Teil 5 – Düstere Gedanken im tiefdunklen Wald

Ruhe und Frieden

Fünfter Teil: Seiten 14 – 17

Aus den Gedanken kehrt sie in die Wirklichkeit zurück. Ihre Sicht reichte nicht mehr weiter als einige Meter, aber das war etwas. Was war denn das dort vorne, ein paar Meter voraus? Ach, eine sportliche Herausforderung tat sich ihr auf, diesen fast meterhohen Stein dort musste sie einfach überspringen: Konzentration – und Sprung! Ha, wenn das nicht sogar etwas zu leicht gewesen war, dachte sie nach der eleganten Landung. Sie lief mittlerweile nur noch im Trab und hatte deshalb einen kurzen Sprint eingelegt. Nun musste sie bereits kopfhohes Gestrüpp durchkämen und sich stellenweise durch engstehende, halbhohe Bäume zwängen. Dabei wich sie immer mehr Exemplaren aus, die sie überragten, und war jetzt nur noch geschätzte 50 Meter vom Ende des Hochplateaus entfernt. Ohne Vermessung und dafür nötigen Technikeinsatz konnte sie hierbei nur Erfahrung und Wahrnehmung intuitiv kombinieren und musste vertrauensvoll raten; aber das tat sie mit Genuss.

 

Also, wobei war sie eben von der spontanen Lust auf den Sprung über den Stein unterbrochen worden? Ach ja, sie hatte über die Gegner nachgedacht, denen gegenüber sie kein nachsichtiges Verhalten an den Tag legen wollte, Instinkt und Reflex hin oder her. Eigentlich waren ihre mentalen Vorsätze vorhin andere gewesen, aber solange sie vorsichtig war, konnte sie sich noch ein wenig mit  Nachdenken ablenken. Da das mit dem Kampfbewusstsein sowieso nicht klappen wollte, warum sich weiter abmühen und frustrieren. Zusätzlich zu ihrem Vorsatz, ihre verwirrend vielen Überlebensregeln zu leicht merkbaren Wörtern zu bündeln, konnte es nicht schaden, auch ihre Erfahrungswerte im Umgang mit ihren Kontrahenten zu überdenken. Das war zu nett gedacht, viel zu nett – fuhr sie sich impulsiv und fahrig zugleich in ihre Gedankenkette: Sie hatte es nicht mit Kontrahenten zu tun, sondern mit Monstern, Bestien, mit abscheulichen Ungeheuern.
Es gab kaum richtige Kämpfe zwischen den verschiedenen Arten, nur das übliche Fressen und Gefressen-Werden, wobei die ursprüngliche Natur sich, soweit sie das mitbekommen hatte, angepasste und damit den neuen Gattungen untergeordnete. Erst durch Menschen wie sie, die Widerstand leisteten und sich nicht einfach fügten, entstanden wirkliche Kampfplätze und ernsthafte Schlachtfelder. In solchen Situationen fürchtete sie sich nur noch mäßig, auch wenn das eine hart erkämpfte Abstumpfung war; hin und wieder sogar derart wenig, dass sie im Gegenteil mit den tumben Viechern spielte und sie dazu allererst provozierte. Einzelne Schlurfer oder kleine Gruppen hielt sie besonders gerne zum Narren. Größere Ansammlungen hingegen oder die stärkeren Exemplare wie Schleicher und Schlächter umging sie klugerweise weiträumig. Dass Schlurfer und auch Schreier immer häufiger in Rudeln und sogar Horden auftraten, war nicht immer so gewesen und musste von ihr hingenommen werden, es würde sich so schnell wohl auch nicht mehr ändern. Es war eine ebenso verderbliche Entwicklung, wie sie gewöhnlich geworden und damit kalkulierbar war. Hier, tief in den Wäldern trieben sich allerdings nur wenige Gegner dieser ersten Klasse herum, der Klasse in ihrem losen System, für deren Mitglieder sie wenig Rücksicht kannte. Sie hielt sich derzeit zum Glück im Reich von einigermaßen unverdorbener Fauna und Flora auf; die zweite und dritte Klasse herrschte hier im Herz der Wildnis. Das brachte jedoch den entscheidenden Nachtteil mit sich, das hier auch wenig Wertvolles zu erbeuten war. Deshalb diente dieser Abschnitt ihrer Route als Abkürzung und zugleich als eine Art Ausgleich zu der Tristesse der üblichen Ruinenlandschaft, in der die eigentlichen Schätze auf sie warteten.

