Überall Utopisches

Ich weile weiterhin auf meiner Version des Mannschen Zauberbergs, Zeit spielt hier oben keine Rolle und mein Denken schweift schreibend weiter. Es landet nach einigen Sprüngen, Haken und einer gewagten Pirouette abermals bei meinem intellektuellen Steckpferd, dem sogenannten Utopischen.

Genauer gesprochen handelt es sich bei den folgenden beiden TFF’s um zwei unterschiedlich Formen des Umgangs mit diesem öminösen Utopischen, nämlich wiederum um sogenannte Utopik. Einmal fiktional im literarischen Gewand und einmal eher faktisch als philosophische Debatte. Beides sichtet und fabuliert, beides modelliert und analysiert den Zustand des utopischen Denkens. Mithin tangiert es notwendig das erwähnte Utopsiche, also die ontologisch-brisante Sphäre des Noch-Nicht-Seinenden und ihre diversen Objekte, die im Subjekt als Traum oder Utopie erscheinen und objektiv unbestritten wirkmächtige Faktoren innerhalb des Weltgeschehens waren, sind und sein werden.

Was also sagen die Zeugnisse und die Zeugen über das so zwielichtige, so schillernde Thema, das mich seit Studientagen begleitet und vermutlich lebenslang faszinieren wird? Lassen wir sie für sich selbst sprechen und protokollieren unterdessen eilfertig für uns ihre Aussagen zu Visionen, Zukunftsphantasien, ja allgemein zum Utopischen:


Juli Zeh: […] Ist es quasi so, dass uns die Visionen ausgegangen sind? Oder …

Richard David Precht [kurz unterbrechend]: Fallen ihnen welche ein?

Juli Zeh [nachfragend]: … die man noch haben könnte?

Richard David Precht [präzisierend]: Sagen Sie mal gesellschaftliche Visionen, die Sie im Raum stehen sehen, an die Menschen glauben, bei ’ner guten Zukunft …

Juli Zeh [kurz unterbrechend]: Könnten? Oder tatsächlich, …

Richard David Precht [letztlich präzisierend]: Die da sind …

Juli Zeh [nochmals einhankend]: … aktiv glauben?

Richard David Precht: Naja, die viele Menschen haben vielleicht. Wo Sie sagen: In zwanzig Jahren wird es auf der Erde besser sein, weil es wird das und das Gute passieren.

Juli Zeh: Na, da müssen ‚mer wohl alle passen, oder? Also es gibt momentan keine Vision, die wirklich von mehr als vielleicht drei, vier Leuten geteilt wird und die sich auf was Positives richtet. Da fällt mir nichts ein, also vielleicht ein Gegenmodell zum Kapitalismus, aber das ist nichts, wo wir flächendeckend dran glauben. Also da kann man drüber nachdenken, da kann man vielleicht was entwickeln und mal ein Buch drüber schreiben und so weiter. Das schon, aber wir reden ja jetzt über was, was die Massen elektrisiert, wo Leute sagen: „Dafür gehe ich auf die Straße! Dafür stehe ich ein; meine Lebenskraft, meine Zeit geht in dieses Projekt, weil das überzeugt mich.“

Richard David Precht [nickend und kopfschüttelnd]: Das sehe ich auch nicht! Ich sehe zwei Visionen, die von Minderheiten verfochten werden. Die eine Vision ist, dass das biologisch so unvollkommene, stinkende, Energie verbrauchende Experiment „Mensch“ zu Ende geht. Das wird im Silicon Valley erträumt. Von Leuten wie Ray Kurzweil, der eine eigene Uni gegründet hat – der Transhumanismus, der sagt: Wir werden irgendwann unsterblich werden; wir werden mit Maschinen verschmelzen; wir werden irgendwann eben keine biologische Grundlage mehr haben, sondern wir werden einen Informationsspeichersystem werden; wir werden uns in einer Cloud verewigen und das wird ganz großartig! … das hat übrigens den großen Vorteil: Dann stört auch der Klimawandel nicht. Wenn wir kein biologischer Organismus mehr sind, sondern die Menschheit dann ihre biologisch Hüller verliert, dann kann der Planet eigentlich ruhig den Bach runter gehen. Das ist die eine Vision. Das ist ja eine klare Zukunfts …

