Politische Wahrheit zwischen, über, unter Himmel und Erde

Dabei konnte uns das, was das politische Leben eigentlich ausmacht, garnicht in den Blick kommen: Nicht die große Freude, die dem schieren Zusammensein mit seinesgleichen innewohnt; nicht die Befriedigung des Zusammen-Handelns und die Genugtuung öffentlich in Erscheinung zu treten; nicht die für alle menschliche Existenz so entscheidende Möglichkeit, sich sprechend und handelnd in die Welt einzuischalten und einen neuen Anfang zu stiften.

Denn worum es mir in diesen Betrachtungen ging, war zu zeigen, dass dieser politische Raum trotz seiner Größe begrenzt ist; dass er nicht die Gesamtheit der menschlichen Existenz und auch nicht die Gesamtheit dessen umfasst, was in der Welt vorkommt. Was ihn begrenzt sind die Dinge, die Menschen nicht ändern können, die ihrer Macht entzogen sind und die nur durch Lügen und Selbstbetrug zum zeitweiligen Verschwinden gebracht werden können.

Die Politik kann die ihr eigene Integrität nur wahren und das ihr innewohnde Versprechen an die Menschheit, dass sie die Welt ändern können, nur einlösen, wenn sie die Grenzen, die diesem Vermögen gezogen sind, respektiert.

Wahrheit könnte man begrifflich definieren als das, was der Mensch nicht ändern kann. Metaphorisch gesprochen ist sie der Grund auf dem wir stehen und der Himmel, der sich über uns erstreckt.

Hannah Arendt (1906 – 1975), Wahrheit und Politik – Eine philosophische Studie, 1:17:38 – 1:19:13 (1969, Rundfunkbeitrag – Direktlink)


Zwischen Himmel und Erde, in der Mitte der Dinge, motivisch sogar zwischen Text und Welt, lebt der Mensch. Ich, du, er, wir, ihr, sie und es, das gnadenlose Geschehen und das unermessliche Universum, das unheimliche Unbewusste und der geniale Gedanke. Alles tendiert zur Tat, vita passiva unterliegt vita activa.

Diese treffsicheren Schluss-Betrachtungen zur metaphysischen Grenze und Verortung ihrer politischen Philosophie sind ein solcher Geniestreich des tätigen Geistes, der dem genius loci gleichermaßen Tribut zollt, wie er seine Wurzeln tief in den Boden unserer nacherzählten Lebenswelt treibt. Vom Himmel herab in die Herzen der Menschen holt Hannah Arendt die Sterne der Politik, gibt sie in die Hand von Gutmenschen; integer und engagiert, kompetent und interessiert sowie vor allem sozial sollen sie sein, sollen wir Bürger einer guten Demokratie bestenfalls sein.

Wer sich hier ein klein wenig überfordert fühlt, der hebe die Hand und werfe mit ihr den ersten Wattbausch kräftig in die einschlägige Richtung: Moralmonster. Der kleine Mann soll große Geschichte schreiben, soll Gratwanderer und Silver-Surfer eines irgendwie gearteten sozial-strukturalistischen Idealismus werden. Rebell trifft Reformer, Vater und Mutter kondolieren dem General und der Nihilist gratuliert dem Fundamentalist zur soliden Basis. Die wenig verdeckte Forderung zum Guten, Schönen und Wahren wirkt trotz aller Sympahtie wie ein allzu große Synthese nach dem historischen Tiefpunkt, wie die große Äquivalenz nach absoluten Differenzerfahrung. Schnell und salopp wird eine gigantische Brückenkonstruktion zwischen Leben, Politik und Denken geschlagen, quasi die eierlegende Wollmilchsau der praktischen Philosophie (nach Auschwitz) ersonnen. Der implizite Imperativ gipfelt in aktuelle individuelle Überforderung, statt und nach historischer kollektiver Überforderung: Gleichzeitg mit beiden Beinen fest auf dem Boden der politischen Tatsächlichkeit stehen, sich bewährend, die Bedinungen des politische Möglichen kennend und weise erwägend, zugleich aber ebenso mit dem Kopf hoch in den Wolken wahrer Tugend schwelgen und empathisch mitfühlen, mitleiden, miteinander leben – puh! Viel zu versöhnen für eine jede Epoche und jedes Menschenleben erst recht. Einfach mal vom Narren zum Magier werden, als Gruppe gar Menschehit den Kursus der Alchemie durchlaufen – Schwarz, Weiß, Rot, fertig ist der Tod!

Warum dabei naturalistisch fehlschließen, wenn man kurzerhand narrativ-normativ hochstapeln kann? Ausgehend von einer gesunden Basis aus Humanismus und positiver Psychologie landet Arendt letztlich dann doch bei der guten alten Wahrheit, um die es fast allen Philosophen (leider) am Ende ihrer Argumentation und ihres Lebens bestellt ist. Wahrheit findet sich auch bei ihr, ganz klassisch, außerhalb, vor und also jenseits des Menschen wieder, draußen in der weiten Welt, tranzendent entrückt. Aber eben nicht entrückt, denn ein Zipfel Wahres ragt hinein in die Immanenz, wird zum griffbereiten ethischen Strohhalm für die gute Form politischer Praxis und die eigene Parteinahme. Der Genuss der gemeinsamen Aktion lockt den politischen Aktionisten zum Handeln in der Gruppe, lässt ihn aber im Ideal nicht blind werden für die Widerstände seiner Um- und Mitwelt, fern von Herde und Heimat, und schult Geduld und Gelassenheit, Passion und Eifer gleichmaßen. Demütig zieht der politische Ideal-Soldat aus, die Wahrheit zu suchen, vor der er seine politische Aktion heiligen lassen kann. Und Gott segnete den Menschen und gab ihm die Erde mit all ihren Tieren und Pflanzen, Bergen und Flüßen, Wäldern, Wiesen und alle dem Leben darinnen zur Pflege und Obhut, überließ sein Schöpfung der Führung seiner geliebten Kinder, auf das sie sich seiner Aufgabe als würdig erweisen. Amen!

Wie sähe wohl die aktuelle Zwischenbilanz inpuncto Weltpolitik und bzgl. des erreichten Niveaus an Zivilisation und Fortschritt aus, das uns von Seiten welcher Wahrheitsintanz und ihrer Jünger auch immer ausgestellt werden würde? Oder was würde Frau Arendt zu Trump, Netanjahu, Putin, Erdogan und der arabischen Rasselbande sagen, wie fände sie wohl Frontex, Orban, AFD und Co. KG? Ich überlasse die Antwort großzügig Äther und Archiv, überlasse ihre Beantwortung der Globalgeschichte, aber vor allem der persönlichen, politischen Aktion wie nicht zuletzt sondern zuerst der öffentlichen philosophischen Reflexion – auf die Plätze fertig, Schluss aus!

Euer gottesunfürchtiger Kurz-Diskurser (mitten in) der Nacht, Satorius

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