Ruhe und Frieden
Vierter Teil: Seiten 10 – 14
Plötzlich schrillte ein zweiter Schrei über sie hinweg, hoch und dissonant, böse.
Ihr mentaler Fokus riss abrupt völlig ab. Sie fiel hin, rollte sich trotzdem noch irgendwie instinktiv ab und blieb reglos auf dem Boden zwischen den Pflanzen liegen.
Alte Erinnerungen wurden wach, übernahmen die Kontrolle über ihren Geist: Dunkle Schwärme, Geflatter und Gekreische, Schmerzen, unendliches Leiden. Waren es Vögel, Fledermäuse oder Insekten? Kot und Blut, noch mehr Schmerzen, milde Ohnmacht und irre Albträume. Dann ein Licht am Ende der Düsternis. Knappe Rettung und der Schwur, gründlich zu vergessen. In den Schatten ihres Bewusstseins hatte sich tief Vergrabenes, im Dunklen Verborgenes zu regen begonnen.
Traumatische Bilder aus ferner Vergangenheit suchten sie unnachgiebig weiter heim. Nun nach unendlich unbestimmter Zwischenzeit flauten sie ab, waren weniger stark als noch zuvor, wallten aber weiterhin und wiederkehrend auf, jedoch nur noch kurz. Sie verharrte schwer atmend und zusammengekauert auf dem sandigen Boden, versuchte sich wieder zu sammeln. Nachdem sie sich aufgesetzt hatte, begann sie routiniert nach verstörend langen Sekunden mit einer Atemübung. Als das alleine nicht half, nahm sie noch ein starkes Mantra hinzu: Ich bin hier, ich bin jetzt, ich bin mächtig, ich bin stark. Ich beuge mich nur dem Kosmos und dem Leben in ihm. Damit hatte sie nach weiteren gut 20 Sekunden der disziplinierten, mehrfachen Rezitationen Erfolg. Die mentalen Wogen glätteten sich, jedoch nur langsam, so als wäre zuvor ein riesiger Felsbrocken in den bodenlosen Ozean ihres Geistes gestürzt.
Sie fasste sich, bändigte zunächst die Gefühle und Erinnerungen, dachte dann rationaler und zielgerichteter und letztlich erneut weniger – nun war sie wieder leidlich fokussiert. Da ihr bei dem Sturz körperlich nichts passiert war, rappelte sie sich ächzend auf und beschloss, schnell weiterzulaufen. Die Zeit drängte, denn sie hatte fast fünf Minuten durch den Vorfall verloren, wie sie nun mit einem Blick auf ihr Handgelenk entsetzt feststellen musste.
So etwas war ihr zuvor bereits einige Male passiert, nicht jedoch in dieser Heftigkeit. Vielleicht sollte sie nach dieser Tour eine längere Erholungsphase einlegen und gewisse Dinge aufarbeiten, dachte sie noch. Als sie daraufhin ihren Lauf beschleunigte, wurde sie wieder eins mit dem Weg, spürte ihre Kraft und gab sich der Bewegung völlig hin. Ganz so leicht konnte sie die Episode und die durch sie ausgelöste Unruhe, die ja sehr berechtigt war, nicht ablegen.
Dieser zweite Warnruf war nun schon in mittelbarer Nähe erklungen, aus den Wipfeln der Bäume hinter dem Abhang, auf den sie derzeit zulief. Einen halben Kilometer voraus ragten die Kronen der Bäume weit über den Rand des Plateaus empor. Damit überragten sie die wenigen größeren Bäume hier oben um einige Längen. Derart schnell konnten herkömmliche Bäume nicht in Höhe schießen. Dort stand vermutlich eine Gruppe genetisch modifizierter Riesenbäume, vermutete sie nun wieder gedankenschnell. Bei einem so erstaunlichen Wachstum mussten das die legendären Neo-Sequoias sein, die das Bild vieler ehemaliger Naturlungen mit ihrer schieren Größe bestimmten. Nach einem letzten Ausbruch des Vulkans vor nur sechs Solarjahren, war für gewöhnliche Bäume nicht genug Zeit vergangen, um eine so erstaunliche Wuchshöhe zu erreichen. Warum war ihr das vorhin bloß nicht aufgefallen, wo war sie mit ihren Gedanken nur gewesen?
Indes stolperte sie fast abermals. Sie wollte sich durch weitschweifige Gedanken von ihrer Trübsal ablenken lassen und geriet dabei ins Schlingern.
