Testsieger im Praxistest: Das „Rheinische Grundgesetz“

Artikel 1: Et es wie et es.
(„Es ist, wie es ist.“)
Sieh den Tatsachen ins Auge, du kannst eh nichts ändern.

 

Artikel 2: Et kütt wie et kütt.
(„Es kommt, wie es kommt.“)
Füge dich in das Unabwendbare; du kannst ohnehin nichts am Lauf der Dinge ändern.

 

Artikel 3: Et hätt noch emmer joot jejange.
(„Es ist bisher noch immer gut gegangen.“)
Was gestern gut gegangen ist, wird auch morgen funktionieren.
Situationsabhängig auch: Wir wissen es ist Murks, aber es wird schon gut gehen.

 

Artikel 4: Wat fott es, es fott.
(„Was fort ist, ist fort.“)
Jammer den Dingen nicht nach und trauer nicht um längst vergessene Dinge.

 

Artikel 5: Et bliev nix wie et wor.
(„Es bleibt nichts wie es war.“)
Sei offen für Neuerungen.

 

Artikel 6: Kenne mer nit, bruche mer nit, fott domet.
(„Kennen wir nicht, brauchen wir nicht, fort damit.“)
Sei kritisch, wenn Neuerungen überhandnehmen.

 

Artikel 7: Wat wells de maache?
(„Was willst du machen?“)
Füg dich in dein Schicksal.

 

Artikel 8: Maach et joot, ävver nit zo off.
(„Mach es gut, aber nicht zu oft.“)
Qualität über Quantität.

 

Artikel 9: Wat soll dä Kwatsch/Käu?
(„Was soll das sinnlose Gerede?“)
Stell immer die Universalfrage.

 

Artikel 10: Drinks de ejne met?
(„Trinkst du einen mit?“)
Komm dem Gebot der Gastfreundschaft nach.

 

Artikel 11: Do laachs de disch kapott.
(„Da lachst du dich kaputt.“)
Bewahr dir eine gesunde Einstellung zum Humor.

 

Intelligenz des Rheinlands & Konrad Beikircher (Hrsg.), Et kütt wie et kütt – Das Rheinische Grundgesetz (2001)


 

Die Quintessenz rheinischer Lebenskunst in nur elf gröllbaren Aphorismen verpackt, und zwar so, dass sie jeder verstehen, jeder anwenden, jeder anerkennen kann. Eine Edelprodukt unter den elaborierten Lebenskünsten, aber nur eines unter vielen, unendlich, unsagbar vielen. Deshalb habe ich über ein Jahrzehnt hinweg unablässig – damit immerhin einen Bruchteil – getestet und bewerte vor diesem Hintergrund das heutige Text-Fast-Food als bodenständige Alternative aus Köln. Doch wer sind die Mitbewerber im immens-intransparenten Praxistest der Lebenskünste, mit Schwerpunkt auf den Gütekriterien: Beliebtheit, Wirksamkeit und Zugänglichkeit?

Natürlich, die Philosophen, wären Paradebeispiele sprachlich elitärer, bisweilen hermetisch daherbrabbelnder Akteure im öffentlichen Diskursraum (womit in der These zugleich ein Beleg der These geliefert werden soll – quasi: ironisch-performative Konfession). Von soviel Wirksamkeit, wie diese schlichten und schönen Sinnsprüche im Alltag zu entfalten vermögen, kann sich so manches (praktische) Philosophem eine dicke Scheibe davon abschneiden. Eine Kritik, die nur insoweit zulässig ist, wie Philosophie mehr sein soll als bloße Wissenschaft, und dieser Mehrwert zudem in einer die Wirklichkeit verändernden Art ein exklusives Kriterium haben darf. Die Wirklichkeit zu verändern, heißt explizit nicht nur: politisch zu sein, sondern anschlussfähig zu sein, verständlich, zugänglich, (be-)greifbar und genießbar gleichermaßen. In dieser Hinsicht sind die elf „Rheinischen Grundgesetze“ vorbildlich, denn schon ein Erstklässler, wenn nicht ein Kindergartenkind könnte sie lernen. Sie schaffen es sogar als Dekor auf Frühstücksbrettchen und wer hier assoziativ an die „10 Gebote“ als Referenzprodukt denkt, weit gefehlt, die rangieren recht weit hinter unserem heutigen Testkandidaten und können höchstens in punkto Merkbarkeit konkurrieren. Die Ratschläge habe jedenfalls dazu getaugt, im Alltag weit weniger Stress zu empfinden, mehr Entspannung, Freude und Ausgewogenheit zu gewinnen und nicht zuletzt eines zu werden: ein bodenständiger Lebenskünstler, der sich von diesem Fundament aus nach allen Richtungen umsehen darf und sollte. Keine dicken alten Wälzer lesen, sondern einfach bei einem Kölsch praktisch umsetzen, was sich in Kürze hat erfassen lassen.

Inhaltlich kann ich die empfehlungen kaum kürzer wiedergeben, sehe mich aber zum Versuch genötigt: Die Welt so dulden, wie sie ist, nicht wie sie gefälligst sein sollte und sie stattdessen aus der Ruhe heiterer Gelassenheit heraus Stück für Stück umzubauen, zu erhalten, aber gleichsam zu erneuern, das lehrt die Weisheit des Rheinlands. (Wer acht Jahrhunderte hindurch unermüdlich an seinem Dom baut, weiß was Erbe, Geschichte und Zukunft verbindet.) Was das Leben einem zukommen lässt, ist demütig anzunehmen; jeder (Waren-)Fetischismus (Stichwort: Anhaftungen) sollte vermieden werden und der Nächste, dein Mitmensch, der Andere ist willkommen zu heißen, gerne und unter großzügiger, aber maßvoller Aufwendung des Eigentums. (Ob da nicht eine Portion gelebtes Christentum Einfluss genommen hat?) Schließlich geht es letztlich um das konsequent gelebte, gute (positive) Leben.

