Es gibt einige von ihnen: Kraftquellen der menschlichen Existenz. Religiosität oder allgemeiner das Bedürfnis nach Metaphysik besitzen definitiv einen solchen Stellenwert. So allgegenwärtig, umfassend im Raum und unablässig in der Zeit, dass ich wenigstens eine kulturelle Affinität, höchstens eine anthropologische Konstante wittere.
Speisen sich Werte und Tugenden aus einer solchen Kraftquelle, gedeihen sie prächtig. Versiegen wichtige Quellen oder kommt deren Zufluss ins Stocken, dann haben es die Werte schwerer als zuvor, deren Blüte und Wachstum sowieso, aber auch der bloße Bestand. Die Metapher ist ebenso unerschöpflich wie intellektuell unanständig und definitiv überstrapaziert.
Theismus oder Deismus, Atheismus oder Agnostizismus und ihr Verhältnis zur demokratischen Generaltugend Toleranz stehen zur Debatte. Tagesaktuell wird die Frage nach deren Bedingungen und Grenzen dringlich, besonders im Angesicht von Zuwanderung und Flucht, Ideologisierung und Radikalisierung sowie dem gefühlten Verlust von Solidarität und Vertrauen werden Fragen rund um die Toleranz für immer mehr Menschen ein konkretes Thema. Historisch spielt für Genese und Differenzierung des betrachteten Begriffs vor allem die Epoche der Aufklärung und deren produktiven Geister eine eminente Rolle. Ihr Beitrag zum ideengeschichtlichen Fundament unserer heutigen politischen Realität, jedenfalls in Europa und an wenigen weiteren Oasen der Freiheit auf diesem, kann nicht unterschätzt werden. Ein Allgemeinplatz, zugegeben, aber Kant, Hegel, Voltaire und Co. genießen nicht zu Unrecht Weltruhm. Zudem erquickt Philosophiegeschichte nicht jeden so sehr wie mich – also schnell weiter mit den argumentativen Siebenmeilenstiefeln.
Quanzland im Übrigen gehört nicht zu den politisch privilegierten (Post-)Demokratien, noch nicht, denn es herrscht verhaltene Unruhe. Kognitive Dissonanzen machen die Runde, sorgen für allerlei Kontroverse und beleben die Kommunikation. Wenn der Gedankenterrorist weiter so konsequent und wortbewaffnet in idealistisch-kritischen Töpfen rührt, erwärmt sich die bereits zaghafte, öffentliche Diskussion über das allpräsente Text-Fast-Food noch weiter. Ob sie jedoch jemals zum Kochen gebracht werden kann, bleibt bis auf Weiteres der konservativ-trägen Stimmung der kaltblütigen Quanzländer ausgeliefert. Nicht umsonst herrschen hier alle alten System auf einmal ohne etwas Neues hervorzubringen und das seit sehr langer Zeit, womit ein politikwissenschaftliches Mysterium ersten Rangs gleich einem Dorn ins Auge dieser Disziplin sticht.
Aber sogar hier scheint dieser stürmischen Tage kein Wert mehr selbstverständlich, erst recht nicht die höchst unbequeme und bisweilen kostspielige Toleranz. Aus dieser Notdurft kann eine Rückbesinnung auf das zeitlos Allgemeine der guten alten Aufklärung nicht schaden. Viel kritisiert, historisch ausgehöhlt und nur wechselhaft verwirklicht blieb diese Tradition alle Widerständen zum Trotz untergründig vital. Dabei wirkt der angedrohte Blick fast zweieinhalb Jahrhunderte zurück in die Zeit Voltaires, wie ein Beleg für die zeitlose Aktualität der Toleranz-Problematik und zugleich als Apell, wirklich tolerant zu leben, nicht bloß zu denken – Heute, Gestern und Morgen.
Die bedeutsam angedeuteten Fragen bleiben allerdings metaphorisch und bewusst offen: Welcher Kraftquellen bedarf Toleranz notwendig? Welche Quellen stehen dem üblichen Europäer, dem durchschnittlichen Quanzländer, dem spekulativen Weltbürger überhaupt zur Verfügung? Welche dieser Ströme lassen sich mit welchen Turbulenzen oder überhaupt vereinigen? Was tun gegen Dürre und Überschwemmung?
Voltaire, als einen zufällig ausgewürfelten Vertreter der Aufklärung zu lesen und aktiv zu befragen löst diese großen Fragezeichen nicht, ist aber keineswegs, zu keiner Zeit schädlich, im Gegenteil sogar in jedem Fall empfehlenswert. Der gute Mann ist anschlussfähig an fast jedes große Thema unserer komplexen Gegenwart: Voltaire und Grexit, Voltaire und IS/Charlie Hebdo, Voltaire und Pegida, Voltaire und Vertrauen gegenüber Verbündeten, etc. pp.
Hier gilt der Grundsatz jeder praktischen Philosophie und Lebenskunst, in all seiner Marxschen Ernüchterung, dass nämlich Theorie und ihre Antworten, wenn überhaupt gegeben, vor allem einen Arbeitsaufträge für die eigene Existenz beinhalten. Arbeit statt Denken macht die Ethik, laute demgemäß die Devise. Voltaire lesen ist schon mal nicht schlecht, Toleranz im Alltag üben aber letztlich viel besser, dementsprechend auch unendlich viel anspruchsvoller. Wenn man doch nur unerschöpfliche Kraftquellen hätte, aber immer und überall gibt es dieses lästigen Energieprobleme!
