Ruhe und Frieden
Dritter Teil: Seiten 7 – 10
Also zuallererst: Wo hatte sie vorhin ihren Mjuhlie überhaupt abgestellt? Keine Ahnung! Oh nein, nicht schon wieder – seufzte sie innerlich und setzte daraufhin milde hinzu, dass sie ja immerhin nichts Lebenswichtiges vergessen hatte. Sie war halt einfach so: vergesslich.
Irgendwo hinter der Klippe und dem Wald auf dem Südosthang des Vulkans, soviel war wenigstens gewiss, würde er schon warten. Sollte sie ihn dort wider Erwarten tatsächlich nicht finden, würde sie einfach die Ortung Xentars zu Hilfe nehmen. Denn ohne ihr mobiles Lager, auch das war gewiss, konnte sie morgen nicht weiterarbeiten. Außerdem stand für den kommenden Abend die nächste Abholung der wertvollen Ladung an. Sie hatte nämlich in den letzten Tagen, mehr noch als auf den zurückliegenden Etappen, einen wirklich guten Schnitt gemacht. Bei der hiesigen Dichte an Lebenszonen verwunderte sie diese Tatsache noch immer, aber sie würde sich wohl kaum darüber beschweren. Ihre aufkeimende Sorge war sicher übertrieben, es ging fast immer gut.
Was sie an Kleinigkeiten im Alltag vergaß oder auch durch Pech anzog, machte sie mit Konstitution und Können locker wett. Falls die mal nicht ausreichten, half ihr das pralle Arsenal an hochkarätiger Technologie, das sie sich über die Jahre hinweg angeeignet hatte. Auf sich selbst gestellt überleben zu können, war schon mal gut, aber einen riesigen Fuhrpark und die erlesenste Ausrüstung als Bonus oben drauf, war noch besser. Derart moralisch gestärkt erlaubte sie sich entgegen dem Zeitdruck noch ein paar letzte Gedanken vor dem überfälligen Aufbruch.
Ihr Geschäftsmodell war gefährlich, dafür aber höchst einträglich. Mit den seltenen und begehrten Raritäten war sie vor Ort häufig Monopolistin, besonders auf den kleineren Märkten. Eine Situation, die sie genoss, und ein Vorteil, den sie gnadenlos ausnutze, indem sie horrende Preise verlangte. Reiche Schnösel gab es überall, auch wenn anfangs von ihnen nur ein paar wenige zu ihr kamen, reichte das meistens schon aus. Sie blieb einfach mehrere Tage am gleichen Ort und überließ den Rest der Eitelkeit und Geschwätzigkeit ihrer zufriedenen, gut vernetzten Kundschaft. Bald – ungefähr in einer Woche, schätzte sie spontan – sollte sie wieder genug Stücke angesammelt haben, dass sich eine solche Verkaufsaktion lohnte. Alte Standardtechnik und Rohstoffe veräußerte sie lieber an ihre üblichen, altbewährten Abnehmer, aber für Sammlerstücke und Kuriositäten war ihr jede mittlere Siedlung ein idealer Absatzmarkt. Je größer die Märkte und damit Siedlungen wurden, desto mehr Hände griffen in den Handel ein und das bedeutete im Endeffekt für sie nur eines: Gewinnminderung.
In die großen Lebenszonen, dorthin, wo man manchmal fast vergessen konnte, wie es um die Welt wirklich stand, ging sie prinzipiell nur noch zum Einkaufen und für wichtige Kundenkontakte. Die Weltflucht, die dort kollektiv zelebriert wurde, war für die meisten Überlebenden die neue Normalität geworden. Diese Verdrängung geschah aus leicht nachvollziehbaren Gründen, wie gerade sie besser wusste, als die Meisten. Sogar weit besser wusste, als ihr das trotz aller Härte manchmal lieb war. Dass es viele triftige Gründe dafür gab, der Welt den Rücken zuzukehren, Augen, Ohren und was sonst noch ging, mit angenehmen Reizen zu überfluten, machte daraus aber bei weitem keine Tugend. Nicht einmal eine zweckmäßige Strategie war es, um die Messlatte nicht direkt ganz hoch zu legen. Eines stand fest, sie mochte diese Orte nicht: Zu viel Schein, zu wenig Sein und keinen Sinn, witzelte sie philosophisch.