Gut erinnert – lobte sie sich trotzdem gönnerhaft, nachdem sie sich gefangen hatte und wieder beschleunigen konnte: Neo-Sequoias jetzt, zuvor Todraucher und Ajaxfarn. Der Name des Vulkans fiel ihr allerdings noch immer nicht ein. Ihr verquerer Stolz hinderte sie jedoch wie meist daran, unmittelbar die höheren Funktionen ihrer Technorüstung zu konsultieren oder diese überhaupt nur zu aktivieren. Noch konnte sie auf aktive technische Unterstützung verzichten, die würde noch früh genug notwendig werden.
Sie schätzte ihre technischen Hilfsmittel durchaus hoch, brauchte aber das Gefühl von Widerstand und bisweilen das von echter Konsequenz. Ohne die Erfahrung solcher Grenzen, menschlicher Mängel und Minderwertigkeiten konnte aus einer Schwäche nie echte Stärke neu erwachsen. Sie selbst musste ein Problem lösen, um daraus lernen zu können und wollte sich nicht abhängiger von der Technik machen als nötig, nur weil gerade noch genug Energie im Speicher war. Alle Arten von Bequemlichkeit und Verschwendung verloren in der Wildnis ihre Berechtigung, formulierte sie einen weiteren Grundsatz. Gut, dass er ihr eingefallen war, denn er war einer der Wichtigsten. Sparsamkeit und – ja, und was – welches andere Prinzip steckte noch hinter dieser Idee: Stolz, Stärke, Trotz, Authentizität, Sturheit, Autonomie?
Ja, das waren sie: Autonomie, Stärke und Sparsamkeit, die Drei gefielen ihr. Bloß nicht zu selbstkritisch werden, dachte sie, wobei sie kurz lächelte. Während sie schon wieder viel zu nachdenklich geworden durch das grüne Dickicht hetzte, hatte sie den spontanen Verdacht, mindestens einen der Begriffe kürzlich erst bedacht zu haben, kümmerte sich aber kaum weiter darum – um so besser, dann war er wohl wichtig, schloss und vertröstete sie den Impuls.
Dämmrige Dunkelheit hinter sich zu wissen, tiefe Düsternis voraus zu sehen und zwei ungeheuerliche Schreie – der eine fern, der andere intim – machte auch ihr normalerweise entspanntes Maß unterdessen restlos voll. Wollte sie klarkommen, gab es nur eine probate Option: Sie musste aufmerksamer und wacher werden, noch agiler und wendiger, sich langsam aber stetig in ihr Kampfbewusstsein versenken. Bis zum Ende der Hochebene, die um den Kraterrand herum verlief, waren noch einige hundert Meter zurückzulegen und sie rannte so gut und schnell es die mit jedem Schritt dichter werdende Vegetation eben noch zuließ. Ohne größtenteils in Xentar gehüllt zu sein, hätte sie sich wohl kaum so rücksichtslos durch diesen Pflanzenteppich bewegen können, geschweige denn wäre ihr Sturz vorhin so glimpflich ausgegangen, stellte sie dankbar fest.
Noch immer drohte ihr keine akute, keine greifbare Gefahr von außen, aber ein arglos wirkendes Opfer zog leicht Jäger an. Diese konnten natürlich ihrerseits nicht ahnen, dass ihr vermeintliches Opfer weit mehr war als das. Was sie sahen, verleitete die Mehrzahl ihrer Feinde zu einem fatalen Fehlschluss. Aber sollte sie ihnen wirklich vorhalten, nicht zwischen Sein und Schein unterscheiden zu können – wohl kaum, denn die meisten waren blutrünstige Bestien. Mit ihr hatten sie sich nämlich keineswegs eine wehrlose Beute ausgesucht, sondern das genaue Gegenteil davon: eine ihnen in vielen Belangen überlegene Kriegerin.
Auch wenn sie solche Gedanken – Kampf, Überlegenheit und Triumph – sehr reizten, sie sollte unnötige Feindkontakte vermeiden. Außerdem würde die Situation bei der Rückkehr zum Mjuhlie wahrscheinlich genug Gelegenheit zum Kämpfen bieten. Wenn ausnahmsweise nicht, so konnte sie vielleicht später vor dem Schlafen noch eine kleine Runde spielen, aber erst nachdem sie ihr Lager gefunden und eingerichtet haben würde. Besser vermied sie es ganz, sie waren doch irgendwie alle Lebewesen. Manitu durchströmt alle lebendigen Geschöpfe, ermahnte sie sich rasch und gelobte, das Leben als solches zu ehren und zu bewahren. Nein – es gab da einen entscheidenden Unterschied, schränkte sie den Gedanken schnell wieder ein. Mal abwarten und sehen, wie später ihre Laue sein würde, vertröstete sie sich letztlich doch versöhnlich und schlug in diesem Moment einen Schwung blassgrünen Blattwerks zur Seite. Weit konnte es nicht mehr sein, so dicht, wie die Pflanzen an dieser Stelle nunmehr wuchsen. Höchstens noch gute 100 Meter bis zur Kante schätzte sie sogleich, auch ohne dass sie die Riesenbäume noch gesehen hätte.
