Teil 6 – Resümee, Etappenziel und Ende

Ruhe und Frieden

Sechster Teil: Seiten 17 – 21

Was hatte sie bisher zusammengetragen? Selbstsorge und Sparsamkeit fielen ihr rasch ein; dann, nach einigen Sekunden, Stärke – und ja, was noch – bevor sie mental verkrampfte, entspannte sie sich bewusst mit ein paar tiefen, ruhigen und vollen Atemzügen. Genau, das waren sie: Autonomie, Erfahrungswissen und Übersicht. Oder fehlte doch noch etwas? Noch einmal kurz und knapp in schneller Folge: Selbstsorge, Sparsamkeit, Stärke, Autonomie, Erfahrungswissen, Übersicht. Ach, die Pragmatik war ihr entfallen, also das alles und Pragmatik.

 

Gut erinnert, lobte sie sich – aber genug davon, es gab nun wichtigere Aufgaben. Sie musste rasch weiter, sonst würde aus einem zu langen Weg, eine zu kurze Nacht. Sie war entschlossen und lief abermals los. Nicht jedoch ohne die letzten Meter des sicheren Hochplateaus für abschließende Gedanken zu ihrem Ordnungssystem zu nutzen.

 

Die fünfte und letzte Gruppe forderte sie im Kampf wohl am heftigsten heraus, stellte aber für ihre Wahrnehmung, ihr Gefühl und die geistige Gesundheit eine weit geringere Belastung dar. Roboter, Androiden, Drohnen, Verteidigungsanlagen und eigenständige Kampfsysteme gab es überall dort, wo sich fette Beute machen ließ. Da nur gut gesicherte Hochtechnologie die Katastrophe überstanden und die letzten Jahrzehnte überdauert hatte, waren ihr diese Exemplare in Hinblick auf Kampfkraft mindestens ebenbürtig. Als Spitze einer brachial abgebrochenen Technikevolution übrig geblieben, musste sie in den Konflikten mit diesen Maschinen all ihr Können und große Teile ihres Arsenals einsetzen, um am Ende als Siegerin dazustehen.

 

Eine besondere Herausforderung war in solchen Situationen, klug und besonnen zu bleiben, obwohl ein schwer zu besiegender Wächter die berechtigte Erwartung auf entsprechende Reichtümer weckte. Sie neigt wahrlich nicht zu Gier, aber je besser ein Ort geschützt war, desto größer war zumeist die Belohnung. So konnte die Beute, die am Ende eines derart kritischen, nicht selten lebensgefährlichen Einsatzes stand, für sich alleine mehr Geld einbringen, als Tonnen an Standardtechnik; mehr jedenfalls als die typischen Bewohner der Lebenszonen mit einem Jahr harter Arbeit verdienen konnten. Deshalb waren ein hohes Maß an Selbstbeherrschung und ständige Risikoabwägung gefordert. Mit diesen beiden hatte sie die nächsten wichtigen Überlebensprinzipien gestreift und setzte sie ans Ende der spontan nochmals wiederholten Liste.

 

Hier draußen war wirklich was los, vermeintlich klare Klassen hin oder her, das Bestiarium war reichhaltig: Zombies, von plump bis agil; ebenso zu Biowaffen mutierte oder als solche konstruierte Tiere und Pflanzen, von verblüffend über unangenehm bis tödlich; die ursprüngliche Flora und Fauna, die auch nicht eben harmlos waren; degenerierte Psychopathen, Gesetzlose und Wilde, die im Vergleich zu Zombies und Tieren auch noch intelligent waren, sich jedoch so weit von Moral und Menschlichkeit entfernt hatten, dass mit ihnen nicht friedlich auszukommen war; zuletzt die Welt der Technik.

 

Innerhalb und zwischen diesen fünf Gruppen, deren Zweige sich ständig erweiterten, verbanden und wieder vereinzelten, hatte sich ein konfuser Wirrwarr entwickelt. Jede Todeszone war anders, jede Todeszone war gleich. Ein Team aus Biologen und Soziologen hätte viel Arbeit darin, das Chaos hier draußen mal zu analysieren und ordentlich zu klassifizieren. Sie jedoch wälzte diese Gedanken hauptsächlich aus praktischem Interesse, die Wissenschaft überließ sie anderen. Kenne deine Feinde, ihre Stärken und Schwächen, war die passende Regel, die ihr hier draußen das Überleben sicherte. Da steckten als Prinzipien doch mehr dahinter als nur Übersicht und Erfahrungswissen, aber was noch?