Juli Zeh [kurz einstreuend]: Man braucht den Planeten ja gar nicht dazu. Das kannst’e ja im Weltraum stattfinden lassen. Wenn alles nur noch Kommunikation ist. Du brauchst nur ne Energiequelle …

Richard David Precht [wieder übernehmend und fortführend]: Klare, klare Zukunftsvision. Wir verlassen die menschliche Hülle. Das ist die eine Vision. Die wird ganz, ganz stark von mehreren wichtigen Exponenten im Silicon Valley vertreten. Und dann gibt es noch diejenigen, die sagen: Wir müssen endlich aus dem Kapitalismus raus. Weil, dann müssen wir nicht mehr wachsen, dann müssen wir nicht mehr, mehr Energie verbrauchen und so weiter, ein anderes Verteilungssystem … – die wird allerdings auch nur von einer kleinen Minderheit verfochten. Und ich gebe ihnen sofort Recht. Für die große, breite Menge gibt es im Augenblick keine positive Vorstellung von morgen und übermorgen.

Richard David Precht (1964 – ) & Juli Zeh aka Julia Barbara Finck (1974 – ), Gespräch unter dem Titel „Mehr Fortschritt, mehr Wohlstand, mehr Glück?“, in: Precht – 6:23-8:43 [28.04.2019, ZDF; Direktlink: ZDF]


[Die Geräusche eines anfahrenden Zuges im Hintergrund, leiser werdend] Die größte Angst ist, vom fahrenden Zug zu fallen; hinter ander’n Ländern zurückzubleiben; dass wir von China überrollt werden können, das ist die Panik! Deswegen wird alles Überflüssige abgeschafft. Er glaubt nicht, dass Kunstunterricht in zehn Jahren noch existieren wird. Utopien, für Gesellschaft und Schule – Wer sind wir? Was brauchen wir? Was wollen wir ändern, was erhalten? -, das können die von ihnen Ausgebildeten nicht mehr leisten; das kann die nächste Generation nicht – unmöglich! Die sind nur kanalisiert auf das, was sie ihnen vorgebetet haben. Aktives Gestalten findet nicht mehr statt – können die einfach nicht!

Inga Helfrich (1966 – ), Ich Wir Ihr Sie – 37:41-38:20 [Direktlink: BR-Podcast]


Ein populärer TV-Philosoph und eine renommierte Schriftstellerin im Dialog, eine zufällige Figur aus einem zufällig zum einschlägigen Thema passenden Hörspiel kommen einhellig zum analogen, negativen Urteil: Schlechte Gegenwart für gute Geschichten über die Zukunft.

Damit sprechen sie ein Gefühl aus, das mich immer wieder aufs Neue heimsucht und Jahr um Jahr umtreibt: Utopisches, Utopien und zeitgenössische Utopielosigkeit, Dystopietendenz zuletzt. Was je nach Utopieverständnis schnell in einen schlimmen (sozial-)psychologischen Verdachtsmoment münden kann: (historisch-zivilisatorische) Hoffnungslosigkeit?

Ohne Attribut: Nein, mir geht’s gut! – mit: Eventuell, vermutlich leider sogar, Ja!

Für mich ist also das Attribut „historisch-zivilisatorisch“ im Kontext des Utopischen entscheidend, denn an kleinen, individuellen Utopien mangelt es – auch ich bekenne mich: schuldig! – ebenso wenig wie an kleinen, kollektiven Utopien, die „von vielleicht drei, vier Leuten geteilt“ werden. Diese kleinen Visionen können glücken und individuell verzücken, aber das war’s dann auch schon wieder. Kollektiv und vor allem „historisch-zivilisatorisch“, sind sie kaum als Parameter quantifizierbar, kaum als Fußnote qualifizierbar.

