Unsere Demokratie

Die Räte sagen: Wir wollen mitbestimmen. Wir wollen unsere Stimme irgendwo in der Öffentlichkeit zu Gehör bringen. Da das Land zu groß ist, dass alle zusammen mitbestimmen können, brauchen wir einen öffentlichen Raum innerhalb dieses Landes. Die Zelle, in der wir unsere Stimmzettel abgeben, ist zweifellos zu klein, denn in dieser Zelle ist Platz nur für einen. Die Parteien sind dafür ganz ungeeignet; da sind wir doch nur Stimmvieh. Wenn aber auch nur zehn Leute um den Tisch sitzen, da sagt jeder seine Meinung, da hört jeder die Meinung des anderen, da kann eine vernünftige Meinungsbildung durch den Austausch von Meinungen stattfinden.

Hannah Arendt (1906 – 1975), Macht und Gewalt, S. 132f. (1970)


Soso, das sagen also die Räte über das Ideal politischen Handelns. Wenn ihre Mitglieder weder arbeiten noch herstellen müssen, dann bestimmen sie kollektiv mit, bilden sich unterdessen öffentlich und wechselseitig im freien Diskurs ihre Meinung und ermächtigen delegierend schließlich eine Regierung, die an der Spitze einer vielstufigen Pyramide die Ausführung des Volkswillens mit dem Ziel des Gemeinwohls unternimmt. So ungefähr jedenfalls verstehe ich Arendts utopischen Entwurf. Kenner nennen dieses Ideenbündel sogar eine Demokratietheorie, wobei ich als Laie, der nur Fragmente des Primärtextes kennt, eher von einer Machttheorie mit praktisch-politischen Randbemerkungen sprechen würde.

Was würden jene ominösen Räte wohl von der modernen Demokratie denken, wie wir sie heutzutage weltweit entdecken und vor Ort hautnah erleben; wie würden sie uns bezeichnen, wenn wir alle zwei bis fünf Jahre in einer kleinen Zelle respektive gemütlicher per Brief, wie ich es übrigens bevorzuge, unsere paar Kreuze machen oder komplexer Weise unsere Stimmen verteilen und bündeln? Etwa auch als bloßes Stimmvieh, das meistens ganz ungeeignete Parteien und ihre Mitglieder, also vornehmlich Berufspolitiker, als Repräsentanten erwählt und in die fernen Parlamente entsendet, sich selbst aber kaum noch um politische Bildung, ernsthafte zwischenmenschliche Meinungsbildung und lebendige Partizipation bemüht – von konkreter Gesaltung gar nicht zu sprechen?

Aus dieser utopischen, genauer direkt- und basisdemokratischen – verwirrenderweise mitunter als sozialistisch diffarmierten – Warte betrachtet, wird das Urteil über Status und Qualität der zeitgenössischen Demokratie wohl recht eindeutig negativ ausfallen müssen, von wenigen Ausnahmen wie bspw. der Schweiz mal abgesehen. Zumal die Bedingungen sich zusätzlich nochmals verschärft haben: Die Skalierung des Systems wurde mit Abermillionen Bürgern maximiert, im Angesicht kollossaler Bürokratien sowie einem unüberschaubaren Institutionengeflecht hat sich die Lage überdies kompliziert und zuletzt wurden vor dem Hintergrund eines globalisierten Kapitals die vielen (Volks-)Souveräne fragmentiert und dadurch marginalisiert.

Ist also tatsächlich etwas faul im demokratischen System, es insgesamt womöglich aus dem Fugen geraten und in uferlose wie beliebige Anonymität abgedriftet? Sind wir tatsächlich müde und desinteressiert, desillusioniert und abgelenkt?

Ich fürchte, an dieser Diagnose ist durchaus was dran! Wenn ich es mir recht überlege, so zolle auch ich nach 18 Jahren des Wählens und versuchten Politisch-Seins diesem unerfreulichen Urteil von Seiten der Arendtschen Räte prinzipiellen Respekt sowie leider sogar Sympathie und Zustimmung.

