Teil 2 – Ohne Worte viele Worte

Ruhe und Frieden

Zweiter Teil: Seiten 4 – 7

Sicherlich, sie konnte einfach ihre Rüstung aktivieren und auf eine Recherche in den Datenbanken ansetzen. Xentar würde das hinkriegen – so hießen sowohl das Model als auch die KI ihrer Technorüstung, denn sie hatte sich nicht die Mühe einer Individualisierung des technischen Bewusstseins gemacht. Sie beließ die vielen oberflächlichen Detaileinstellungen technischer Systeme gewöhnlich in ihrem Werkszustand; das war sicherer, robuster und störungsfreier.

 

Zurück zur Orientierung – der Name irgendeines Vulkans in irgendeiner Gegend war jedenfalls äußerst bedeutungslos für ihre Pläne. Wichtig war hingegen seine Lage, denn hier an dieser doppelten, geo-politischen Grenze hatte sie den nördlichsten Punkt ihrer aktuellen Route erreicht. Von hier aus wollte sie erst ostwärts reisen und dann nach Süden weiterziehen. Sie war gezwungen, die Richtung zwei Mal so drastisch zu ändern, weil sie sonst direkt in die fast immer umkämpften Grenzregionen spazieren würde, vom Vulkan mal abgesehen. Dort trafen Fronten aufeinander, zwischen die sie nie wieder geraten wollte. Im Norden lag eine zweite, für sie auch namenlose, europäische Macht mitsamt einer bevölkerungsstarken Lebenszone, ähnlich ihrem Verbündeten im Osten, der für den Schwenk Richtung Süden sorgte.

 

Vor allem gab es wegen eben dieser Nähe zur menschlichen Zivilisation dort vermutlich sowieso kaum Beute zu machen. Ihr Geschäftsmodell war auf endliche Ressourcen gegründet, die Beute stark begrenzt, deshalb aber sehr begehrt und entsprechend teuer.
So wahllos sinnierend gönnte sie sich noch ein wenig mehr dieser unendlich wertvollen Friedenszeit. Sie kam wieder zu sich, erfrischte ihre Energien, erholte sich mental und lud ganz nebenher zusätzlich noch Xentars Speicher auf. Die waren derzeit beinahe zu 100% aufgeladen, wie ein kurzer Blick auf eine simple Anzeige am linken Handgelenk ergab.
Da sie auf einer Beutetour sowieso nicht anspruchsvoll meditieren konnte, erlaubte sie sich vermehrt geistige Lässigkeiten. Sie ließ sich von ihren Gedanken treiben und triftete zufällig von Einfall zu Einfall. Zu einer Zeit, zu der sie sonst einen Sonnengruß entbot, war sie geistig in alle Winde zerstreut. Sie fokussiert alles Mögliche, nur nicht den Augenblick, schweifte vorsätzlich ab, sprang unmotiviert von Erinnerungen hinüber zu Emotionen, dann kurz weiter zu den Sinnen und wieder zurück.

 

Jetzt dachte sie schon wieder über das Leben in der Todeszone und die dort geltenden Gesetze nach.

 

Es konnte ja nicht schaden, auch in ihrer täglichen Horrorpause mental ein klein wenig zu trainieren. Sie dachte sonst so häufig wie möglich an ihre diversen Grundregeln, denn sie war überzeugt, dass Worte und Gedanken um so mächtiger wurden, je öfter sie gedacht wurden. Wenn diese Regeln ihr Überleben zu sichern halfen, waren sie wenigstens den spielerischen Versuch einer Sammlung und Vereinfachung wert. Es musste doch möglich sein, die unüberschaubare Vielfalt auf wenige Prinzipien zu verdichten, die sie sich anschließend als einzelne Wörter leichter merken konnte.

 

Sie fasste einen Vorsatz: Zukünftig würde sie weiter abschweifen, wollte aber von nun an auf nützliche Art nach und nach das wiedererinnern, was sie die Jahre über an Erfahrungsschätzen angesammelt hatte. Sie wälzte es ja sowieso immer mal wieder in Gedanken, also war es nur eine Frage der Zeit, bis sie alle Ideen beisammenhatte und das mit den einfach zu merkenden Prinzipien würde sie auch irgendwie hinbekommen, fügte sie sich ermunternd hinzu.

 

Ein bisschen Orientierung konnte auch nicht schaden, dachte sie sprunghaft und erinnerte sich mühselig an die entscheidenden Fakten: Dieser Landstrich war vormals als Eifel bekannt gewesen. Hier hatte es Jahrhunderte lang einen ausgedehnten Naturpark gegeben. Im Zuge der globalen Urbanisierung war die Kernregion zur Atmungszone erklärt und entsprechend kultiviert worden. Das Umland war, wie aller Grund und Boden außerhalb der globalen Naturlungen, immer stärker erschlossen worden, nur um dann schlussendlich so zu enden, wie es nunmehr fast überall aussah. Aktuell war der Großraum nämlich restlos entvölkert, wieder ganz und gar verwildert, eine waschechte Wildnis mitten in der Todeszone eben. Nach dem großen Knall hatten besonders der wiedererwachte Vulkanismus und schließlich die globalen Schrecken des unmöglichen Krieges der Region endgültig ihren Todesstoß versetzt.

 

Es war die Hobbyforscherin in ihr, die sich vor den Beutetouren solche praktisch meist zweitrangigen Hintergründe über die Orte aneignete, die sie später auf den einzelnen Etappen ihrer Route besuchen wollte. Da sie sehr vergesslich war, prägte sie sich die wenigen, wirklich wichtigen Tatsachen meist mehrfach ein. Deswegen war sie jetzt sogar ein klein wenig stolz auf ihre Erinnerungsleistung. Ihr Gedächtnis machte ihr häufig zu schaffen und war damit eine zweite Baustelle in ihrem Leben.

