advocating a preventive war should be condemned to two hours a day with these ingenious monsters. More seriously, pains should be taken to provide constructive outlets for the love of excitement. Nothing in the world is more exciting than a moment of sudden discovery or invention, and many more people are capable of experiencing such moments than is sometimes thought.

 

Interwoven with many other political motives are two closely related passions to which human beings are regrettably prone: I mean fear and hate.

[…]

You might regard Mother Nature in general as your enemy, and envisage human life as a struggle to get the better of Mother Nature. If men viewed life in this way, cooperation of the whole human race would become easy. But schools are out to teach patriotism; newspapers are out to stir up excitement; and politicians are out to get re-elected. None of the three, therefore, can do anything towards saving the human race from reciprocal suicide.

[…]

You may have been feeling that I have allowed only for bad motives, or, at best, such as are ethically neutral. I am afraid they are, as a rule, more powerful than more altruistic motives, but I do not deny that altruistic motives exist, and may, on occasion, be effective.

[…]

I would say, in conclusion, that if what I have said is right, the main thing needed to make the world happy is intelligence. And this, after all, is an optimistic conclusion, because intelligence is a thing that can be fostered by known methods of education.

 

Bertrand Russell (1872 – 1970), Nobel Lecture – What Desires Are Politically Important? (Stockholm: 11.12.1950; Link zum Volltext)



Hört, hört – gut gebrüllt Herr Philosoph!

Diesen beiden klaren wie bissigen Analysen eines weisen wie spöttischen Mannes möchte ich sofort schlicht und unkritisch zustimmen. Das aber scheitert ebenso rasch und so frage ich mich unweigerlich, beinahe noch reflexartig: Ja, aber…?! Warum kann etwas so Offensichtliches so offen und unverblümt ignoriert werden? Wie kann man, können wir als arbeitende Bürger, also zugleich als potentielles Opfer und potentieller Überwinder, derart demütig einen zivilisatorischen Zustand erdulden oder zumindest versiert verdrängen, vielleicht sogar selbstverleugnend gutheißen? Ist nicht die Wirklichkeit unserer (wirtschaftlichen) Welt weit komplexer, nicht so simpel zu abstrahieren und zu kritisieren, die Lösung damit doch nicht so trivial – 4 Stunden? Oder vielleicht – flüstert ungefragt die zischende Stimme des fatalistischen Verschwörungstheoretikers suggestiv fragend aus den dunklen Regionen des Großhirns – sind SIE so mächtig, kompetent und effizient, dass diese zählbaren Wenigen leichterhand die unzähligen Vielen manipulieren und letztlich kontrollieren können?

Stop! – genug wild und gefährlich gefragt und überhaupt: SIE?! Zudem kann jede echte Antwort, insbesondere eine, die als gelebte Konsequenz nicht weniger als echten Mut darstellt, mit spitzfindigen bis stumpfen Fragenkaskaden aus dem existenziellen Off heraus besudelt werden. Dabei steckt in Russells zwei ausdrücklichen Antworten politisches Potential für unsere (zukünftige) Zeit, zeugen seine beiden betrachteten Texte zudem zugleich von Klar-, Weit- und Hellsicht. Er beschreibt geradezu prophetisch die Tendenzen, die den persönlichen Alltag vermutlich vieler und die politische Praxis sicherlich fast aller Bürger in (kapitalistischen Post-)Demokratien auch im 21. Jahrhundert noch immer prägen: Multiple Vertrauenskrise, insbesondere gegenüber Politiker, Journalist, Lehrer und Wissenschaftler (Priester sind immerhin raus; Bänker/Manager bisweilen drin; aber man ist ja so vergesslich dieser Tage), die Liebe zur Macht, heftige Ökonomisierung, Rivalität, (Selbst-)Ausbeutung, Entfremdung, Habgier, Zerstreuung(s-Sucht), Furcht (nunmehr vor Terrorismus und etwas weniger vor verfeindeten Ideologien) sowie Hass und Eitelkeit. Diesem durchaus biblisch klingenden Heer aus Dämonen gesellen sich einige für Russell notwendig unbekannte Bonus-Monster (bspw. Populismus und Renationalisierung, Klimawandel und Ressourcenpeaks, Globalisierung und Konsumismus) hinzu und gemeinsam trotzt das Pack den bereits erkämpften zivilisatorischen Errungenschaften; vereint attackieren diese Teufel all die unschätzbar wertvollen Annehmlichkeiten unserer Lebenswelt, von denen regulierte Arbeit, politische Teilhabe, Kultur und Kommunikation sowie weitreichende Selbstbestimmung und (innere wie äußere) Sicherheit nur die im Zitat thematischen Güter einer langen Liste an historischen Errungenschaft sind.

Aber vor allem untersucht Bertrand Russell in seiner Rede und in seinem Werk auf einer breiten Basis von (Geistes-)Wissenschaften (Psychologie, Soziologie, Politik und Pädagogik, meine ich gewittert zu haben, wobei Mathematik, Philosophie und Logik sicher unterstützen) die positiven Möglichkeiten, der dunklen Seite der Geschichte entgegenzuwirken, ist also tatsächlich mutig und wagt den politischen Entwurf: In der Tradition von Humanismus und Aufklärung stehend und vom Sozialismus verführt, psychologisiert Russell zunächst wie gelesen und kommt dabei letztlich zu dem Schluss, dass Erziehung und Bildung sowie eine daraufhin ausgerichtete Neuorientierung von Schule, (medialer) Öffentlichkeit und Politik den weiteren Weg der (Post-)Moderne anleiten sollen.

