Von Zauberbergen, Sitzenbleiben und der Borderline zwischen Olymp und Hades

Es ist wie auf dem Gymnasium, wenn es entschieden war, daß man sitzen blieb und nicht mehr gefragt wurde und nichts mehr zu tun brauchte. Zu diesem glücklichen Zustand bin ich nun endgültig wieder gediehen. Ich brauche nichts mehr zu tun, ich komme nicht mehr in Betracht, ich lache über das Ganze. Wollen Sie Schokolade? Bedienen Sie sich! Nein, Sie berauben mich nicht, ich habe massenweise Schokolade auf meinem Zimmer. Acht Bonbonnieren, fünf Tafeln Gala-Peter und vier Pfund Lindtschokolade habe ich da oben, – das alles haben die Damen des Sanatoriums mir während meiner Lungenentzündung zustellen lassen . . .« Irgendwoher gebot eine Baßstimme Ruhe. Herr Albin lachte kurz auf, – es war ein flatternd-abgerissenes Lachen. Dann ward es still in der Liegehalle, so still, als sei ein Traum oder Spuk zerstoben; und sonderbar klangen die gesprochenen Worte im Schweigen nach. Hans Castorp lauschte ihnen, bis sie völlig erstorben waren, und obwohl ihm unbestimmt schien, als ob Herr Albin ein Laffe sei, so konnte er sich doch nicht eines gewissen Neides auf ihn erwehren. Namentlich jenes dem Schulleben entnommene Gleichnis hatte ihm Eindruck gemacht, denn er selbst war ja in Untersekunda sitzengeblieben, und er erinnerte sich wohl des etwas schimpflichen, aber humoristischen, angenehm verwahrlosten Zustandes, dessen er genossen hatte, als er im vierten Quartal das Rennen aufgegeben und »über das Ganze« hatte lachen können. Da seine Betrachtungen dumpf und verworren waren, so ist es schwer, sie zu präzisieren. Hauptsäch- lich schien ihm, daß die Ehre bedeutende Vorteile für sich habe, aber die Schande nicht minder, ja, daß die Vorteile der letzteren geradezu grenzenloser Art seien. Und indem er sich probeweise in Herrn Albins Zustand versetzte und sich vergegenwärtigte, wie es sein müsse, wenn man endgültig des Druckes der Ehre ledig war und auf immer die bodenlosen Vorteile der Schande genoß, erschreckte den jungen Mann ein Gefühl von wüster Süßigkeit, das sein Herz vorübergehend zu noch hastigerem Schlage erregte.

 

Thomas Mann (1875 – 1955), Der Zauberberg, S.116f. (1924)


Während unterdessen ein zweiter größerer Artikel rund um die „Diskurse der Nacht“ und das noch inhaltslos neue Thema „Lebensräume“ in der Mache ist, habe ich das Bedürfnis nach Zerstreuung in einem fiktionalen Kleinod. Namentlich habe ich mich seit ein paar Wochen in ein skurriles Sanatorium in den Davoser Alpen verirrt. Bisweilen geht es dort langatmig, anspruchsvoll und spannungsarm zu, dann aber faszinieren mich illustere Persönlichkeiten und philosophische Anwandlungen doch wieder so sehr, dass ich mich weiter des Weges bis zur beinahe 1000. Seite des monumentalen Romans von Thomas Mann mache.

In obigem Auszug geht ein lebensüberdrüssiger Dandy (sog. „Laffe“) auf seiner ganz persönlichen Borderline zwischen Leben und Ableben, regt damit die Sanatoriumsgesellschaft insgesamt und den bisher recht voyeuristisch gehaltenen Protagonisten Hans Castorp zu Refelxionen über Ehre und Schande an, denen ich nur zustimmen kann. Ich bin zwar selbst nie sitzengeblieben, konnte mich aber auf meine Weise frühzeitig vom Joch der Ehre befreien und genieße seither die eine oder andere „wüste Süßigkeit“.

Ob dieser Lebensstil, wie oben zu lesen, notwendig zu einem „Russischen Roulette“ mit dem Tod als Spielleiter bzw. Mitspieler werden muss, wage ich zwar zu bezweifeln; dennoch glaube auch ich, dass ein sanftes Abstand nehmen vom Selbst den Menschen entlastet; eine milde Distanzierung vom Guten wie vom Bösen wenigstens das Denken befreit; ein tendenzielles Aufgeben von Kontrolle und Herrschaft über Geist und Körper das Bewusstsein transzendiert. Ich stimme also in Anbetracht aller Konsequenzen und in Manns/Castorps Worten der These vom Verzicht auf Ehre zugunsten von schandvollem Genuss grundsätzlich zu.

Denn schon die alten Griechen wussten um die Nützlichkeit und Bedeutsamkeit von Fest, Rausch und Exzess als einer sehr simplen, individuell unanstrengenden Sozialtechnik. Die jährlichen Dionysien waren sicher auch nicht zufällig die Geburtsstunde des klassischen Theaters, denn wer Ehre fahren lässt, wird nicht nur verzückt, sondern zumeist auch fantasievoller als seine nüchternen Mitbürger. Ohne Aristoteles‘ „Goldene Mitte“ oder Epikurs „kluges Maß“ jedoch, soviel gestehe auch ich zu, endet schandvoller Hedonismus früher oder später vor den Toren des Hades, also nicht am Fuße des Olymps oder in den Armen der Musen.

Euer musisch-maßvoller Hedonist und Freund der Schande, Satorius

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