 

Konnte sie den gewiss sinnvollen, das Überleben sichernden Überlegungen irgendein Prinzip entlocken und in ein vielleicht zwei knappe Worte verpacken? Vielleicht Erfahrung, Übersicht oder gar Wissenschaft dachte sie rasch und war beinahe schon zufrieden. Jedenfalls war es sehr wichtig, die Vielfalt an Gegnern, deren Eigenschaften und die mit ihnen gemachten Erfahrungen zu sammeln und gründlich zu ordnen, um daraus praktische Schlüsse für zukünftige Kämpfe ziehen zu können. Es galt, durch Nachdenken die Übersicht zu wahren. Außerdem, die Schrecken zu benennen und sie in eine einfache Ordnung zu pressen, nahm den furchtbaren Erlebnissen einiges an Druck, half ihr, sich von ihnen zu distanzieren. Erfahrungswissen und Übersicht erschienen ihr als gute Kandidaten für ihre Sammlung, waren zugleich so betrachtet gleichzeitig Anlass und Ergebnis.
Weisheit und Zweifel geboten ihr allerdings, das Leben und besonders das sinnverwirrende Unleben nicht übertrieben zu vereinfachen, es also mit der Verallgemeinerung nicht zu übertreiben. So wurde sie trotz aller Ähnlichkeiten immer wieder jäh überrascht, mit jedem Tag ein wenig und in jeder Region allemal. Das galt insbesondere für die Wesen, die sie Schlächtern getauft hatte. Die obszöne Königsklasse der menschgemachten Monstrositäten überbot alles, was sie bisher auf ihren ausgedehnten Touren hatte erdulden müssen. Die Begegnungen mit ihnen waren selten, aber von so unbeschreiblichem Grauen, dass sie mitunter das Traumatischste waren, was sie auf ihren Beutezügen erlebt und danach zu verarbeiten hatte. Bevor sie bei ihrer momentan ziemlich angeknacksten Verfassung einen weiteren Zusammenbruch riskierte, schob sie einen mentalen Riegel vor dieses Thema und beließ es bei dem bloßen Namen.

 

Dann gab es noch die vierte Gruppe, ungefährlich und hochgefährlich: Menschen mit verdrehten Ansichten und bizarren Lebensweisen. Gewöhnlich waren sie wenigstens oberflächlich nicht so heftig entartet, zudem waren sie ihr technisch häufig derart unterlegen, dass sie keine physische Gefahr bedeuteten. Da sie aber im Unterschied zu den ersten drei Klassen in ihrem Tun eine echte Wahl hatten, sich auch hier draußen in den Todeszonen noch immer bewusst selbst bestimmen konnten, war ihr Verhalten schwer verständlich, nicht nachzuvollziehen und dadurch eine kaum erträgliche psychische Belastung. Die Bestien der ersten Klasse flößten ihr Abscheu und Ekel, nicht selten auch mal echte Furcht ein, das war nicht zu leugnen; auch sie ihren wollten ihren Tod, aber die humanoiden Bestien taten trotzdem weit mehr, sie zertrümmerten ihren Glauben an das Gute im Menschen, erzeugten nicht nur tiefe Empörung, sondern Zorn und Hass. Diese gefühlsmäßigen Zustände zu ertragen, war viel schlimmer und ließ sie manchmal an ihrer Entscheidung zweifeln, dem, was an Zivilisation noch übrig war, den Rücken zuzukehren und auf sich selbst gestellt in Freiheit zu leben. Ihr Lebensstil, ihre Umgangsformen hatten sich auch verändert, seit sie die meiste Zeit alleine durch die Todeszonen streifte – natürlich. So verwerflich und krank jedoch, wie diese Psychopathen lebten, würde sie aber trotz der Schroffheit und Verschrobenheit, die sich bei ihr durch die unablässige Einsamkeit unvermeidlich eingeschlichen hatten, nie werden. Das ließ sie keinesfalls geschehen, niemals. Von zehn Menschen, die sie hier draußen im Durchschnitt in einem Monat traf, würde sie sieben, also mehr als die zwei Drittel, dieser Gruppe zuordnen, schätze sie aufgrund jahrelanger, ernüchternder Erfahrung.

 

Der vorhin nach dem Käferangriff gefasste Vorsatz, ihren Helm bald aufzusetzen, blieb wirkungslos. Dabei befeuerte sie ihre Sturheit, verwirrte sie die lästige Zerstreutheit, die sie heute ungewöhnlich hart heimsuchte. Von Schmerz genötigt und von Einsicht geleitet, wollte sie das nun also nachholen.

 

Nachdem sie angehalten und daraufhin die Insekten wild mit den Armen um sich schlagend vertrieben hatte, war es so weit: vorbei der echte, intime Kontakt zur Umwelt. Technische Sicherheit war ihr Lohn für den Verzicht.

 

Sie nahm den Helm vom Gürtel, der sie wie der Rest der Rüstung auch deaktiviert in mattem Dunkelgrün tarnte, und setze ihn routiniert auf. Ein vernehmliches Klicken erklang, gefolgt von einem kurzen Zischen. Hinter dem halbrunden Oval des Frontschirms, der ihr in seiner makellosen Transparenz ein uneingeschränktes Sichtfeld bot, war sie nun vor schädlichen Einflüssen von außerhalb geschützt. Auch ihre Atemluft wurde von nun an gefiltert, bevor sie in ihre Lungen strömen durfte. Alles jedoch weiterhin ohne den Einsatz höherer, aktiver Techniksysteme – also blieben ihr weiterhin ein paar wenige Korridore in die Wirklichkeit um sie herum, die Natur, den Wald.