In froher Erwartung meiner nächsten beiden Kraftquellen: Genuss und Nahrung; Euer Satorius
Und dies geschah in unseren Tagen; geschah zu einer Zeit, wo die Philosophie solche Fortschritte gemacht; zu einer Zeit, wo hundert Akademien schreiben, um sanfte Sitten einzuflößen! Es scheint, als ob der Fanatismus, aufgebracht über die kleinen Fortschritte der Vernunft, sich mit desto größerer Wut gegen sie auflehnte.
Kapitel I
Das Recht der Intoleranz ist also ebenso unvernünftig als barbarisch. Es ist das Recht der Tiger; ja noch schrecklicher als dies. Die Tiger zerreißen nur, um ihren Hunger zu stillen; wir vertilgen einander um Paragraphen.
Kapitel VI
„Dieser kleine Erdball, der nicht mehr als ein kleiner Punkt ist, dreht sich im Raume so gut als andere Weltkugeln. wir verlieren uns in dieser Unermesslichkeit. Der etwa fünf Schuh hohe Mensch ist gewiss eine Kleinigkeit in der Schöpfung. Eines dieser kleinen unmerklichen Wesen redete einmal einige seiner Nachbarn in Arabien oder auf der Küste der Kaffern [Alle Fremden, der Andere an sich; D.Q.] folgendergestalt an: ‚Hört mir zu, denn der Schöpfer aller dieser Welten hat mich erleuchtet. Es gibt Neunhundertmillionen kleiner Ameisen wie wir auf der Erde; aber Gott liebt nur meinen Ameisenhaufen; alle anderen sind ihm von Ewigkeit her ein Greuel. Mein Ameisenhaufen alleine wird glücklich und alle übrigen werden ewig unglücklich sein.“
Hier wird man mich sogleich unterbrechen und fragen, wer der Narr gewesen ist, der so unvernünftig Zeug geredet hat. Und ich werde mich genötigt sehen, ihnen zu antworten: „Ihr selbst.“
Kapitel XXII
Gebet
Nicht mehr zu den Menschen, zu Dir wende ich mich, Gott aller Wesen und aller Zeiten! Wenn es schwachen Geschöpfen, die sich im Unermesslichen verlieren und von dem übrigen Teile des Weltalls nicht einmal bemerkt werden, erlaubt ist, Dich um etwas zu bitten, Dich, der Du alles gegeben hast, Dich, dessen Gesetze unwandelbar sind und ewig: siehe mitleidsvoll herab auf die Irrtümer unsrer Natur! Laß diese Irrtümer nicht unser Elend werden! Du gabst uns nicht ein Herz, daß wir einander hassen, nicht Hände, daß wir einander erwürgen sollten. Gib, daß wir einander helfen, die Last des kurzen, flüchtigen Lebens zu tragen; daß kleine Verschiedenheiten unter den Bedeckungen unsrer schwachen Körper, unter unsern unvollständigen Sprachen, unter unsern lächerlichen Gebräuchen, unsern mangelhaften Gesetzen, unsern törichten Meinungen, unter allen in unsern Augen so getrennten und vor Dir so gleichen Ständen, daß alle diese kleinen Abweichungen der Atome, die sich Menschen nennen, nicht Losungszeichen des Hasses und der Verfolgung werden! Gib, daß diejenigen, die am hellen Mittage Wachslichter anzünden, um Dich zu ehren, diejenigen ertragen, die mit dem Licht Deiner Sonne zufrieden sind; daß diejenigen, die ihr Kleid mit einer weißen Leinwand bedecken, um zu sagen, daß man Dich lieben muß, diejenigen nicht verabscheuen, die eben dasselbe unter einem Mantel von schwarzer Wolle sagen; daß es einerlei sei, ob man in einer nach einer alten Sprache gebildeten oder in einer neuern Reihe von Worten zu Dir betet! Gib, dass die, deren Kleid rot oder violett gefärbt ist und die über ein kleines Teilchen eines kleinen Haufens dieses Staubkorns herrschen, und die einige abgerundete Stückchen von einem gewissen Metall besitzen, ohne Stolz dessen, was sie Größe und Reichtum nennen, genießen und daß die andern sie nicht beneiden! Denn Du weißt, daß es unter den Eitelkeiten dieses Lebens nichts gibt, was verdiente, einander darum zu beneiden und stolz darauf zu sein.
Möchten doch alle Menschen sich erinnern, daß sie Brüder sind! Möchten sie doch alle Tyrannei über die Seele ebenso wie den Straßenraub verabscheuen, der ihnen die Früchte ihrer Arbeit und ihres ruhigen Fleißes nimmt! Wenn die Plagen des Krieges unvermeidlich sind, so laß uns doch im Schoße des Friedens einander nicht hassen und zerreißen! Laß uns den Augenblick unsers Daseins anwenden auf gleiche Weise, in tausend andern, verschiednen Sprachen, von Siam bis Kalifornien Deine Güte zu preisen, die uns diesen Augenblick gegeben hat!
Kapitel XXIII
François Marie Arouet de Voltaire (1694 – 1778), Über die Toleranz: veranlaßt durch die Hinrichtung des Johann Calas, im Jahre 1762 (Direktlink zur Digitalisierung): Passim (1763)