Sommerliche Abgründe

Der Konflikt zwischen der gesellschaftlichen immanenten und der universalen Ethik wurde zwar im Laufe der Menschheitsentwicklung schwächer, aber es bleibt doch so lange ein Konflikt zwischen diesen beiden ethischen Formen bestehen, wie es der Menschheit nicht gelingt, eine Gesellschaft aufzubauen, in der die Interessen der „Gesellschaft“ mit den Interessen aller ihrer Glieder identisch geworden sind.

Erich Fromm (1921 – 1993), Psychoanalyse und Ethik, S. 263 (1954)


Wenn denn alle Glieder überhaupt wüssten, was ihre wesentlichen Interessen und, mehr noch, ihre wahrhaften Bedürfnisse sind. Wer kann von sich behaupten, jene ominöse universale Ethik zu kennen und sich von ihr konsequent leiten zu lassen? Zumal, worin differenzieren sich „universell“ und „universal“? Vermutlich ein Bastard aus Hybris, Hypostase und Hysterie wie Platons höchste Idee des Guten, Kants Sittengesetz, ein beliebiger guter Gott oder bspw. die FDGO in unserer BRD. Ich jedenfalls bin da als Agnostiker bequemerweise intellektuell fein raus …

… allerdings mit dem diabolischen Lächeln des Moralisten wieder drin bei einer augenfällig rhetorisch überspitzten Gegenwartskritik im Geiste von Fromm, Jonas und Greta. So klage ich an und frage mit hallender Donnerstimme mein altes – immerhin in dieser Hinsicht beinahe alter – Ego: Muss ich mit dem Auto jederzeit überall hinfahren; brauche ich ein, zwei oder gar drei Flugreisen zum beliebigen Urlaubsort der Mittelstrecke – ach was, gönnen wir uns mal was -, die Kreuzfahrt als zweimonatige Weltreise; sind 150m² für drei Personen bei meinem sozialen Status noch angemessen; betreibe ich dutzende spannende, teure und aufwendige Hobbies und kaufe ich mir täglich dies oder das, gönne mir montalich jenes oder welches, was eben gerade meine ablenkbare Lust bindet, Begehren auf Eigentum weckt, mehr und mehr, obwohl ich jetzt bereits in Produkten und Waren versinke; verbrauche ich insgesamt meine Konsumgüter im Nu und werfe sie als Müll zusammen mit den etlichen schnelllebigen Gebrauchsgütern mit offer wie arglistiger, eingebauter Obsolenz oder minderwertiger Qualität zum billigen Preis achtlos weg; sollte ich zudem tatsächlich Tonnen an Tieren verwursten und vertilgen, Zucker, Palmöl, Soja und Weizen wegen die Wälder (brand-)roden und monokultivieren; ist es zuletzt wirklich unumgänglich pro Tag und Person Dutzende Kilowatt an überwiegend brauner Energie in Geräte und Maschien, Akkus und Bildschirme zu stecken, damit Bewegung, Information, Wärme und Licht uns überall hin begleiten?

(Geschellschaftlich immanenter) Chor: „Ja, Mann – genau dafür arbeite ich, Tag ein, Tag aus! Das ist mein Geburtsrecht und unsere normale Wirklichkeit, denn wir sind die Erste Welt! Wer gewinnt, nimmt sich seinen Gewinn – voll Stolz und mit gutem Recht… „

In Fromms hochgeschätzten Worten sowie meinerseits grob, ganz und willkürlich in den Blick genommen, ist die historische Realität, auf die obiges Fragengewimmel abzielt, wohl sowas wie die pessimistische Schattenseite unserer gesellschaftlichen immanenten Ethik in puncto globler Ökonomie und Ökologie. Wir versagen als Kosmumente ebenso wie als Weltgemeinschaft und damit als Haushälter der Erde in zunehmendem und frappierendem Maße, möchte man meinen.