Von nun an war mehr Vorsicht gefordert. Sie musste früh und schnell die richtigen Entscheidungen treffen. Vor allem aber durfte sie sich nicht überschätzen und ihre Gegner unterschätzen. Sie hatte in der Vergangenheit genug Situationen erlebt, in denen eine Flucht die leichtere, die bessere oder manchmal sogar die einzige Wahl gewesen war. In solchen Notfällen verließ sie sich dann vollkommen auf ihre Technik, entweder durch einen Abgang in vollem Tarnmodus oder mit einer spektakulären Flucht per Jetpack hoch hinauf in luftige Höhen. Das geschah eher selten, war mehr die Ausnahme denn die Regel.
Hatte sie sich nicht eben gerade noch vorgenommen, sich in den hochkonzentrierten Kampfmodus zu versetzen? Sie ließ sich heute wirklich allzu leicht ablenken. Das war sicher eine Nachwirkung des vorhin erlebten Schocks oder brachte sie die erschütternde Begegnung des gestrigen Tages noch immer aus der Fassung? Dieser Greis mit seiner widerwärtigen Sippe und die widernatürlichen Rituale, deren Zeugin sie unfreiwillig geworden war, wollten ihr nicht aus dem Kopf gehen. Bevor die damit verbundenen Eindrücke als Erinnerungen voll wiederkehren konnten, begab sie sich mental wieder auf den Pfad der Kriegerin: Manitu ist groß, der Kampf und das Leben sind gleichsam heilig, begann sie von Neuem mit dem einleitenden Mantra eines Rituals, das sie in ihr Kampfbewusstsein versetzen sollte.
Das wollte ihr aber derzeit nicht so recht und so leicht gelingen wie üblich, so verwirrt und irritiert war sie noch immer von den Erlebnissen der nahen Vergangenheit. Und ohne diesen fokussierten Geisteszustand war ihre Kampfkraft erheblich vermindert.
Obwohl ihre Einsatzbereitschaft derzeit eingeschränkt war, zögerte sie die ausstehende Aktivierung ihrer Rüstung weiterhin hinaus. Den Helm wenigstens musst sie nun bald aufsetzen, da ihr die Pflanzen zunehmend über den Kopf wuchsen und damit ständig ins Gesicht zu schlagen drohten. Vor allem wurden die Insekten im nunmehr üppigen Pflanzengewirr mit jedem Meter größer, gefährlicher und vielzähliger. Es grenzte bereits jetzt an eine Mutprobe, mit dem nicht aufgesetzten Helm auf den rundum schützenden Verschluss der Technorüstung zu verzichten. Nur noch ein klein wenig länger durchhalten, ein paar weitere Meter – ermutigte sie sich und schlug unterdessen einen handtellergroßen Käfer kraftvoll zur Seite, der direkt auf ihr Gesicht zugeflogen kam. Mit seinem leuchtend roten Panzer, dem tiefen Summen seiner Flügelschläge und besonders den mächtigen Mandibeln wirkte er derart angriffslustig, dass sie in einem unkontrollierten Reflex kräftig zuschlug. Das Insekt krachte daraufhin geräuschvoll an einen nahen Baum, dort knackte es widerwärtig, gab schließlich ein letztes erbarmungswürdiges Quietschen von sich und sank in einem Schwall seines eigenen Bluts an der Rinde hinunter in sein steiniges Grab.
Sie hatte impulsiv ihrem Instinkt nachgegeben, obwohl sie ihrem Opfer auch ausweichen oder wenigstens sein Leben hätte schonen können. Sei es drum, so etwas passiert eben in der Wildnis, beschwichtigte sie ihre aufkeimenden Gewissensbisse. Wer oder was sie potenziell bedrohte oder gar wirklich angriff, verspielte dadurch den prinzipiellen Schutz, den sie versuchte jedem Lebewesen zu gewähren. Hierbei waren die biotechnologischen Abscheulichkeiten jenseits der unsicheren Grenzen zwischen Leben und Tod, Natur und Technik klar ausgenommen. Auch wenn sie nicht zweifelsfrei unterscheiden konnte, hatte sie über die vielen Jahre hinweg eine Trennlinie gezogen, die Feind und Freund unterschied. Überleben war hier draußen wichtiger, als jedes noch so überzeugende Bekenntnis. Ihre persönlichen Ideale waren im Existenzkampf bestenfalls Leitlinien. Pragmatik geht vor Romantik, bedachte sie eine weitere Überlebensregel und hatte damit direkt das Prinzip parat.