 

Während sie so überlegte, wurde sie sich erst erstaunt dann frustriert bewusst, dass sie zuvor nur wenige Meter gelaufen, dann langsamer geworden war und seit über einer Minute schon wieder reglos dastand. Die unzähligen Tiere, die sie nun krabbelnd, kriechend und auf sich sitzend entdeckte, waren Beleg dafür genug, aber kein Grund zur Sorge. Sie schüttelte sich ruckartig und streifte danach die übrigen Tiere, die hartnäckig weiter an ihr klebten, sorgsam und respektvoll von Xentar ab.

 

Dass nur noch ein paar Meter Strecke vor ihr lagen, vermutete sie sodann und ging kräftigen Schrittes weiter. Dabei bahnte sie sich mühsam ihren Weg durch Gestrüpp und tief hängendes Astwerk. Ohne Muskelverstärkung stellte sich ein Spaziergang durch die Wildnis als anstrengender heraus, als sie gedacht hätte. Vorhin war ihr das nicht aufgefallen, obwohl die Strecke kaum anders gewesen sein konnte. Nur Schritt für Schritt kam sie voran.
Ihre weitschweifigen Überlegungen waren zuvor an einem toten Punkt angekommen, von diesem aus hatte sie nicht mehr weitergedacht – genug des Nachdenkens, gelobte sie sich abermals. Eben hatte sie sich dem Rand des Plateaus bis auf weniger als einen Meter genähert, ihn noch immer nur erahnend.

 

Ohne den Helmscheinwerfer wäre es gefährlich geworden, denn der dichte Pflanzenteppich verhinderte jeden Überblick, hing sogar lose merklich über den Abgrund hinaus. So aber war sie rechtzeitig stehengeblieben. Nun blickte sie in den metertiefen Abgrund, anstatt ihn nur zu ahnen. Gute vier Meter ging es an dieser Stelle fast senkrecht hinab und jetzt sah auch wieder den Baumriesen, der ihr vorhin als Orientierung gedient hatte.

 

Damit an ihrem ersten Etappenziel auf dem Rückweg angekommen, stemmte sie sich gegen einen jungen aber kräftigen Baum – vielleicht eine Morlaeiche? Sie umschlang ihn und lehnt sich leicht über den Abgrund. Trotz der geschlossenen Rüstung, spürte sie die raue Rinde, roch den süßen Duft der verschlossenen Blüten zu ihren Füßen. Darunter mischte sich der herbe Geruch frischen Harzes. Die zuvor so aufdringlichen Geräusche der Tierwelt wurden nun durch den Wind übertönt, der hier oben insgesamt und besonders hier an dieser Stelle sehr kräftig war. Er pfiff laut durch die kaum drei Meter breite Schneise zwischen den zwei Wäldern, welche durch einen wüsten Streifen und den felsigen Abhang voneinander getrennt wurden.

 

Dahin war ihr kaltes Interesse an einem bloßen Namen für diesen Baum, beendet ihr Sinnieren über Prinzipien und ihr Abdriften in schöne und hässliche Erinnerungen. Sie betrat gleich den steinigen Boden der Realität, die Friedenszeit war beinahe vorüber und vor ihr lag unbestimmt viel Weg. Der Preis für diese selbst verschuldete Verspätung würde ein zweifacher sein: weniger Schlaf und mehr Energieverbrauch.

 

Nun schaltete sie das künstliche Licht wieder aus und zog sich noch weiter hinauf in den überhängenden Baum. Über ein paar dünne Äste gelangte sie rasch in die knapp fünf Meter hohe Krone. Hier oben stand der Baum schon über einen Meter schräg über dem damit noch tieferen Abgrund. Die Aussicht von hier über die Bergflanke hinweg in das nächste Tal und die Ferne war beeindruckend:

 

Der Mond brach mehrfach kurz durch die Wolken, die eilig über den Nachthimmel glitten. Sie konnte den dunkel vor ihr liegenden Wald kilometerweit überblicken; Nebelbänke zogen hier und da träge über ihn hinweg, schlängelten sich zwischen den vereinzelt stehenden Baumgiganten hindurch. Einzelheiten konnte sie dabei keine ausmachen, wie auch. Wo die Schlaglichter des beinahe vollen Mondes hinfielen, entsponnen sich fantastische Bilder, erkennen aber konnte sie nichts.