Dass dabei die Ökonomie bestenfalls zweitrangig ist und somit im Bruch mit Marx eine ökonomische Politik angenommen wird, werte ich mal als inhaltlichen Kompromiss zwischen Idealismus und Pragmatismus; zumal die Folgerungen ähnlich, wenn auch gewaltloser ausfallen als noch bei Marx: Reform vs. Revolution – der ewige Zwist. Wie dem auch sei, auch in einer Welt des Diktats durch Kapitalien bleibt Bezugspunkt jeder konkreten Utopie notwendig der Mensch, mithin also das Dilemma von Menschheit und Mensch, Kollektiv und Individuum, Phylogenese und Ontogenese. In diesem Hinblick sieht Russell den Fortgang der Menschheit dann gewährleistet, wenn die Entwicklung des Menschen durch Erziehung und Sozialisation über (Schul-)Bildung hin zu adulter Autonomie führt und schließlich im (utopischen) Ziel der Russellschen Argumentation kulminiert: Intelligenz!

Ergo setzt er mit seiner Strategie dort an, wo ernstliche Widerstände der hurtigen Herausbildung von Intelligenz im Wege stehen und fordert deshalb, den (beruflichen) Alltag so umzugestalten, dass wir allesamt wieder Lust an intrinsisch motivierter Selbstvervollkommnung bekommen, überhaupt nur wieder bekommen können. Denn nur wer lustvoll lernt statt kunstvoll zu konsumieren oder angestrengend zu arbeiten, schult seine Intelligenz – kontinuierliches Denken macht halt (leider) einzig klug. Indem wir höchst hypothetisch mit nur noch vier Stunden entschieden weniger arbeiten und damit mehr Freizeit haben, kann ein jeder diesseits und jenseits von Schulen und Universitäten seine Talente entdecken und entwickeln – spielerisch, ohne Hast, Druck und Stress. In Teilzeit, satt und zufrieden wird der befreite Mensch auch nicht mehr so sehr vom Bedürfnis nach Rausch und Zerstreuung geplagt – so zumindest Russell, wohingegen ich da anderer Ansicht bin.

Eingerahmt und bewirkt wird die simple Maßnahme, die Arbeitszeit generell auf vier (oder weniger) Stunden zu begrenzen, was wohl nicht nur zufällig mit den von Marx seinerzeit errechneten vier Stunden an notwendiger Arbeit gepaart wurde, von einer ganz besonderen Politik. Denn die von Russell präferierten Maßnahmen und Konzepte erzeugen bei mir eine recht kunterbunte Liste an Attributen: Humanistisch, aufklärerischen, sozialistischen, liberal, demokratisch, Politik und einem sicherheitspolitischen Geflecht aus Institutionen, deren Wirken den analysierten (Grund-)Bedürfnissen, Motiven und Leidenschaften des Mängel- und Gängelwesens Mensch Rechnung trägt. Heißt so viel wie: Wir verkappten Jäger können uns austoben, Sex haben, kämpfen, tanzen und was wir sonst so wollen, wobei uns gemäß Russell Wissenschaft und Technik schon effektiv weiterhelfen und gewähren dem Naturwesen qua sozial reibungsfreiem Triebleben sozialen und globalen Frieden.

All diese Schritte führen laut Russell letztlich beim befriedigten sowie hochgebildeten Individuum zu einer erwarteten Einsicht, die übrigens seinerzeit zu seinem Leidwesen von den sog. Moralisten als eigennützig („selfish“) gebrandmarkt wurde, dass es rational betrachtet am vernünftigsten ist, jenseits von partiellen Gruppendynamiken immer auf die größtmögliche Gruppe und sein Handeln auf ihre Interessen auszurichten. Denke also nicht an deinen kleinen Klan, sondern an die ganze Gattung und ihre Probleme, was konkret bedeutet: die Menschheit und insbesondere ihren globalen Kampf mit der Natur. Dieser gemeinsame Kampf, Kooperation insgesamt speist sich ihrerseits aus positiven, im Text nur relativ kurz angesprochenen Aspekten psychologischer Anthropologie: Altruismus, Mitleid und die zentrale Intelligenz. Wenn die Menschen also nur glücklich sind, alle Bedürfnisse von Staat und Wirtschaft befriedigt werden und ihrem naturgegeben Schatten politisch Rechnung getragen wird, dann herrschen Solidarität, Kooperation, Frieden und bringen Arbeit, Kultur, Wissenschaft zum erblühen. Am Ende der hier höchstens angedeuteten Utopielogik steht dann ein ideales „Parlament der gebildeten Egoisten“, das die Welt der Menschheit im allgemeinen und den Menschen, also sich selbst, im besonderen verwaltet und regiert. Diese demokratische bis republikanische Herrschaftsform steht unter einer angenommen, aber unangenehm unklaren, irgendwie monistisch imaginierten Perspektive von Gemeinwohl und vervollkommnet die Geschichte auf europäische Art – well done, Bingo, et voilà!

Utilitarismus und Liberalismus, Demokratie und Sozialismus mal eben szientifisch grundiert und flux vereint, schön harmonisch konvergiert, fast ohne alle die Dialektiken und Widersprüche. Das funktioniert so leicht, weil nämlich das Naturwesen Mensch technologisch und bildnerisch absolut in sich versöhnt wird und sich selbstbestimmt wie sozialverträglich perfektioniert. Der Rest ist unsere Geschichte geworden und von heutiger Warte hat sich einiges positiv in Richtung der Russellschen Ideale entwickelt; ebenso sind aber einige seiner dystopischen Negationen weiterhin wahr und überdies selbstverständlich auch vieles Singuläres, Unerwartetes passiert. Netterweise will ich hiermit nur grob zusammenfassend und vage angedeutet Kritik an der Russellschen Position üben, die in Hinblick auf ihren naiven Positivismus, ihre Vagheit (ist womöglich dem Medium geschuldet), die massiver Unterschätzung von Ökonomie und der (für ihn unvorhersehbar sogar digital und viral gewordenen) Kapital-Globalisierung einige offene Flanken böte.