Mit dem hehren Attribut sieht die Sache unklarer, womöglich sogar düster aus: Was global, national, regional (, bisweilen sogar: inner-individuell) als Pluralität und Wettbewerb von Ideen und Argumenten positiv betrachtet werden kann, kann ebenso als Zerstrittenheit und Konkurrenz gewendet werden. Im Ergebnis landen wir schlimmstenfalls beim Hobbschen Universalkrieg einer logisch endlichen, praktisch aber unendlichen Anzahl von Einzelinteressen oder, im Kontext gesprochen, Einzelutopien, die im epischen Kampf um die Seelen und Bewusstseine der Menschen liegen. Ohne Sieger in diesem ewigen Wettstreit – und jetzt wird es eigentlich problematisch – lässt sich keine demokratisch legitime Politik denken und auch keine Gruppe bis hin zur Menschheit als funktionale Gemeinschaft vorstellen.

Politik, Utopisches und Utopie sind somit aufs Fatalste verbunden und bedürfen einander, neben anderen Quellen, wechselseitig. Nach unzähligen angeblichen Enden der Geschichte sind wir im 21. Jahrhundert in einer globalen Heteronomie sonders gleichen gelandet. Alle wollen leben und die meisten mehr oder weniger Geld verdienen, aber damit endet die Gleichheit auch schon längst. Ob in der Familie, der Nachbarschaft, der Stadt oder dem Land, auf der Welt allemal, es herrschen der Unterschied, die Vielfalt, das Andere. Globalisierung und Normierung sind real, aber ein Kampf gegen Windmühlen. Jeder für sich und für die seinen das Beste, und damit zum Besten aller – so ungefähr lautet das moderne, letztlich heraklitsche Credo vom Krieg als Vater der Geschichte nunmehr in unheiliger Allianz mit neoliberalem Konsum- und Finanzkaptilaismus, der nebenher mal so eben die Lebengrundlage auf Erden dahinrafft – tragischerweise nicht nur diejenige vieler Tiere und Pflanzen, sondern sogar diejenige der eigenen Gattung. Die homo oeconomicus marginalisiert den homo sapiens und bedroht solcherart sich selbst, seine eigene Zivilisation steht auf dem Spiel.

Glücklicherweise zugegeben, es gibt Solidarität, Freundschaft, Kooperation, Verständnis, Kompromisse, Gastfreundschaft und so vieles Schönes, Gutes und Wahres mehr; wo aber ist die auf humanem Weg siegreiche „historisch-zivilisatorische“ Utopie, die Hoffnung gibt und wirksam wirksame Politik inspiriert, möchte man abschließend fragen? Denn sonst bleibt das Urteil aller, zugegeben einseitig und buchstäblich beliebig ausgewählten Akteure salopp gesagt: „Wat, äschte und geräschte Udophie? Sowas Quersches gibbet bei uns net!“

Mit diesem mundartlich-komischen Auswurf möchte eine ewige Kontroverse harsch aber kontrolliert beenden, denn, wenn man einmal ambitioniert anfängt, sieht man überall Utopisches; ebenso leicht übrigens – liebe Verschwörungstheoretiker und -fans – wie man überall die „23“ findet oder Indizien entdeckt, das „SIE“ am Werk waren. Will abschließend, maximal verkürzt sagen: Utopisches und Utopien gegenüber kruden, negativen wie positiven Scheinerzählungen aka Verschwörungsteheorie, Fake-News etc. sind aller Liberalität in Sachen Begriffsontologie zum Trotz wie Äpfel und Bitumen – grundverschieden, die eine definitiv gesund, die anderen sogar giftig!

In Abwehr und Neugier wie froher Erwartung kleiner, mittlerer und großer Utopien, Euer Satorius

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