Teil 1 – Wer es nicht lassen kann, sollte es nicht lassen

Er lässt es nicht, kann es nicht lassen! Wer bin ich, ihn aufzuhalten? Also Glückauf, munter weiter des Weges! Aber wo soll es eigentlich hinführen?

Nach den ersten Gehversuchen auf dem steinigen, langen Pfad zum noch namenlosen, unendlichen Roman bekommen wir heute einen ersten Teil eines neuen Kapitels zu lesen. Wie zuvor bei der ersten Version der Rückkehr des Fast-Magisters werde ich den Gesamttext in mehrere Teile zerhacken und nach und nach, Stück für Stück servieren. So wird der Textbrocken sicher bekömmlicher und vielleicht lässt er sich so besser verdauen.

Wieder gewinnen wir damit einen neuen Zugang. Ein anderer Blick schweift, andere Sinne erschließen sich eine Welt – ihre je eigene Welt. Bisher lernten wir neben der von Xaver Satorius, nur die Perspektiven von Yin und Yang kennen. Wer aber ist diese neue Figur aus der Feder des Dilettanten? Hat er dazugelernt oder nicht? Entsteht nun vielleicht sogar zaghaft so etwas wie eine Rahmenhandlung, oder begibt sich lediglich ein weiterer eigenständiger Handlungsstrang auf seinen ungewissen Weg in eine nebulöse Zukunft? Fragt und urteilt selbst, über Ruhe in Frieden.

Schaurig-schöne Lektüre, Euer Satorius

P.S der Metatext-Redaktion: Die älteren Ergüsse des Schreibgesellen finden sich in den vorhergehenden Beiträgen der neuen Unterkategorie Originale (Direktlink), da sie sonst in den tiefen des Archivs ungesehen verschwinden könnten. Aber Achtung, über 50 Seiten allererste Schreibexperimente lauern dort auf den unvorsichtigen Leser! Die Angaben in Klammern ordnen den Titeln ihre Kapiteldetails im Gesamtkontext des namenlosen Werkes zu.

Ein Neumensch im Ausnahmezustand (XS1)

Ein Sturm zieht auf (YY1 – V. 0.9)

Xaver mal anders (XS2)


Ruhe und Frieden

Erster Teil: Seiten 1 – 4

Die Sonne schickte sich soeben an, blutrot hinter den Ruinen der ehemaligen Wohntürme unterzugehen. Auf den Spitzen der erhalten gebliebenen Arkologien, die früher einmal zigtausenden Menschen eine Heimat geboten hatten, wuchsen nun Bäume und Pflanzen. Zusammen mit den Resten der kolossalen Architektur und den Höhenzügen der hügeligen Landschaft zeichneten sich die Silhouetten dieser jungen Wälder malerisch gegen den Horizont ab. Als Schatten lagen sie dunkel vor einem leuchtenden Himmel, der von Hellblau über Blassgelb bis Karmesinrot alle farblichen Nuancen und Abstufungen eines perfekten Sonnenuntergangs aufbot.

 

Sie genoss dieses Panorama, die besondere Situation. Sie war alleine hier draußen, hier oben, am Abgrund. Sie ließ sich während dieser wertvollsten Minuten des Tages von Frieden, Harmonie und Schönheit erfüllen. In der Umgebung gab es vermutlich nur wenige Menschen, denen es wie ihr vergönnt war, die Kraft dieses Anblicks in sich aufsaugen zu dürfen – zugleich atemberaubend und erholsam. So konnte sie Wärme, Energie und Zuversicht für die kommende Nacht tanken. Das war nötig.

 

Aus Erfahrung wusste sie, wie trügerisch diese idyllische Atmosphäre manchmal trotz des scheinbaren Friedens sein konnte; ein Wissen, ohne das sie sich weit tiefer hätte entspannen können. Vielleicht wäre sie sogar fähig gewesen, den Moment in meditativer Versenkung voll ausschöpfen zu können. Teilweise tat sie das hier und jetzt, aber eben nicht mehr als die zum Überleben nötige Anspannung ihr erlaubte. Da war im heraufdämmernden Zwielicht der nahenden Nacht – Friedenszeit hin oder her – natürlich entschieden weniger, als am lichten Tag.