Zurück also zum Positiven, nunmehr zu den Gelegenheiten der Gegenwart, denn wie eingangs betont, stimme ich der Tendenz nach Russells zu: Bestmögliche Bildung macht notwendig den Anfang und der Rest kommt dann später schon ganz von selbst. Wohlwissen um die chronologische Paradoxie von Henne und Ei und eingedenk der idealistischen General-Abstraktion finde ich hierbei insbesondere eine Idee persönlich sehr reizvoll, nämlich Alltag und Beruf so auszurichten, dass diese den eigenen Bedürfnissen und Fähigkeiten sowie deren steter Befriedigung und Entwicklung dienen. Einen solchen zivilisatorischen Luxus können sich heutzutage viele von uns durchaus eher gönnen als zu Russells Lebzeit.

Dennoch, selbst ein verhaltenes Dankeschön in Richtung unserer global betrachtet recht eigennützigen Version von liberalem Kapitalismus kommt mir im Angesicht der globalen Zustände nicht so recht über die Finger in die Tasten auf den Schirm. So stehen wir mit unserer post-industriell avancierten Digitalwirtschaft wohl, wenn zugegeben weltweit auch nur punktuell, national bis regional, historisch an dem bedeutsamen Punkt, an dem vielleicht erstmals in der Weltgeschichte ein unfassbares Ausmaß menschlichen Potentials fern von reproduktiven und damit repetitiven Tätigkeiten freigesetzt worden ist und (~exponentiell) zunehmend noch freigesetzte werden wird. Automatisierung und Produktivitätssteigerung machen die Menschen frei zu gehobener Arbeit, befähigen ihn zu allerlei kulturellen und intellektuellen Aktivitäten. Diese Transformation spüren wir heute umso stärker, was wohl auch keiner der viele Verwalter, Künstler, Forscher, Lehrer, und Coaches anzweifeln; all die geistig dienstleistenden Arbeitnehmer, lange geschult und breit gebildet, bringen täglich ihre Intelligenz auf Touren und damit in die Gesellschaft. Die Tertiarisierung der Wirtschaft sollte ein unbestreitbarer Beleg für die Existenz einer avancierten (Wissens-)Wirtschaft und damit das Vorliegen einer wichtigen Prämisse von Russells utopischer Argumentation sein, wie eine Vollendung von Industrie und Technologie auch bei Marx‘ und vielen anderen zur utopischen Pforte stilisiert wird.

Diesem Trend entspricht im Bereich der (Aus-)Bildung, eine immer höhere weltweite Alphabetisierung und sukzessive Akademisierung der Bevölkerung. Wissenschaft und Forschung, inklusive der angeschlossenen angewandten Technologie (Heckler & Koch, Google, JPMorgen Chase und kapitalistische Konsorten), erzielen in jeder Hinsicht heftigste Wachstumsraten und repräsentieren damit gegenüber klassischeren Wertquellen wie Kraft, Geschicklichkeit und Rhetorik einen überproportional großen Anteil der globalen Wertschöpfung. Exponentiell gedacht, wird es zukünftig zunehmend rascher vorangehen in dieser Richtung. Roboter und künstliche Intelligenzen entfesseln und potenzieren nunmehr nicht mehr nur in der Fantasie die menschliche Arbeitskraft; wovon Generationen in ihren Büchern und später Filmen träumten, umgibt uns wie selbstverständlich im Alltag und gibt uns historisch gesehen an Magie grenzende Fähigkeiten. Aber nicht nur das, auch die Basis stimmt, denn dank Arbeitsteilung und Produktivitätssteigerung werden potentiell genug Lebensmittel hergestellt, dass niemand mehr Hunger leiden müsste. Aktuell kann ich den nötigen altruistischen Willen und alles zu dessen Verwirklichung nötige, wie eine ideale Logistik, den notwendigen radikalen Technologie- und Kapitaltransfer, die Befriedung sozialer wie militärischer Konflikte sowie eine Heilung psychischer wie physischer Krankheiten, nur hier in meinem Text und auch nur für wenige Zeilen voraussetzten. Deswegen begnüge ich mich mit dem faktischen und verlasse das fiktionale: Subsistenz-Arbeit bindet nur noch einen Bruchteil der Arbeitleistung und in unseren Breiten ist die Versorgung mit Lebensmittel so gut, wie es sich Russell nur hätte wünschen können.

Wobei ich den moralischen Gedankenabschluss nicht unterdrücken kann, dass Marketing und weitere professionelle Verwerflichkeiten die Menschen zur guten alten Völlerei verleiten: Erst der Flatrate-Fressflash bei McDonalds oder beim x-ten all-you-can-eat/all-inclusive Ereignis, dann die Gegenmaßnahmen wie Magenschlingen, Diätpillen, dazu passende Diät-Programme, Light-Produkte (man beachte die womöglich systematisch bedingte hohe Anglizismen-Quote) und einige der neusten Ess-Ideologien. Solcherart pervertiert könnte das Subsistenz-Ideal kippen und in ein Dekadenz-Real stürzen. Dennoch will ich meine Russellsche Utopielaune nicht trüben und positiv mit seiner liebenswerten Position umgehen.

Kulturbudgets und die Quantität an kreativen Erzeugnissen, um noch eine weiter erfreuliche Facette kurz und zuletzt zu schneiden, erzielen seit Jahrzehnten riesige absolute wie relative Zuwächse und haben dabei hohe Wachstumsraten, wenn sie auch nicht vergleichbar zu den hartexponentiellen Raten von (Digital-)Wirtschaft und Wissenschaft sein dürften. Die Qualität der Produkte in Kunst und Kultur bleibt, grobschlächtig und unparteiisch gedacht, ebenso außen vor wie die schlechterdings freche und damit unzulässige Frage, ob das bisher entwickelte objektive Fakten oder subjektive Fiktionen sind.