(Geschellschaftlich immanenter) Chor: „Wären da nicht dieser verfluchte Klimawandel, das Artensterben, die Verwüstung, Überfischung, Vermüllung, all diese zufälligen Naturkatastrophen, wir könnten einfach so weiter machen wie die 666 (3000 Jahrhunderte Menschheitsgeschichte geteilt durch ~ 4,5 Generationen pro Jahrhundert) Generationen des Homo Sapiens vor uns. Aber nein, Schluss aus, wir nicht mehr, wir sollen verzichten, sparen und zurückstecken. Dabei sind wir doch so prächtig gewachsen, haben so viel Fortschritt gestiftet, Gerechtigkeit und Geist in die Welt gebracht, expandiert, kolonisiert und zivilisiert, uns seit der Renaissance und spätestens mit der Aufklärung scheinbar unaufhaltsam in Richtung universaler Ethik voranentwicklet – und jetzt, all die schöne Zivilisation soll nun schlecht sein, faul und madig in ihrem Kern, stehend auf tönernen Füßen und gebaut auf Sand? Pah! – wir sind Gottest Kinder und haben uns die Erde Untertan gemacht – Basta!“

Ihr vernehmt es ungeschönt: Mein Sommerloch war tief und mein Aufenthalt dort lang, ein asketischer Abgrund aus Verzicht, Grübelei und ökologisch-harmloser Zerstreuung liegt gähnend und klaffend hinter mir. Was sieht mein entsandeter Kopf: Der Amazonas brennt, Millionen Menschen flüchten, unterdessen beuten Populisten, Diktatoren und Oligarchen die Bevölkerung und die Umwelt weiterhin hemmungslos aus und spalten die Menscheit millionenfach, beim Handel tobt offener Krieg“, Europa ist längst keine Utopie mehr, sondern droht Geschichte zu werden.

Wenn ich solcherart böswillig die schlechten Nachrichten über das Weltgeschehen zusammenschreibe, und wirklich nur dann, höre ich bisweilen, aber ganz selten den (Gesellschaftlichen immanenten) Chor leise summen. Ansonsten bietet das Kleinod der privaten, zumeist heilen Spähre ein Antidot gegen als das bittere Gift das die (nachrichten)-mediale Kanäle pessimistisch-permanent vermitteln.

Trotzdem und deshalb harre ich aus, bleib auf dem Posten und glaube unbeirrt, dass individuelles Handeln und dessen utopische Veränderung eine notwendige Bedingung für analoge globale Veränderung ist; auch wenn das Individuum wie ich lediglich ökonomischen und ökologischen Idealen nacheifert und somit keine hinreichende Bedingung für besagte Veränderung darstellt. Denn es bedarf ebenso notwendig der politischen Aktion, ob als Reform oder Revolution – jedoch nicht durch mich: Ich diskutiere, informiere und multipliziere meine tagespolitischen Präferenzen und gehe schlussendlich wählen. Genug der Politik.

Der Rest ist politische Ökonomie, hätte Marx freudestrahlend attestiert, wenn auch in meinem Einzelfall betrachtet quantitativ und womöglich gar qualitativ unbedeutend. Dazwischen also übe ich diese sanfte Macht aus, bin frei und verantwortlich in meinem ökonomischen Handeln. Zeige mein Ethos durch meinen Konsum und meinen Lebenstil: Ich fahre weiterhin Fahrrad; essen so wenig Fleisch, wie es für einen dörflich durchsozialisierten Fleischfresser eben geht; bleibe mit meinen sieben Sachen zuhause, reise in der Region und höchstens europäisch, wo es zwar prinzipiell schön ist, aber das Wetter häufig beschissen; und finde somit höchstoffiziell und abschließend wohlbehalten und nur mäßig sonnengegerbt zurück nach Quanzland.

Mache mich gedanklich frei und lege die Füße hoch, beanspruchen hier doch weder gesellschaftliche immanente noch universale Ethik Geltung und Gewissen. Bestenfalls interessieren sie, schlimmstenfalls werden sie persifliert oder ignoriert. Aber draußen in der wirklichen Welt gelten andere Gesetze, vorortet jenseits und dieseits jedweder Ethik. Basale Tatsachen des Plausibilitätskalibers von: Wer im Sommer über seine Verhältnisse lebt, der hat im Winter nicht genug Vorräte zum Überleben; wer sein Haus vernachlässigt oder gar in Brand setzt, der wird obdach- und heimatlos; alles hat ein Ende, nur die Wurst hat Zwei.

Mit samstäglich Grüßen, insbesondere an alle gefallenen Idealisten und bösen Gutmenschen, Euer Satorius

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