Man musste ziemlich rustikal und auch etwas morbid sein, wenn man hier draußen lebte, konnte jedoch im Gegenzug dafür so viel freier sein. Die mit dem Verlust an Sicherheit verbundene Bürde an Selbstverantwortung, die zum Überleben befähigte, nahm sie dafür gerne auf sich.
Kenne die sozioökonomische Welt, ihre Regeln, ihre Tücken und vor allem ihre Konsequenzen – durfte sie das noch als Überlebensregel gelten lassen? Nein, entschied sie spontan, dieser Bereich war für Menschen wie sie zweitrangig geworden und damit eher eine Empfehlung denn eine notwendige Regel.
So, Schluss jetzt – unterbrach sie sich ruppig. Nun war es wirklich so weit, nun musste sie endgültig aufhören, ihre Pause übermäßig auszudehnen.
Die letzten Sonnenstrahlen verkündeten das Ende des Tages und markierten damit den Beginn einer neuen Nacht in der Todeszone. Die Mauer aus Zwielicht, die ihr vorhin in der Ferne aufgefallen war, überrollte sie plötzlich von hinten und verdichtete sich bedrohlich vor ihr. Der Kraterkessel füllte sich mit Schwärze und alles darin versank in Schatten. Wie bei jedem Sonnenuntergang war damit der späteste Zeitpunkt erreicht, an dem sie noch sicher einen Unterschlupf finden konnte. Bei der unklaren Entfernung und dem schwierigen Terrain musste sie jetzt zu einem Gewaltmarsch aufbrechen. Gute 20 Minuten blieben ihr jetzt noch bis zum Ende der relativen Ruhe. Der Frieden würde bröckeln und schließlich brechen, auch und gerade hier, fern der Ruinenfelder in der grünen Wildnis, spätestens bei der Rückkehr zum Mjuhlie.
Also erhob sie sich, verließ geschmeidig ihre lässige Sitzposition am Rande des Abgrunds und glitt direkt schwungvoll in die Hocke. Kurz spannte sie sich – eins, zwei, drei Sekunden lang – und schnellte vom Rand weg nach oben. Aber sie sprang nicht bloß auf, kam nicht einfach nur zum Stehen, sondern drehte sich im Flug akrobatisch um ihre eigene Achse und landete sicher auf beiden Füßen in Laufrichtung vom Krater weg. Da sie mit den Beinen in Schrittbreite, komplett angespannt und mit leicht gebeugten Knien aufgekommen war, rannte sie blitzschnell los. Nicht nur das, sie schlug wirre Haken, duckte sich sporadisch und tänzelte, soweit das nebenher ging. Alles wirkte irgendwie chaotisch, scheinbar deplatziert, wie kindliche Übertreibung im wilden Spiel. In Wirklichkeit wärmte sie sich damit auf und spielte dabei ein paar Automatismen durch.
Sie brachte sich unterdessen in Stimmung für die nahende Nacht und beschwor ihre taktischen Ideale: Leidenschaft und Stärke, Eleganz und Schnelligkeit, niedriger und schwankender Schwerpunkt, Täuschen und Tarnen, Unvorhersehbarkeit und wenig Angriffsfläche, trotzdem stets zum Angriff bereit und präzise in der Attacke. So rannte sie dahin, auf ihre skurrile, infame Art und entfernte sich Meter für Meter, Kurve um Kurve von ihrem Ruheplatz an der Kante des Vulkankraters.