„Eigentlich würde ich ja gerne mal A (Yoga machen) oder B (Arabisch & Französisch lernen), aber mit meinem (Vollzeit-)Job, der Familie und meinen Steckenpferden: X (Vivarium),Y (Fahrrad) und Z (Lesen/Schreiben) bin ich voll ausgelastet. Das kostet mir leider zuviel, vor allem zuviel von meiner Lebenszeit!“, ist ein sicherlich nicht ganz und gar ungewohnter Gedanken. Für alle, die mit ihm sympathisieren, klingt der Slogan Russels (und meine notwendige Ergänzung) sicher gut an: „Nur 4 Stunden Arbeit (und das bei vollem Lohnausgleich)!“ Voller Nutzen, wenig Kosten bringen den homo oeconomicus in uns zum Jubeln. Denn der Mangel sitzt ihm immer im Nacken, treibt ihn vor sich hin und kerkert ihn ein. Da sitzt er nun in seinem dunklen kleinen Kabinett und zählt und kalkuliert und eruiert. Dabei scheut er je nach Temperament mehr oder weniger die Investition von Energie, Geld und Zeit. Solcherart limitiert erwirbt sich der gediegene Haushälter des Lebens kaum neues Inventar für sein Oberstübchen, zumal er ohne ein ordentliches extrinsisches Motiv in einer grauen und leidenschaftslosen Welt schon mal garnicht darüber nachdenkt loszulegen. Da zerstreut er sich doch lieber wie gewöhnlich und konsumiert unterdessen brav allerlei Produkte; dafür hat er ja immerhin 8+ geschuftet, damit er es sich so richtig gut gehen lassen kann!

Polemisch bis in die Satzzeichen, zugegeben, aber der argumentative Kern bleibt klar und plausibel: Solange die öffentlich-private Doublette aus Konsumismus und Erwerbsarbeit, katalysiert durch Unmengen an freiem Kapital und ausgestattet mit den nötigen Produktionsmitteln, einen Gutteil der Bevölkerung in Schach halten darf, herrscht gemäß Russell politischer Handlungsbedarf. Das ist definitiv der Fall, in welchem Maße mag ich nicht quantifizieren, qualifizieren kann ich es hingegen ausreichend. Der Lohndruck lockt und lethargiert zugleich. Was also tun?

Aller Voraussicht zum Trotz bleibt ein wichtiger Faktor in Russells Gleichung außerhalb seines Definitionsbereichs und der Wert der Gleichung stimmt deshalb vielleicht derzeit in seinem prognostizierten Betrag, von Intelligenz, Arbeitskraft, Kreativität und dergleichen mehr, nicht jedoch im erwarteten Vorzeichen; obwohl er doch durch Marx sensibilisiert gewesen sein dürfe, unterschätzen die Texte (Ironie mal ignoriert) die strukturelle und damit überindividuelle Kraft des Kapitals. Zumal es im digitalen Zeitalter mächtige Alliierte, eine zusätzlich künstliche Dimension und Repräsentanz in Hard-, Soft- und Wetware erhalten hat. Die Myriaden an Maschinen und Millionen von Programme dienen dabei deterministisch, einflussreiche bis gewöhnliche Mensch aus fraglicheren Gründen. Hier jedenfalls verfängt das Bildungsideal als Lösungsstrategie nicht, denn das Kapital absorbiert alles hocheffizient, setzt dabei aus Widerständen und Spannungen sogar Energie frei, die es kurzerhand kommerzialisiert. Bedenkt man zudem noch das institutionelle Gerippe, das sich der Kapitalismus gleich einem schützenden Exoskelett zu- und angelegt hat und attestiert überdies, dass Bildung zunehmend warenförmiger und berufsbezogener wird, könnte man rebellisch werden. Vollbeschäftigungsdogmatik, Wettbewerbsideologie, Wachstumslogik, Leistungslust und Exportüberschüsse tun ihr übriges und schon war Russells Traum eine Geschichte unter vielen und alles andere als Geschichte, vergangen, verflogen, dahin.

Eine entscheidende Frage ist und bleibt schlussendlich unbeantwortet: Wie beginnen und sodann den Übergang gestalten? Solange Bildung nicht notwendig und hinreichend zu multipler, insbesondere emotionaler Intelligenz einer kritischen Masse an poltischen Akteuren führt, heilt und versöhnt sie gleichsam keineswegs. Bei seinem idealistischen Wahlprogramm, angenommen es würde denn überhaupt ernstgenommen und glaubhaft gegenfinanziert, würden wohl viele Menschen Russels Partei für neue, gerechtere Lebenspraxis in das UN-Parlament entsenden, wenn es sie denn beide eines Tages gäbe und man dann nicht gerade besseres, spannenderes und schöneres zu tun hätte. Bevor ich jetzt also der Verführung erliege, zu resignieren oder zu theoretisieren, also nicht mehr nur einem verblichenen Utopiker möglichst nett zu huldigen und seine Aktualität abzuklopfen, sondern womöglich noch missmutig oder übermütig beginne, zu verunglimpfen und zu schimpfen, gar eigene Utopien zu entwickeln, mich somit zwischen Reform und Revolution entscheiden müsste – lass ich es lieber und überlasse die Geschichte(n) sich selbst!