 

Umwege durch die tiefe Wildnis genoss sie sehr; immer wenn sich ihr die Gelegenheit dazu bot, machte sie Ausflüge auf diese Inseln. In einem weltumspannenden Ozean an Stadtruine war sie eben manchmal reif für einen Ausflug auf die Insel. Die Naturlungen waren solche Orte der Erholung und das Beste, es gab sie weltweit, sogar recht gleichmäßig über den Planeten verteilt. Bei der Planung ihrer Touren baute sie gewohnheitsmäßig mehrere Aufenthalte dort ein, genehmigte sich unterwegs zudem noch spontane Ausreißer dorthin; sodass am Ende bisweilen ihr lockeres Zeitmanagement zu einer größeren Herausforderung wurde als die Bewältigung augenscheinlicher Gefahrenquellen.

 

Weiter also – beschloss sie konsequent und fuhr fort. Für den Helmscheinwerfer, den sie zuletzt noch hinzuschaltete, konnte sie ebenfalls auf Xentars Dienste verzichten. Durch zwei Lichtkegel erhellt, sah sie ihre Umgebung jetzt deutlich. Um sie herum und besonders in Blickrichtung vor ihr raschelte, zischte und klapperte es tausendfach. Überall wuchsen Pflanzen und wuselten Tiere. Diese strengten sich mächtig an, wohin sie mit ihren Kopfbewegungen das Licht auch lenkte, zu den dunklen Rändern der kreisrunden Zonen hin zu flüchten. Auch erkannte sie und wurde sich jetzt im heftigen Kontrast zu vorher bewusst, wie farbenfroh es hier doch eigentlich war. Töne von Grün und Braun überwogen zwar, aber beim genauen Hinsehen entdeckte sie fast alle Farbtöne irgendwo: besonders auf Blüten und Fruchtkörpern, aber auch Blättern, in Panzern und Flügeln, Fellen und Federn, in Augen, die schillernd aufblitzten.

 

Obwohl dieser Anblick sie regelrecht verzauberte, sie die Natur im Grunde innig und aufrichtig liebte, erleichterte sie eine Gewissheit dennoch: Deren diverse Vertreter waren ab jetzt dort draußen und sie war alleine hier drinnen – in der relativen, technischen Sicherheit ihres ganz eignen Panzers.

 

Bei aller Faszination ermahnte sie sich nachträglich: Die kleinen Insekten hatten es in sich, sie konnten eine tödliche Gefahr bedeuten, vor allem wenn man sich arglos von ihnen stechen ließ. Dafür brauchte man gar nicht mal so viel Pech. Sobald sie ihre Rüstung aktivieren würde, musste sie den Einstich und ihr Blut auf mögliche Gifte und Erreger untersuchen lassen. Dann wurde sowieso vieles anders. So würde auch der erhellende Scheinwerfer bereits wieder ausgedieht haben, denn sie sollte wohl kaum als strahlend helles Ziel einladend durch die Todeszone spazieren. Offenes Licht kam in der Nacht einer Leuchtreklame mit der Aufschrift gleich: „Ihre nächste Beute befindet sich genau hier – guten Appetit“. Nur die kleinen Tiere, die ganz unten in den Nahrungsketten standen, scheuten das Licht und flohen. Ganz so, wie sie das im Moment weiterhin eindrucksvoll direkt vor sich erlebte.

 

Es konnte von hier aus nicht mehr weit sein bis zur Kante des Kraterplateaus – höchstens noch ein Dutzend Meter. Sie war damit dem ersten Etappenziel auf ihrem Rückweg mittlerweile ganz nahegekommen. Aber viel zu spät, da sie viel, viel zu viel, nachgedacht hatte, wie sie sich ehrlich, ohne Schonung eingestand. Ab dort vorne musste sie sich zusammenreisen und auf das Wesentliche fokussieren: Überleben.
Ihr Mangel an geistiger Disziplin war heute ungewöhnlich ausgeprägt, zudem außergewöhnlich anstrengend. Auch wenn die Friedenszeit noch nicht ganz erschöpft war und sie hier oben keine ernsthaften Gegner erwartete, so fahrlässig wie bisher durfte sie nicht weitermachen.

 

Wenigstens hatte sie dabei auch etwas Sinnvolles getan und war häufig zu ihrem Vorsatz zurückgekehrt. Was hatte sie denn bisher gesammelt? Es war wohl höchste Zeit für eine erste Erinnerung, eine erste Wiederholung sonst konnte sie später von vorne beginnen. Die Muße dafür musste sie nun erst erzwingen; auf eine oder zwei Minuten kam es jetzt auch nicht mehr an. Zu spät für eine reibungslose Rückkehr war sie jetzt sowieso, also lieber noch hier oben kurz innehalten, als dort unten hinter der Kante.

Schreibe einen Kommentar