Ich mag Nietzsche, stillistisch fast durchweg, inhaltlich in Teilen, aber die Verse an die Melancholie fühlen sich nicht nur unangenehm an, sondern sie klingen ebenso, holpern und schlingern in weiten Passagen. Ob das gewollte Formvollendung oder ungewollter Textunfall ist, bleibt offen für tiefere Analyse und läd ein zur Interpretation. Ich jedenfalls vertiefe nur, was mich zu fesseln vermag und das ist nicht Nietzsches Hymnus an die düstere Göttin des Schwermuts aus dem Jahr 1871.
Dieses schwerfällige Gedicht eines ansonsten herausragenden Formenschmieds stand im Zentrum eines der sehr rar gewordenen Gedankenanschläge des weiterhin unbekannten Text-Terroristen. Dieser scheint den Willen zum Widerstand entweder verloren oder in andere (noch) unsichtbare Bahnen gelenkt zu haben. Quanzland hat nunmehr derart brisante innen- wie außenpolitische Probleme zu meistern, da konnte der zuvor so präsente Rebell kaum noch mit öffentlichem Interesse für seine Subversionen rechnen, zumal seine Protest-Aktionen zuvor schon seltener und insgesamt unambitionierter geworden waren.
Ich bezweifle nachdrücklich, dass er mit dieser Textauswahl ernstzunehmende Leserzahlen oder gar überzeugte Anhänger gewinnen wird, gebe ihm in meiner Rolle als Multiplikator aber gerne die Chance dazu. Denn wer weiß schon, was im perversen Hirn eines Staatsfeindes Abstruses vorgeht, nachdem er eine pubilizistische Pleite nach der anderen zu verarbeiten hatte, hat und haben wird: Wird er zukünftig wieder neuen Mut schöpfen und wie erfolgreich wird er mit was zurückkehren? Hat er sich unterdessen radikalisiert und neigt deshalb erstmalig zu physischer Gewalt statt wie bisher nur zu psychischer Penetranz? Was soll das Ganze eigentlich bringen, sind das nicht vergebliche Mühen in einem Land wie unserem? Warum nicht mal was populäreres, was auch der kleine Mann verstehen kann?
Mit einer Reihe Fragezeichen zum Abschied winkend, Euer Satorius
An die Melancholie
Verarge mir es nicht, Melancholie,
Daß ich die Feder, dich zu preisen, spitze,
Und daß ich nicht, den Kopf gebeugt zum Knie,
Einsiedlerisch auf einem Baumstumpf sitze.
So sahst du oft mich, gestern noch zumal,
In heißer Sonne morgendlichem Strahle:
Begehrlich schrie der Geyer in das Thal,
Er träumt vom todten Aas auf todtem Pfahle.
Du irrtest, wüster Vogel, ob ich gleich
So mumienhaft auf meinem Klotze ruhte!
Du sahst das Auge nicht, das wonnenreich
Noch hin und her rollt, stolz und hochgemuthe.
Und wenn es nicht zu deinen Höhen schlich,
Erstorben für die fernsten Wolkenwellen,
So sank es um so tiefer, um in sich
Des Daseins Abgrund blitzend aufzuhellen.
So saß ich oft, in tiefer Wüstenei
Unschön gekrümmt, gleich opfernden Barbaren,
Und Deiner eingedenk, Melancholei,
Ein Büßer, ob in jugendlichen Jahren!
So sitzend freut‘ ich mich des Geyer-Flugs,
Des Donnerlaufs der rollenden Lawinen,
Du sprachst zu mir, unfähig Menschentrugs,
Wahrhaftig, doch mit schrecklich strengen Mienen.
Du herbe Göttin wilder Felsnatur,
Du Freundin liebst es nah mir zu erscheinen;
Du zeigst mir drohend dann des Geyers Spur
Und der Lawine Lust, mich zu verneinen.
Rings athmet zähnefletschend Mordgelüst:
Qualvolle Gier, sich Leben zu erzwingen!
Verführerisch auf starrem Felsgerüst
Sehnt sich die Blume dort nach Schmetterlingen.
Dies Alles bin ich – schaudernd fühl‘ ich’s nach –
Verführter Schmetterling, einsame Blume,
Der Geyer und der jähe Eisesbach,
Des Sturmes Stöhnen – alles dir zum Ruhme,
Du grimme Göttin, der ich tief gebückt,
Den Kopf am Knie, ein schaurig Loblied ächze,
Nur dir zum Ruhme, daß ich unverrückt
Nach Leben, Leben, Leben lechze!
Verarge mir es, böse Gottheit, nicht,
Daß ich mit Reimen zierlich dich umflechte.
Der zittert, dem du nahst, ein Schreckgesicht,
Der zuckt, dem du sie reichst, die böse Rechte.
Und zitternd stammle ich hier Lied auf Lied,
Und zucke auf in rhythmischem Gestalten:
Die Tinte fleußt, die spitze Feder sprüht –
Nun Göttin, Göttin laß mich – laß mich schalten!
Friedrich Nietzsche (1844 – 1900), Gimmelwald (Melnacholie), in: Fragmente 1869-1874 (Band 1 – Kapitel 15; 1871)