In neuer, ungeahnter Schreibwut, Euer Satorius

 

#MO2-4 @ The former-walking/never-ending/now-cycling blog

Wie würde wohl ein untoter Blog klingen, der gerade zu seinem unerwarteten Nachleben erwacht ist, nachdem er fast ein Jahr lang scheinbar tot gewesen, vor sich hin verweste und dabei regungslos nur so dalag? „Wrahh“, „Ouuhhh“, „Mrahhh“ kommen wohl nicht in Frage, was aber dann? „Klick, Klack, Hack, Hack“, eventuell, oder „100100 10001110 100010 11 0“, womöglich sogar: „%#*&7!!“ – wer mag, außer mir, darüber spekulieren: niemand?!

Jedenfalls und damit zum allenfalls vorhandenen Wesenskern dieses Textes, finde ich schreibend nach Quanzland zurück; das zwar weit jenseits des Zeitpunktes, an dem die Metatext-Redaktion noch Hoffnung hierauf hatte, dennoch und immerhin: es geschieht! Gerade jetzt und genau hier passiert es: die Wiedererweckung eines stillgestellten und totgeglaubten Textes; die Fortsetzung einer abgebrochenen Spur im Urschlamm; die Rückkehr in ein Reich von Schein und Schemen, wo Chimären sich von neuem erheben und Netz und Nerven durchwabern!

Klingt absurd, ist somit folglich als Wiedereinstieg absolut angemessen, entspricht aber in mehrfacher Hinsicht keineswegs der (digitalen) Wirklichkeit: Der Blog war definitiv still, aber Quanzland deshalb nicht tot; hinter der stillen Oberfläche tobte eine Krieg von Bots und Skripten, wurden zum Erstaunen aller inhaltlich wie ästhetisch vermutlich desintereessierte Benutzer registriert; das Leben aller wie mein Leben pulsierte und schoss wilde Triebe; auch ohne hiesige Dokumentation wurde (Welt-)Geschichte geschrieben, aufwendig und prompt manipuliert und letztlich doch wieder plump vergessen.

Wohlwissend, dass DSGVO hin oder her das Netz nicht vergisst, möchte ich, fragmentarisch wie eh und fabulierend wie je, wieder aufmerken und aufmerksam machen. „Auf was und/oder über was?“, mögt ihr fragen, werte aber fiktive wie loyale Leserschaft: Inhalte, Inhalte und nochmals Inhalte! Wild, wahllos, wahrlos und willkürlich zuglich werden sie sein, banal bis trivial, zufällig und ephemer – ach, wie freu ich mich hierrauf! Bestenfalls werden die Beiträge wieder bedeutungslos, im Unfall vielleicht auch mal gut, schön und vielleicht sogar gelegentlich wahr; philosophisch, ästhetisch, politisch und kulinarisch sowie bisweilen sogar touristisch wirds allemal.

Nun, bevor ich uns perverserweise auf einen chronologisch geraden oder systematisch runden Weg durch textlose Vergangenheit, die nahe Gegenwart oder gar die kommende Zukunft begebe, gibt es lieber einen würdigen Quer-Einstieg: Ein einst gegründetes, aber qua Textscheintot nie weiter tradiertes Format verdient es, den ersten Schuss auf Euer Bewusstsein abgeben zu dürfen.

Willkommen zurück in Quanzland mit einem Trip-Tychon. Drei Radreisen, drei Bilder, damit ein relativ neues und erstes der quanzlandgefährdenden Hobbys: Das Fahrradfahren bzw. -wandern (und fotografieren der dabei gemachten Funde)!


Große Dhünn(-talsperre) nahe Kürten. Breitengrad: 51.074834 & Längengrad: 7.234914 [Mai 2018]

Die Siegauen zwischen Bonn und Troisdorf. Breitengrad: 50.77322 & Längengrad: 7.115907 [April 2018]

Steinbruch bei Rodges nahe Fulda. Breitengrad: 50.560808 & Längengrad: 9.603582 [Mai 2018]


Womöglich bekommt das ganze Thema „(Fahrrad-)Abenteuer“ irgendwann eine eigene und damit neue Kategorie bzw. genauer ein Thema, ähnlich wie Literatur und bildende Kunst, Philosophie und Wissenschaft, Politik oder Kochen das bereits kryptisch betitelt vorgemacht haben; zunächt jedoch floriert und firmiert es im Format Lichtrausch unter dem Banner der sogenannten Mystischen Orte. Nach einem vagen namentlichen Einstieg vor Äonen und in einer Phase des Siechtums nehme ich diese Serie nun wieder auf und belebe sie mit Bildern besonderer Orte.

Prächtige Plätze werden bebildert und gelegentlich beschrieben, Orte, mystische Szenen, aus einer fernen und doch so nahen Welt, deren Namen bedeutungslose Erfindungen bedeutsamer Menschen zu sein vorgeben und viele Geister verwirren. Die Welt war, ist und wird sein; die Länder und die Geschichte(n) sind nur menschengemachte Etiketten – schwarz auf weiß, auf flüchtigem Thermopapier gedruckt und schnell vergessen, verschoben, verdrängt, verändert, verbessert. Kommet und staunet ihr Jünger der herrlichen Heimat (= „Nahe Welt, die schön ist“ – nicht mehr, gern weniger) und huldigt der nationalen (= „Geografischer Herkunftsbereich der Bilderzeugnisse“) Naturschönheit!

Mit abenteuerlich-ästhehtischen Grüßen aus dem former-walking/never-ending/now-cycling blog, Euer Satorius


P.S. @ Metatext-Redaktion (auch wir leben noch, allen Widrigkeiten zum Trotz!): Ähnlich wie im Eröffnungsartikel „Gottfrieds Gruft“ stehen mit „#MO2-4“ Bilder wirklicher Begebenheiten und Plätze im Fokus der Beiträge. Das sind soweit die harten Fakten, wobei deren Dokumente unbestritten bloße Abbilder (und bald auch, Zitat Satorius: „Ab-bewegt-Bilder“, Ab-Videos sein werden) sind und lediglich der Einladung dienen, sich selbst ein Bild zu machen. GPS, Ortsnamen und Zeitstempel sollten den potentiellen Gast außreichend orientieren.