 

Gerade deshalb, so tröstete sie sich pragmatisch, tat sie alles, um ihr Bewusstsein zu schulen und ihren unruhigen Körper zu beruhigen – außer im Moment, gestand sie sich ein und geleitete ihr Denken weiter, in andere, neue Bahnen: Sie war in vielerlei Hinsicht Autodidaktin, an Leidenschaft und Akribie mangelte es ihr deshalb aber keineswegs. Zuallererst empfand sie sich jedoch als Kämpferin und Abenteurerin, als eine Frau der Tat, der Aktion und des Kampfes. Denken und Vernunft waren nur Mittel zum praktischen Zweck, nicht mehr aber auch nicht weniger.

 

Solche Momente der Selbstvergewisserung waren im Laufe der wochenlangen Streifzüge durch die Wildnis eine unerlässliche Form der Psychohygiene. Ohne ein soziales Gegenüber, lauerte hier draußen ständig die Gefahr, sich selbst im überwiegenden Alleinsein zu verlieren, schlimmstenfalls verrückt, wahnsinnig zu werden: Wisse wer du bist, was du willst und wie du handelst. Charakterfestigung und Selbstbestätigung zu betreiben, war hierfür ein sehr wichtiges Denkritual, Identitätsarbeit oder besser Selbstsorge das dazu passende Prinzip.

 

Nummer eins, der Anfang war gemacht, lobte sie sich verhalten. Sie verweilte noch ein paar weitere Minuten in ihrer zerstreuten und zugleich sammelnden Versunkenheit. Dabei versuchte sie sich vorsatztreu in der stummen Erinnerung der vielen Überlebensregeln und Grundsätze, die sie über die Jahre hinweg so ersonnen hatte. Sie fielen ihr spontan und auf Abruf nur spärlich ein, also musste sie geduldig mit sich sein. Zudem hatte sie so ihre Probleme damit, die paar gefundenen Erfahrungsschätze in Prinzipien umzudenken. Verallgemeinerung lag ihr nicht, nicht dass sie intellektuell überfordert gewesen wäre, aber sie mochte es überhaupt nicht, dem Besonderen ein Allgemeines vorzuziehen. Es war ihr an sich zuwider, dennoch erkannt sie für sich die Vorteile an und gelobt innerlich Besserung.

 

Sie ermahnte sich, ermunterte sich wieder zu Milde und Gelassenheit. Rasch entspannte sie sich und meditierte im Freistil, paradox und unkonventionell ging das vor sich: Erfüllt und verschont von weiteren Kaskaden wahlloser Eindrücken und kreisender Gedanken, die sich in einer endlosen Kette aneinanderreihten. Keines der Glieder vermochte besonders lange präsent zu bleiben, kaum der springenden Aufmerksamkeit wert. Sie war gleichzeitig gebunden und frei.

 

Zwischendurch kehrte sie immer wieder zurück in die wirkliche Welt, erfreute sich der phänomenalen Schönheit der Situation, in der sie sich gerade befand, genoss sie mit allen Sinnen. Sie konnte über den Krater hinweg bis weit in die Ruinenwüsten des Rheinlands schauen. Verschwommen erkannte sie im Norden noch den weiteren Orbitalkanal, um den herum das Herz der dortigen Lebenszone pochte. Der fast perfekte Sonnenuntergang, seine sanfte Wärme auf der Haut, die dynamische Mischung aus Natur und Kultur und ihre emotionale Reaktion darauf, die rauchige Luft und der säuselnde Wind, von dem die würzigen Gerüche des nahen Waldes herangetragen wurden, vermischt mit Noten von Verbranntem und Schwefel – ja, ganz sicher –, die Steine und die Kiesel, der Sand unter ihrem Hintern und der fast verschwundene Geschmack der Waldbeeren, die sie auf dem Hinweg gegessen hatte, all diese Empfindungen nahm sie dankbar und begierig auf.
Schlussendlich war sie befriedigt, war bereit für die beginnende Nacht. Sie fieberte vor allem bereits dem nächsten Tag entgegen, war auf seine Herausforderungen und Gelegenheiten gespannt, war schon voll Vorfreude. Hoffentlich ging die Nacht schnell vorüber, begleitet von angenehmen Träumen und ohne lästige Störungen, formulierte sie ein paar fromme Wünsche.

 

Ach, das geht schon, gab sie undiszipliniert nach – noch ein paar wenige Minuten durfte sie sich gönnen, sie würde auf dem Rückweg einfach ein bisschen schneller laufen.
Plötzlich donnerte ein urtümlicher Schrei aus weiter Ferne heran. Laut und knarzig dröhnte er trotz der sicherlich großen Distanz, die er zurückgelegt haben musste.
Ihre Gedanken brachen abrupt ab, so als wollte die Welt ihr kundtun, was sie von der eben gefällten Entscheidung hielt: wenig bis gar nichts. Sofort wurden Instinkte geweckt, augenblicklich und unweigerlich. Sie erwachten abrupt und regten sich mehr als nur zaghaft. Der Schrei erinnerten sie daran, ermahnten sie ja förmlich, sich nun endlich loszureißen, um einen sicheren Unterschlupf zu finden. Je länger sie damit wartete, desto schneller musste sie später sein, motivierte sie sich, ihre Laune zu überdenken. Und desto mehr Monster vertreiben, fügte sie zähneknirschend hinzu.

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