 

Gebannt von diesem Schauspiel, lies sie in ihrer Vorsicht nach. Zu einem schlechten Tag kamen schlechte Erinnerungen und reichlich Versuchung, sich darin zu verlieren – Kopf hoch, morgen würde wieder ein besserer Tag, sprach sie sich gütig und tröstend zu. Danach genoss den Fernblick über das düstere Wunderland, ließ sich darin einspinnen.
Eine Böe fegte plötzlich hinab, erfasste den Baum voll; ein leises Knacken, ein lautes Krachen und alles begann zu fallen. Sie fiel.

 

In diesem Moment war unvermittelt ein Ast des jungen Baumes gebrochen, der Ast, auf dem sie bis eben gestanden hatte. Auch von den zwei Haltepunkten ihrer Hände war damit einer verloren gegangen, der verbliebene konnte ihr Gewicht kaum halten. Weniger als zwei Sekunden, dann knickte er ab und alles stürzte hinab in die Tiefe.

 

Sie hatte gut neun Meter freien Fall vor sich, bevor sie auf den spitzen Felsen am Fuß des Steilhangs aufkommen und dabei zerschmettert würde. In einem jahrelang trainierten Instinkt wollte sie mit einer simplen Geste technische Unterstützung herbeizaubern, scheiterte aber an dem störenden Astwerk, das sie auf ihrem Fall begleitete. Sie versuchte eifrig sich aus der hölzernen Umklammerung zu lösen und verlor dabei wertvolle Meter an Flughöhe. Nichts zu machen, überall um sie herum war es Grün und Braun. Zusammen mit ihr war wohl mehr als nur ein Ast über die Klippe gestürzt. Was konnte sie jetzt noch tun? Erst hoffen, dann abrollen, dachte sie noch scherzhaft, während sie sich über das Ausbleiben jeglicher Lebensfilme oder bedeutsamer Erinnerungsszenen wunderte. Ihren Tod frei von solchen Klischees zu wissen, war ein widersinniger Trost, aber ein Trost. Denn bald musste es soweit sein. Wie lange sie wohl flog, fragte sie sich besser gar nicht erst. Das war es jetzt also, lahme Fragen, mehr nicht und dann?

 

Nun kamen sie doch, die Nahtoderfahrung: Sie sah sich, von außen, gestochen scharf; kurz sogar ihren zukünftigen Aufprall auf einem steinigen Boden, der tatsächlich aber unausweichlich weiter auf sie zuraste. Sie fürchtete die brachialen Schmerzen, die sie vor der rettenden Ohnmacht noch heimsuchen, noch quälen würden. Der Schub an Erinnerungen blieb wirklich aus, stattdessen erlebte sie jedoch die langsamsten und intensivsten Sekunden und Meter ihres Lebens:

 

Jedes Atom um sie herum gewann unendliche Bedeutung. Sie wuchs, wandelte sich, wurde eine andere, sie hatte genug Aufmerksamkeit für alles: den grauen Stein, durchzogen von weißen Schlieren; die Mückenschwärme, gierig auf ihre fette Beute; den im Mondlicht purpurn schimmernden Ajaxfarn, dort unten am nahen Waldrand; auch die wenigen Todraucher, mit ihren kecken Hütten, den orangefarbenen Punkten; die Unmengen namenloser Tiere und Pflanzen um sie herum, das alles sah sie absolut klar und scharf trotz der herrschenden Dunkelheit. Sie schaute vermeintlich in das Wesen der Dinge. Nach einer Unzeit weise geworden, erblickte sie überall die Schleier der Existenz, wie sie wild flatterten und für sie durscheinend geworden waren, als sich plötzlich wieder alles änderte: Zeit und Raum forderten ihr Recht ein.

 

Aus ultimativer Achtsamkeit gerissen, glitt sie zurück, hinein in den dunklen Abgrund ihres inneren Selbst, zurück ins Gefängnis ihres fallenden Körpers. Dort wurde sie wohlig und warm empfangen, ihr Leib pulsierte schier vor Wonne, ein einziger Rausch durchströmte sie. Nicht lange war ihr vergönnt, darin zu baden, schon ebbte die Lust ab. Die Dunkelheit wurde intensiver, wurde tiefer, dichter, absorbierte sie.

 

Schon war die Stille vollkommener, als sie das jemals in einer Meditation erlebt hatte. Immer dunkler, immer glatter, immer leiser, immer steriler, immer leerer, immer weniger – schlussendlich pures Nichts.

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