Unähnlich zum Eröffnungsartikel ist hingegen der Stil und wird das auch weiterhin bleiben: divers, different, diffus, debil, dilettantisch. Denn die weiche Fiktion, der metatextuelle Rahmen also, in dem die Mystischen Orte (#MO) ihre Auftritte zelebrieren, bleibt notwendig ein offener; weswegen eine thematische Festlegung für das Format auch konsequent unterbleibt.

Thematisch offen zum einen und hinsichtlich der Formate klar ist zum zweiten: #MO gehört zum Ober-Format Lichtrausch und liegt quer zum Format Originale – lebendiger Sinn, kaum durch Strukturen zu faßen. Da es sich hier nämlich immer um eigene Inhalte dreht, gilt das Motto: Raritäten der Orginalität bestenfalls, Nichtverletzung des Urheberrechts wenigstenfalls.

In dieser zweiten, gleich dreifachen Ausgabe von Lichtrausch feat. Mystische Orte war der (himmelschreiend unrpoduktive) Klient, nach langer Pause (sog. „low-quantity period„) mal wieder ansehnliche Quelle der Inhalte (sog. „highquality content„) in Form von Bild und Text. Über die Qualität des Wiedereinstiegs möge das Publikum urteilen, wir sagen auf jeden Fall lauthals und verbindlich: „Spitze Satorius, weiter so! Wir freuen uns auf Massen zu managenden high-quantity & long-period, high-quality content (sog. „Inhalt„).“

Für diesen ersten von Satorius neuen Lebenszeit-Konkurrenten zu Quanzland und damit den Dingen, die er uns und ihnen, werter Qualitätsleser und werte Qualitätsleserin, neuerdings bei weitem vorzieht, gilt überdies, dass wir in Zukunft von der hier für das Format nur zufälligen Thematik „Wilde Trips“ angeblich noch einiges hören werden. Ebenso soll mit „Lebensräume“, also der Beschäftigung mit Vivarien (Aquarium, Terrarium, Paludarium etc.), eine weitere der vielfältigen Einfältigkeiten unseres Autors thematischer Teil dieses Blogs werden.

Unser thematisch buntes und divers formatiertes Quanzland nimmt diese zwei neuen Facetten gewiss gerne in sein Kaleidoskop an Sinn, Unsinn und Irrsinn auf. Weiteres in allen diesen angedeuteten Richtung folgt bisweilen und in Abhängigkeit von Satorius Produktivität.

Demütigst und vorfreudigst grüßt Sie, Ihre Metatext-Redaktion

Auf, auf zu neuen Inhalten: Quanzland feiert den 3. Geburtstag!

Erstmalig nach dem ersten, halbjährigen Feiertag haben wir es geschaftt: Wir sind pünktlich, fast zumindest! Pünktlich genug jedenfalls, um Quanzland zu feiern, und vor allem hoffentlich noch rechtzeitig genug, unseren lieben Satorius wachzuküssen – oder doch besser: wachzurütteln und anzutreiben.

Was aber ist in der zwischenzeit passiert? Der Zeitgeist hat um sich gegriffen und Satorius aufs heftigste infiziert. Seither tut er es den Massen gleich, ist populär geworden – STOP, Nein! – populär ist hier nichts, aber das stand sowieso nie zu erwarten. Jedenfalls hat er sich anderen Projekten verstärkt zu- und damit von uns und Quanzland abgewandt: Er hat konsumiert, statt zu reflektieren; produziert statt persifliert; genossen statt gelitten; deflektiert statt diskutiert – ja, er hat sich zurückgezogen aus dem Nicht-Ort „Quanzland“.

Stellen Sie sich einmal vor: Es gibt da eine Utopie und niemand geht hin. Was also passiert mit einer Utopie, wenn niemand sie wahrnimmt, niemand sie erlebt oder gar belebt? Wird sie dadurch mehr oder weniger von dem, was sie ist, ein Nicht-Ort oder wäre es nicht eher zu erwarten, dass sich Utopien eigentlich nicht um die Lebenswelt und ihre lästigen Bewohner, uns sog. Menschen, scherrt?

Solltet Sie sich jetzt fragen: Bitte, was?! Auch wir haben uns das eine Zeit lang gefragt, denn solche Ausführungen und Ausflüchte durfte wir uns anhören, als wir seinerzeit unsere Pflicht erfüllen wollten, eigentlich immer noch wollen, nämlich Satorius zum Schreiben und Quanzland damit zum Blühen zu bringen. Vollends vergeblich waren diese unsere Mühen im letzten halben Jahr, sodass wir uns bei der traditionellen wie unvermeidlichen Bilanz im Folgenden ein wenig ernüchtern müssen. Dennoch lassen wir zunächst die Korken krachen und wünschen Ihnen und Satorius, aber auch uns selbst:


Herzlichen Glückwunsch zum 3. Geburtstag Quanzland!

wünscht die gesamte Metatext-Redaktion


Wie anlässlich der letzten Jubiläen eingeführt, wird auch dieses Jahr wieder hart quantifiziert und zuvor qualifiziert, oder so ähnlich:

Es ist weniger gewachsen, wie eingangs schon auseinandergesetzt, dennoch ging es etwas voran im Text. Kulinarik als Thema hatte es neben den Formenten Originale und dem neuen Text-Slow-Food am schwersten im vergangenen Jahr; ansonsten blieb alles wie gehabt, die drei Kernthemen Kunst, Wissenschaft und Politik haben zusammen mit ihren geneigten Formate fast proportional zugelegt.