 

Derzeit befand sie sich auf einer weiteren Beutetour durch eine weitere der vielen zerstörten Kulturlandschaften, die einst Zierde menschlicher Hochzivilisation gewesen waren. Sie wusste kaum noch zu sagen, die wievielte Region in ihrer Laufbahn sie hier gerade durchstreifte, ehrlicherweise eigentlich plünderte. Viel wichtiger war nämlich, dass hier wie anderswo Artefakte, Schätze und allerlei Botschaften aus der Vergangenheit nur darauf warteten, erst entdeckt und sodann geborgen zu werden – oder geplündert, was nur eine Frage des Blickwinkels war. Dinge und Informationen von unschätzbarem Wert lockten: Kleingeräte und Speichermedien, wertvolle Rohstoffe und Ressourcen, Kunstwerke sowie Dokumente und allerlei dekadenter Tand. All dies musste nur in Besitz genommen werden. Die handfesten Werte unter dem Beutegut konnte sie anschließend einträglich und problemlos verkaufen. Das nebenbei unablässig gesammelte Wissen und die gemachten Erfahrungen bereicherten hingegen ihren ganz privaten Schatz; und dieser wuchs weiterhin kräftig an.

 

Sie liebte die Zeit hier draußen, obwohl oder gerade, weil das Leben in der Todeszone so unvorhersehbar und abenteuerlich, so wild und gefährlich war. So ganz und gar verstand sie sich an diesem Punkt auch nicht. Es ging ihr wohl vor allem um drei Dinge: Freiheit, Autonomie und Stärke. Drei Werte, die zurzeit jedoch nur zu einem hohen Preis gelebt werden konnten. Stete Wachsamkeit war nötig, geistige Belastungen und physische Strapazen mussten duldsam getragen werden. Und trotz aller Erfahrung und Voraussicht ließen sich häufig auch Kämpfe nicht vermeiden. Auf diese folgten dann im Regelfall: Leid und Qual. Ein Duo, dem sie meistens sogar offen gegenübertrat – austeilen und einstecken, ehrenvoll und mit Würde. Ebenso hielt sie es mit Angst und Furcht; hier draußen ständige Begleiter, die sie mit einer grimmigen Lust am Nervenkitzel willkommen hieß. Blieben zuletzt Ekel und Abscheu, ein Duett, auf das sie gerne verzichtet hätte. Genau in beim Umgang mit diesen beiden Empfindungen befand sich ihre aktuelle Charakterbaustelle.

 

In der erfolgreichen Bewältigung der vielen widerwärtigen Eindrücke, die sich hier draußen unvermeidlich durch alle Sinne aufdrängten, lag das große Kontra ihres Daseins. Denn hier waren unsägliche Hässlichkeit, Übel und Disharmonie allgegenwärtig und aufdringlich gleichermaßen. Soviel zur Reflexion dachte sie zufrieden – ein bisschen Katharsis schadete ihrer Stimmung nie. Um all das, was hier auf einen einstürmte, gesund und munter zu überstehen, bedurfte es gründlicher Psychohygiene, zudem unerschütterlicher Charakterstärke und fester Gewohnheiten. Ihre Rituale und Regeln unterstützen sie bei dieser Aufgabe. Somit gab es – Manitu sei dank – regelmäßig solche Momente wie diesen: Schönheit, Ruhe und Harmonie beseelten zwei Mal am Tag ein kurzes Zwischenspiel, morgens und abends herrschte fast eine ganze Stunde Frieden in der Todeszone. Dadurch gewann sie Zeit und Raum für reichlich Muße und ein wenig Müßiggang, die während der restlichen Stunden des Tages kaum einen Platz fanden. Die übrigen, nicht mehr ganz 22 Stunden, kämpfte sie um Beute und ihr Überleben, von den sechs Stunden Schlaf mal abgesehen. So war es und das war ihr Alltag, bestätigte sie mental die Gegebenheiten.

 

Bald jedoch musste sie aufstehen und ihren Lieblingsplatz der aktuellen Tour – so hatte sie eben spontan beschlossen – räumen. An diesen Ort und die epische Atmosphäre dieser Situation würde sie sich noch lange erinnern, so hoffte sie inständig: Mit dem Hintern lässig auf dem Kraterrand, die Beine im Abgrund eines Vulkans baumelnd, hatte sie einen grandiosen Sonnenuntergang vor einem widerstreitend-schönen Panorama genießen dürfen, das seines Gleichen suchte. Nein, korrigierte sie sich, sie genoss das alles noch immer, in vollen Zügen; genau jetzt und genau hier.