Denn was heißt es heutzutage qualitativ, wenn man „politisch“ oder sogar „politisch-aktiv“ ist, auf wen treffen diese Attribute quantitativ überhaupt zu? In nüchternen Zahlen hinzugedacht, dass eine Wahlbeteiligung von rund 70% bereits als „herausragend hoch“ kommentiert wird, sie sich aber tendenziell eher in Richtung 50% entwickelt, und, dass wenig mehr als 1% der Bevölkerungen Mitglieder einer Partei, des trotzdem weiterhin wichtigsten Akteurs im System, sind, geben diese Zahlen, so inhaltsinvariant sie zumal noch sind, nicht eben Anlass zu Zufriedenheit, Optimismus und großer Hoffnung.

Das Zoon politikon des 21. Jahrhunderts scheint nicht mehr allzu politisch zu sein, weit weniger an gemeinsamem Handeln als Basis echter Macht interessiert zu sein, als notwendig oder auch nur gut für das Funktionieren einer legitimen Demokratie sein dürfte. Herrschaft und Souveränität verlieren an Reiz, öffentlicher Diskurs scheint vielen zu zeitrauben, zu unbequem, zu anstrengend, wo doch die Regelung der eigenen Bedürfnisse und Angelegenheit, das Privatleben also, schon so viel Zeit und Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen, von Karriere und Kunst, Status und Prestige ganz zu schweigen. Der zentrale Wert der Freiheit wird als Freizeit uminterpretiert, nicht als Auftrag und Gelegenheit, freizügig und freiwillig seine Meinung zu bilden, sie einzubringen und auch durch Argumente andere selbstlos verändern zu lassen. Schlimmstenfalls ist das Thema Politik Anlass für große Emotionen, tiefe Gräben oder gar für Tabus – drei extreme Umgangsformen, die ich allesamt mehrfach und erquicklich selbst erlebt und erlitten habe.

Wie dem auch sei, es gibt jedenfalls viele Widerstände gegen echte Demokratie. Sogar womöglich noch weitere Angriffspunkte als die angerissenen allgemeinen Aspekte, die dann aber zugegebenermaßen hochfiktional und spekulativ überspitzt daherkommen. So bin ich per Zufall, Wochen nachdem ich diesen Artikel in seiner Rohform verfasst hatte, auf folgenden Dialog in einem Hörspiel gestoßen, das ich gerne gelegentlich verfolge:


Erikson: „Die Jugend [@Satorius: Gemeint sind damit die eigentlichen Protagonisten der Serie, die bei ihren Recherchen zum einschlägigen Thema von den zwei Verschwörern belauscht werden] hat selbst die Metapher vom Hirten und den Schafen gebraucht, die doch so treffend die Rechtfertigungsideologie beschreibt: Schafe brauchen einen Anführer, der sie beschützt und behütet; und das Volk – liebste F. – mag zwar aus Menschen bestehen, doch sie gebärden sich bekanntermaßen wie dumme Schafe.“

F.: „Es ist kein Geheimnis, dass die Menschheit zum allergrößten Teil aus Herdentieren besteht. Auf unserer Erde gibt es nur wenige wahre Anführer; der Großteil ist damit zufrieden, brav zu folgen.“

Erikson: „Es war keine einfache Aufgabe, aber die vergangenen Jahrhunderte haben zu unserer heutigen Regierungsform geführt. Um Voltaire zu paraphrasieren: Das Volk ist irrational, triebhaft und rationalen Argumenten nicht zugänglich; die Eliten hingegen …“

F.: „… ja, wir übernehmen die Verantwortung und besitzen genügend Weisheit, Zeit und Geld, um eine schützende Hand über die triebhafte Herde legen zu können. Doch wie erreicht man diesen Zustand, Erikson?“

Erikson [freundlos lachend]: „Soll das ein Test sein? Gut! Ich spiele mit: … natürlich, indem man die Demokratie soweit entleert, dass sie nur noch auf den bloßen Wahlakt beschränkt ist – eine perfekte Illusion, dass man den Hirten selbst wählen könne. Denn alle potentiellen Hirten werden natürlich von uns gestellt. Aber selbst der bloße Wahlgang scheint den meisten Schafen bereits zu aufwändig zu sein, wenn man die Wahlbeteiligung der letzten Jahre in fast allen demokratischen Staaten betrachtet.“