Die nebensächlichen wie polemischen Spitzen aus dem thematischen Hinterhalt gegen die anspruchsvolle Lebensweisheit aus den Akademien und Kirchen seien mir vergönnt, zumal sie mich passagenweise sicher höchstselbst betriffen und damit ins eigene Fleisch schneiden – na, wer weiß noch was Subjekt hinter all der rhetorischen Spinnerei der letzten Absätze geblieben ist? So ungefähr genau das: Die Vorzüge des einfachen Volksweisheit gegenüber den nicht explizit erwähnten, wortreichen Bedeutungsungetümen, eine Gattung an Lebenskunstprodukt, wie es Philosophen, andere Geisteswissenschaftler und neuerdings allerlei Coaches hervorbringen. Das Verschwinden des Sinns hinter sprachlichen Spielereien, gleichzeitig die Absage an die Wirksamkeit des betroffenen Werks, sind nur zwei Gefahren solcher Machwerke. Nicht so bei den Sprachspielen, die zweifelsohne mehr zu beigeistern vermögen, populärer und beliebter sind. Sie kleiden das Gute und möglicherweise Wahre in das Schöne, ehren damit nicht nur Platon, sondern sind effektiv und effizienter als die meisten Mitbewerber aus den Bereichen Philosophie, Religion und Esoterik, im eigentlichen wie uneigentlichen Wortsinn. Da ich also intellektuellem Populismus entschieden zustimme, befürworte ich ebenso entscheiden, Volkweisheit, altes Wissen und Straßenschläue mit  zeitgenössischen Formen der Erzählung, zu denen der Diskurs der Wissenschaften an hervorragender Stelle gehört, kreativ zu verschmelzen. Dabei wären in philosophischer Hinsicht Neubearbeitungen skurrilster Natur möglich: MC Emmanuel Levinas feat. DJ Derrida Ethik des Anderen unplugged & deconstructed gesungen als Meisterlied oder DDFD – Die drei fröhlichen Diskursethiker als Hörspielserie mit den drei Professoren in spe Apel, Habermas und Nietzsche, Hegels Anerkennunglehre zum Einschlafen als Kinderreim zum dialektischen müdedenken, nicht zuletzt Klassiker wie Nikomachische Diäthik für Bauch, Beine und Bewusstsein oder Staat, Höhlengleichnis und Ideenlehre für Primaten oder Dummies.

Vom essayistischen Abweg zurück zum Kern des Textes, dem Test der Lebenskunstregeln aus dem Rheinland in 11 kompakten Artikeln. Dass die jecken Regeln sich gegen das Top10-Diktat verwehren und als Primzahl daherkommen, bringt weitere Pluspunkte, weißt sie zudem als das aus, was sie gerechterweise sind: natürliche, also krumm und schief gewachsene und daher in sich widersprüchliche, wilde Unkräuter des Geistes. Heilsam trotzdem und allemal unglaublich echt, aus dem Leben für das Leben, gemacht, um gemacht zu werden. Ich jedenfalls empfinde diese knappen Weisheiten seit einigen Jahren als wertvolle Begleiter, in einer Welt, wie der unseren, in einem Alltag wie dem meinen. Ihrer Befolgung erspart negative Gedanken und Erfahrungen, stiftet gleichzeitig positive Bezüge zu sich und der Welt um sich herum. Man regt sich weniger auf und freut sich stattdessen mehr. Konflikte werden an allen Fronten vermieden und das Bewusstsein durch eine Erdung am Wesentlichen beruhigt. Probiert es am besten selbst einfach mal ein paar Wochen aus und lasst Euch in passenden Situationen – und glaubt mir, die gibt es bei den hintersinnig universellen Regeln zuhauf – von der dazu passenden Regel leiten.

Kurz abschließend möchte ich jedoch nicht verhehlen, dass dem („rheinischen“) Grundgesetz allem Loblied zum Trotz etwas politisch Gefährliches anhaftet, ein fatalistischer, opportunistischer und populisitscher Beigeschmack ist nicht zu leugnen. Holt man dieses Manko jedoch reflexiv ein und überholt es damit lebenspraktisch, steht dem vollen Lebenskunstgenuss nichts im Wege. Nur so ernstgenommen, wie das eine denkbare 12. Grundregel „Artikel 12: Regeln sind Regeln, das Leben was ganz anderes“ (Für eine angemessene Übersetzung ins Kölsche, bin ich ein dankbarer Abnehmer – mein Stichwort für Euch lautet deshalb: Kommentarfunktion) begrenzen könnte, überwiegen die lebenspraktischen Vorteile und wer ist dieser Tage schon politisch, also mal ehrlich, sodass ich zu einem klaren Testurteil komme: Der Vorsprung reicht bei diesem unfair einseitigen Testzuschnitt klar für Testsieger, das rheinische Grundgesetz! Also weg mit der Theorie, der Kohärenz, der Objektivität, all der Differenziertheit und den altbackenen Idealen von Ausführlichkeit, Allgemeinheit und Argument, wie sie Religion, Philosophie und Co. so von sich und anderen fordern, und ran an den Parxis der rheinischen Lebenskunst. Einfach mal vier Wochen in den vier Wänden der eigenen Existenz ausprobieren, es lohnt sich – versprochen.

Reumütig und Besserung gelobend verabscheidet sich nach einmonatiger Abwesenheit, Euer Satorius

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