 

Hierauf musste sie sich eine Zuflucht für die kommende Nacht suchen, für sich und ihren Mjuhlie, der sie auf Beutetour stets begleitete. Jener war derzeit schon fast voll beladen, mit den unzähligen Beutestücken der letzten drei Tage. Leider lockte ihr tumber Transportrobot durch seine Andersartigkeit Fauna wie Flora unvermeidlich an. Mit seiner unnatürlichen Geräuschkulisse, seinen seltsamen Gerüchen, vor allem durch seine aufdringliche Erscheinung fiel der Koloss aus Metall und Kunststoff unweigerlich auf. Deshalb war sie es bereits gewohnt, bei ihrer Rückkehr nach der Pause eine Schar neugieriger Wesen vertreiben zu müssen. Die schlichen dann gewöhnlich argwöhnisch um den Kubus herum, der mit seinen drei mal drei mal drei Metern Volumen kaum zu übersehen war, und mussten dann vertrieben oder beseitigt werden. Ihn würde sie daher zuerst und sehr gründlich verstecken müssen, danach konnte sie in der Nähe ein gemütliches Lager für sich selbst einrichten. Eine verlassene Höhle oder ein freies Gebäude wären ein perfekter Unterschlupf für die Nacht, fantasierte sie entgegen Erfahrung und Erwartung zugleich. Dann endlich konnte sie sich in Ruhe hinlegen, einschlafen und hoffentlich gut und intensiv träumen. Die letzte Nacht war gut gewesen. Ja, Träumen war ein toller Ausgleich zur Realität, wie sie in einer Todeszone herrschte.

 

Klar, sie war freiwillig hier, und ja, sie konnte mit ihren Fähigkeiten und ihrer Ausrüstung problemlos überleben – aber wofür die Nacht im Freien verbringen? Es würde unnötig viel, zumal vermeidbare Kraft und überdies wertvolle Ressourcen kosten. Nachts waren erstens weitaus mehr Jäger unterwegs als im hellen Tageslicht und zweitens wollte sie den erholsamen Schlaf nicht aufschieben. Diesen Verzicht wollte und konnte sie auch nur begrenzt technologisch ausgleichen. Sich mindestens sechs Stunden Schlaf zu verordnen, hatte sich bewährt, also würde sie versuchen, es fortzuführen. Eine der Grundregeln des Kampfes, des Denkens und der Natur gebot ihr, überall dort Energie zu sparen und sich zu regenerieren, wo und wann das möglich war. Sparsamkeit war hier draußen unerlässlich, auch wenn sie mit diesem Prinzip nicht immer so konsequent war. Was waren schon Regeln ohne Ausnahmen – genau, keine Regeln sondern Gesetze und mit diesen wusste sie wenig anzufangen.

 

Sobald die Sonne untergegangen sein würde, musste sie den doppelsinnige Ausblick hinter sich lassen, in dem Verfall und Wachstum kollidierten, Leben und Tod symbolisch miteinander rangen, dabei war gänzlich unklar, welche Seite auf lange Sicht die Oberhand behalten mochte. Derzeit führte die Wildnis offensichtlich und klar mit weitem Vorsprung vor der Zivilisation. Es verdunkelte sich zusehends.

 

Bald würde sie dem schwindenden Licht des vergangenen Tages den Rücken zukehren und in Richtung der kommenden Nacht davoneilen. Bei diesem Gedanken schaute sie instinktiv kurz über ihre linke Schulter und erkannte, dass sich die Nacht hinter ihr in einer Front tiefster Dunkelheit ankündigte, die vom östlichen Horizont bedrohlich und scheinbar rasch heranrollte. Von der mächtigen Orbitalverbindung, die vor dem Horizont liegenden, sonst so aufdringlich war, sah sie wenig mehr, als sporadisch gestreute, bunte Lichter, eingefasst von dunklen Konturen vor einer satten Finsternis. Das Territorium einer der seltsamen europäischen Mächte mit einem Stadtmoloch, dessen Namen sich ebenfalls nicht eingeprägt hatte – irrelevant.

 

Sie wendete den Kopf wieder zurück und blickte versonnen hinab in den klaffenden Abgrund direkt vor ihr und unter ihren Füßen, wie er sich kilometerbreit, kreisrund und hunderte von Meter tief vor ihr aufspannte: ein düsteres Loch voll schroffer Felsen, an den Spitzen erleuchtet von vereinzelten Sonnenstrahlen. Die Luft hier oben war merklich heißer und schmeckte sie nicht sogar ein wenig nach Asche und Schwefel, oder bildete sie sich das bloß ein? Der letzte dokumentierte Ausbruch lag sicher schon eine ganze Weile zurück. Die rund um den Krater üppig wuchernde Vegetation belegte das doch eindrücklich. Auch wenn sie sich den Namen dieses gewaltigen Vulkans gar nicht erst gemerkt oder vielleicht auch nur sofort wieder vergessen hatte, der Ausbruch lag sicher schon länger zurück. An die wirklich wichtigen Fakten erinnerte sie sich immerhin leidlich, wenn auch bisweilen etwas vage. Für eine gute Schätzung hatte es meistens gereicht.

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