Soviel und sowenig in Worten, Quanzland hingegen ausgedrückt in zuverlässigen Zahlen sieht derweil dann so aus:


Thema (+0)       Anzahl der Beiträge: 185 (+29)       Format  (+0)

Fiktionale Kleinode   96 (+16)

Text-Fast-Food   84 (+20)

Denkwelten   49 (+10)

Lichtrausch   40 (+5)

Originale   22 (+0)

Diskurse der Nacht   28 (+7)

Kulinarik    21 (+1)

Quanzland-Zeitgeschehen   18 (+2)

Lyrik-Alarm   18 (+4)

Metatext   14 (+4)

 

NEU: Text-Slow-Food   2 (+1)

Rätsel-Runde   1 (0)


Quantitativ schwach und auch qualitativ ein wenig unoriginell, so müssen wir schweren Hirns und Herzens bilanzieren. Dennoch ist uns noch ein Quantum Hoffnung verblieben, dass Satorius aus dem tiefen, mehr noch, aus dem betäubungsmittelschwangeren Dornröschenschlaf des krassierenden Neo-Biedermeier wieder erwachen wird.

Dafür gibt es derzeit doch mindestens ebenso viele Gründe gute wie schlechte Gründe. Für eine gediegene Weltflucht spricht so vieles wie für ihr Gegenteil: erstarkende Populisten, Autokraten und anderweitig kaputte Machthungrige überall von West bis Ost; ein Europa, das nicht so recht weiß wohin und wie, mit seinen Werten und Institutionen; eine Welt am ökologischen Abgrund, und man fragt sich sinnend, sind wir schon krass genug für den Sprung oder doch noch zu feige füür 2°. Andererseits: neue politische Bewegungen zwischen all dem altem Schorf und damit eine neue Bewegung an alten Seilen, ein seichtes Schauklen in den verfänglichen Netzen weltweit; globale Vernetzung und solidarische Kooperation zwischen (Welt-)Bürgern; breitbandigeres Internet und hochauflösenderes Fernsehen ermöglichen mit den vielen neuen Geräten smartere Unterhaltung; und wenn das nicht reicht, kann man sich und andere damit auch noch kräftig optimieren, wovon letztlich ja doch wieder alle profitieren werden. Alles Gute, alles Schlechte ist wie immer, vorhanden und verfügbar, sofern man teilnimmt am täglichen Theater. Wenn man den partizipiert, votiert und sich engagiert … wenn, denn, dann … irgendwann, irgendwo …

Deswegen lautet unser Schlachtruf für das kommende Jahr, so kämpferisch das Pazifisten eben zusteht, zutiefst modeab- und weltzugewandt: „Tot den verfluchten Einhörnern mit ihrem verdammten Glitzer, lang lebe der Terrorismus“ – oder sachlicher, zudem verständlich: „Raus aus den Feder und auf zu neuen Inhalten!“

In froher Erwartung metatextuell zu begleitender Inhalte, Ihre Metatext-Redaktion

#MCE8 @ Tschüss, Dystopia – Hallo, Utopia

So also fühlt sich ein ganzes, langes Quartal in der rauen Wirklichkeit (oder für philsophisch ambitionierte Monisten: Realität) an. Nun reicht es aber damit, genug der Fakten und verkappten Fiktionen; also bin ich heimgekehrt, hier nach Quanzland. Abermals kehre ich solcherart zurück in die technologische Freiheit, flüchte aus Dystopia und begrüße Utopia.

Viel ist unterdessen passiert dort draußen, in der Mitwelt von Quanzland, direkt vor der Haustür, in der nahen und fernen Nachbarschaft sowie in der großen weiten Welt: England scheidet sich, die Türkei und Amerika radikalisieren sich je für sich, Frankreich erfindet sich mal eben neu und die werte EU hofft mitsamt ihrer wachen Bürger auf eine gemeinsame Zukunft. Von Flucht, von Krieg und vom Terrorismus und all deren Folgen für Freiheit und Sicherheit, Leib und Leben zu sprechen, wäre bei meinem Temperament und dem daraus resultierenden Denkstil nur noch zynisch möglich. Denn für einen angemessenen Umgang, also aus sachlicher Distanz differenziert oder mit empathischer Nähe umsorgt, ist hier nicht der Ort; und ist jetzt nicht die Zeit. Deshalb werde ich schlichtweg schweigen. Wo immer wieder Menschen sterben, sollten Worte bisweilen ruhen. Genug also mit Komödie in diesen Belagen, wo selbst Tragödie verblasst und bloßes Wort bleibt. Ebenso hält es übrigens – nur noch soviel – der in Quanzland berühmt und auch ein wenig berüchtigt gewordene, zugleich global total ignorierte Gedankenterrorist: Er schweigt seit Wochen, scheut die Aktion im Zeichen seines sanften, beinahe humanen Terrorismus. Der gemeinsame Begriff, die verbindende Kategorie ist derart blutverschmiert, angstdurchtränkt und hassverfemt, dass Gleichklang unmöglich wird.

So sitze ich nun da, hölzern und starr, hocke am Rande dieses digitalen Raumes und blicke hinaus in eine lebensfeindliche Kraterlandschaft. Mein vielstimmiges, multimediales Sprachrohr säuselt so leise wie es staubbedeckt ist und nur zaghaft getraue ich mich, meine Stimme erneut zu erheben. Es herrschen schwere Zeiten für Spötter wie mich, allemal dort draußen in Dystopia aber auch hier drinnen in Utopia. Die Fenster und Türen zur Welt bleiben bisweilen offen, werden durch mich sogar denkbar weit aufgehalten, denn sonst würde Quanzland zur Einzelhaft in einem Gefängnis names virtueller Eskapismus.