Bei ihrem Abgang vom Kraterrand hatte sie wohl ein wenig Geröll losgetreten. Nun hörte sie gerade noch im Davonrennen, wie die Steine polternd den Abhang hinunterrollten und wie der Lärm ihres Abgangs als dumpfe Schläge in den riesigen Kessel hineinbrandeten. Sie hielt aber nicht inne, lauschte nicht den verhallenden Geräuschen. Ob diese auf der gegenüberliegenden Seite ankommen würden oder nicht, war ihr während ihres Abgangs herzlich egal. Die bewaldeten Wohntürme am gegenüberliegend Nordwestrand des Kraters jedoch hatten sich mit ihrer satten Schwärze im markanten Kontrast zum leuchtend farbenfrohen Hintergrund tief in ihre Erinnerung gebrannt. Entgegen ihrer Hoffnung begannen diese lebendigen Lichtbilder nun langsam und unerbittlich in ihrem Gedächtnis zu verblassen – Schritt für Schritt. Das erbauende Gefühl, einen wertvollen Augenblick erlebt zu haben, blieb ihr jedoch erhalten, ebenso wie die Frische. Zuversicht durchströmten sie, sie füllte sich lebendig. Sie beschleunigte ihr Tempo und näherte sich zielstrebig der äußeren Kante des Kraterplateaus, hinter der einer Klippe lag. Nach dieser folgte ein erst heftiger, dann sanfterer Abstieg, der die Flanke des Vulkans hinunterführte.
Dort irgendwo musste ihr Mjuhlie auf sie warten – hoffentlich, denn ihre Erinnerung war in dieser Richtung weiterhin mehr als vage. Vielleicht sollte sie sich noch mal intensiver zurückerinnern: Derzeit hetzte sie noch durch kniehohe Pflanzen, aber die Dichte würde rapide zunehmen bis zur Klippe. Auf ihrem Weg dorthin würde sie die Ausläufer des ersten, jungen Waldes erreichen. Bis zur Kante und dem Steilhang, danach ging es erst richtig los. Tiefer Wald, mit allem was dazugehörte, erstreckte sich dort. Eine düstere, feuchtwarme Hölle aus Tieren, Pflanzen, Pilzen und Ungeheuern verschlang einen kleinen Menschen, der sich dort hineinwagte. Das Gefälle fiel auf der Ostseite des Berges bei Weitem nicht so heftig aus, wie auf den anderen drei Flanken. Zusammen mit den Spalten, heißen Quellen und Lavadurchbrüchen war die Strecke dennoch keineswegs zu unterschätzen. Es gab im gesamten Wald ausgedehnte Felder Ajaxfarn. Auf dem Hinweg konnte sie deshalb nur auf wenigen schmalen Wegen, wie durch Schneisen zum Gipfel gelangen. Passte man nicht höllisch auf oder war wie sie gepanzert, so waren tiefe Schnittwunden noch der angenehmste Ausgang einer Begegnung mit diesem Gewächs. Vom gleichen Kaliber waren auch die hier in üppigen Kolonien vorkommenden Todraucher. Dabei handelte es sich um einen schwarzen Kappenpilz mit orangefarbenen Lamellen und den markanten, in schrillem Orange leuchtenden Punkten überall auf dem Hut. Dieser auffällige Pilz war imstande, einen tödlichen Sporenregen auszustoßen, der alles im Umkreis von bis zu einem Meter erwischte. Was daraufhin passierte, hatte sie einmal in abgeschwächter Form erlebt und wollte sich besser nicht daran zurückerinnern. Deshalb machte sie seither sicherheitshalber einen besonders großen Bogen um diese Art. Derartig aggressive Gewächse gab es nicht zufällig weltweit. Bevor sie ihre Ziele aus dem Blick verlieren würde, kehrte sie zum Eigentlichen zurück: der Wald, der Weg hindurch und der immer noch unklare Standort ihres Transportraumers am anderen Ende des zurückgelegten Weges.
Die Umgebung beanspruchte zunehmend ihre Aufmerksamkeit. Das Gestrüpp, die Büsche und die nunmehr schon hüfthohen Baumsprösslinge störten mittlerweile ihren Lauf, sodass sie ihr Tempo für das Ausweichen verringern musste. Sie konzentrierte sich nun wieder voll auf die Bewegung, versuchte jeden Schritt, jeden Krafteinsatz, ganz bewusst zu erleben; spürte ihren Atem und ließ ihn trotz der Anstrengung nicht flacher werden, tief in den Bauch, möglichst ruhig und langsam.