F.: „Doch dieser Zustand ist nicht vom Himmel gefallen: Kontinuierliches Demokratiemanagement ist das Stichwort – Brot und Spiele, wenn Sie so wollen. Opium für das Volk, wie Karl Marx bereits in seiner Religionskritik sagte. Schafe wollen abgelenkt werden, egal ob durch Religion, Konsum, Sportereignisse oder Skandale der High Society. Und sie überlassen die lästigen Aufgaben gerne denen, die sich dazu berufen fühlen oder besser geeignet scheinen.“

Erikson [lachend]: „Zum Beispiel uns …“

F.: „… zum Beispiel uns. [Gläser, die angestoßen werden, klirren, malizöses Lachen von beiden]

Catherine Fibonacci (? – ), Offenbarung 23Demokratie, Folge 86: Track 11, 1:00 – Track 12, 1:40 (2019)


Im weiteren Verlauf dieser Folge ist zudem die Rede von der Macht des kalkuliert gesäten Zweifels an demokratiefreundlicher Kritik besagter Widerstände, wie sie wohl auch die Räte laut werden ließen, gäbe es sie denn. Wie auch weiterführend davon gesprochen wird, dass Minderheiten (Muslime, Juden, Arbeitslose, Migranten, etc.) als Sündenbock diffamiert werden und so zum Ziel potentiell demokratieförderlicher Energien und Aktivitäten gemacht werden, sodass der Bürger statt positiver Selbstermächtigung und – regierung, negativ gewendet, fixiert und damit politisch abgelenkt werden.

Auch wenn es hierbei definitiv verschwörungstheoretisch und eher narrativ als deskriptiv zugeht, so bespricht diese Episode neben den zuvor besagten, weitere denkbare Stressoren unserer Demokratie, durch die insgesamt das Arendtsche Ideal einer Herrschaft für das Volk durch das Volk in Zweifel gezogen werden kann: Propaganda, negative Massenpsychologie und pessimistische Anthropologie sowie der Egoismus und Paternalismus konspirativer Eliten.

Alles in allem gibt es also eine breite Phalanx demokratiefeindlicher Antagonisten, die ich hier nur aus rhetorischen Gründen personifiziert habe, die also in Wirklichkeit vielmehr abstrakter und struktureller Natur sein dürften. Solcherart wird letztlich aus dem eingangs zitierten Ideal des freien Diskurses als Basis direkter demokratischer Meinungs- und Willenbildung eine gegenwartskritische Kontrastfolie. Ein utopischer Spiegel, in dem wir unsere politische Wirklichkeit als Verzerrung und Entfremdung von besserer Demokratie erblicken könnten, wenn wir argumentativ stark pessimistisch und einseitig negativ zu Werke gehen, wie ich das hier und heute getan habe.

Denn klar ist ebenso, dass es die dialektisch entgegengesetzte, andere Position gibt: Demokratie ist bekanntlich die schlechteste aller Staatformen, mit Ausnahme aller anderen, um abschließend den weisen Winston Churchill zu paraphrasieren. Denn sie ist immer ein historischer Prozess, hat als solcher ihre Höhen und Tiefen, vermag sich aber gerade deshalb im Gegensatz zu kollektivistischen, autokratischen oder gar faschistoiden Herrschaftsformen zu wandeln, anzupassen und zu reifen. Es obliegt jeder neuen Generation von Bürgern, ihre jeeigen Demokratie neu zu beleben und somit hängt ihre Qualität stets neu davon ab, ob und wie weit ihre Mitglieder bereit und willens sind, zu diskutieren, zu partizipieren und sich schließlich mehr direkt oder minder repräsentativ selbst zu regierieren.

Was ihr wollt und könnt, nein, was wir wollen und können bestimmt unseren Status irgendwo im politischen Kontinuum zwischen Ratsmitglied und Stimmvieh. Diese Freiheit besitzen wir, diese bürgerliche Pflicht ist uns aufgeben – machen wir also besser das Beste daraus: Unsere Demokratie bleibt unsere Wahl, wird unsere Zukunft!

Mit demokratischem Gruß, Euer Satorius

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