Mit demütig-deprimierter Dissonanz, Euer Satorius


Maurits Cornelis Escher (1898 – 1972), Other World (1947; Lithografie)

Zwei Seelen und viele Laster

Nach einem geschenkten Touri-Urlaub in einer künstlichen, eigentlich menschenfeindlichen Umwelt und einer anschließenden Mangen-Darm-Grippe, die definitiv auch als menschenfeindlich einzustufen ist, bin ich wieder online, wieder schreibwillig.

Zwischenzeitlich habe ich viel gelesen, soviel wie seit langem nicht mehr. Darunter war sogar mal wieder ein Klassiker der Weltliteratur: Robert Louis Balfour Stevensons Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde. Und Dank der Gemeinfreiheit gibt es diese beiden hier: Literatur-Link deutsch & englisch.

Ein Buch, in dessen Zentrum ein Phänomen und ein Motiv stehen, welche die Literatur nicht nur der Moderne umtreiben. Diese atmosphärisch dichte Erzählung beschreibt im Kern nicht einzig den (psychopathologischen) Doppelgänger, sondern vielmehr die Vorstellung einer fragmentierten Persönlichkeit und eines Charakters, der sprunghaft, dynamisch, mit sich selbst uneins ist; zudem stellt sie einfühlsam die Erkenntnis dar, dass Rausch und Hedonismus ohne ein wie auch immer geartetes Korrektiv auf ein schiefe Ebene führen, die heraus aus der bürglichen Mitte hinein in einen Sumpf von Verbrechen und Selbstzerstörung führen. Im Untergrund und der Nebensache werden diese beiden Komplexe noch mit einer technik- bzw. wissenschafteskritischen Haltung verbunden und heraus kommt eine kriminalgeschichtlich angehauchte Novelle von verdientem Weltruhm.

Deshalb lasse ich nun lieber den gelobten Autoren und eine größere Passage aus besagtem Werk für sich sprechen und lese, und lebe weiter meines Offline-Weges, Euer Satorius


Ich wurde im Jahre 18** geboren, von der Natur mit ausgezeichneten Anlagen beschenkt; ich war fleißig und legte Wert auf die Achtung der Klugen und Guten unter meinen Mitmenschen. All das hätte, wie man wohl annehmen konnte, eine Bürgschaft für eine ehrenvolle und glänzende Zukunft geboten. Tatsächlich bestand der schlimmste meiner Fehler in einer gewissen unbezähmbaren Neigung zur Fröhlichkeit, eine Veranlagung, die für viele das Glück bedeutet hätte. Ich aber fand es schwer, diese Neigung mit meinen hochfliegenden Wünschen, mein Haupt stolz zu tragen und in der Öffentlichkeit eine mehr als gewöhnliche feierliche Miene zu zeigen, in Einklang zu bringen. So kam es, daß ich meine Vergnügungen verheimlichte, und als ich die Jahre der Selbstbesinnung erreichte, anfing, mich umzuschauen und mir Rechenschaft über meinen Fortschritt und meine Stellung in der Welt abzulegen, stand ich bereits einer tiefen Zwiespältigkeit in meinem Dasein gegenüber. Manch einer hätte sich wohl sogar noch solcher Regelwidrigkeiten, wie ich sie mir zuschulden kommen ließ, gerühmt, doch bei den hohen Zielen, die ich mir gesteckt hatte, betrachtete und verbarg ich sie mit einem fast krankhaften Gefühl der Scham. Es waren also eher die hohen Forderungen meines Strebens als eine besondere als Erbe eines großen Vermögens Untiefe meiner Fehler, die mich zu dem machten, was ich war; und die Trennungslinie, die in meinem Innern jene Sphären von Gut und Böse schied, die des Menschen Doppelnatur trennen und verbinden, war bei mir sogar noch tiefer gezogen als bei der Mehrzahl der Menschen. Angesichts dieser Lage wurde ich dazu gedrängt, tief und unerbittlich über jenes harte Lebensgesetz nachzudenken, das einerseits die Wurzel der Religion ist, andererseits eine der stärksten Quellen des Elends bildet. Obwohl so im Grunde ein Doppelwesen, war ich doch in keiner Hinsicht ein Heuchler. Beide Seiten meines Wesens waren mir tödlich ernst. Es entsprach nicht weniger meinem wahren Ich, wenn ich alle Hemmungen beiseite warf und mich in Schande tauchte, als wenn ich in der Helle des Tages mich um den Fortschritt der Wissenschaft oder um Milderung von Sorgen und Leiden mühte. Es traf sich, daß die Richtung meiner wissenschaftlichen Forschungen, die ganz auf Mystik und Übersinnliches zielten, diese Erkenntnis des ewigen Kampfes in meinem Innern stärkten und erleuchteten. Mit jedem Tage und von beiden Seiten meiner Geistigkeit, der moralischen und der intellektuellen, näherte ich mich so ständig jener Wahrheit, durch deren teilweise Entdeckung ich zu einem so fürchterlichen Schiffbruch verdammt worden bin: daß der Mensch in Wahrheit nicht eins, sondern wahrlich zwei ist. Ich sage zwei, weil der Status meiner eigenen Erkenntnis nicht über diesen Punkt hinausgeht. Andere werden folgen, andere werden mich auf dieser gleichen Linie überflügeln. Ja, ich wage anzunehmen, daß die Menschheit sich schließlich bewußt werden wird eines ganzen Gemeinwesens vielfältiger, inkongruenter und unabhängiger Existenzen.

 

Robert Louis (Balfour) Stevenson (1850 – 1894), Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde, Kapitel 10 (1886)