Wahr oder unwahr – das ist hier die Interpretation

Entbirgt Sprache Seiendes, bezeichnen Worte Bedeutungen, ja einen fundamentalen Sinn, der hinter ihrer Lautgestalt und den zur Konservierung verwendeten Buchstaben zu Grunde liegt, fern allen arbiträren Zufällen? Ja, sagt Gadamer und ist damit der gleichen Ansicht wie die meisten unter uns; Nein, sagen hingegen auf ihre je ganz eigene Weise sowohl Derrida als auch Nietzsche, uvm.

Ich bin da höchst ambivalent, wandle mich, wende mich von der Mehrheit ab und tendiere zunehmend zur Fraktion der Skeptiker. Ich hoffe noch auf die monistische Kraft der Sprache, sei sie gesprochen oder geschrieben, befürchte jedoch, dass sich ihre „absolute Wahrheit“ letztlich performativ-paradox verflüchtigen wird. Um es positiv zu wenden: Ich glaube pragmatisch an die kommunikative Funktion, wie ich moralisch von der Möglichkeit und Notwendigkeit einer vernünftigen Verständigung überzeugt sein möchte; halte zudem eine von totalitären Zwängen befreite Sprache für wünschenswert, weil sie frei wäre für Neuheit, Zukunft und Fortschritt, aber auch für ein bloßes Spielen im Garten der rhetorischen Künste, insbesondere im Sandkasten poetischer und literarischer Leichtigkeiten.

Mit einer Zitatmontage gesprochen: Ist eine Rose eine Rose und wird immer eine Rose bleiben oder könnte dereinst eine Rose etwas anderes sein, vielleicht gar eine Rose?

Es mag Bereiche geben, in denen zu Recht auf Exaktheit und Stabilität von sprachlichen Zeichen gepocht wird: Recht, Mathematik, naturwissenschaftlich-technische Disziplinen, analytische Philosophie und dergleichen mehr, dennoch sollten wir zusammen mit den Sprachkritikern anerkennen, dass ein lebendiger Austausch zwischen Subjekten sich weder auf objektive, noch gar auf totale Gewissheiten reduzieren lässt. Im Zweifelsfall muss man darüber reden, nachhaken, fragen, dabei stotternd, erklärend und um Verständigung ringend, immer der Möglichkeit gewahr, dass die eigene Interpretation fehlgehen könnte, daneben liegen können muss. Je mehr Zurückhaltung ist dabei angeraten, desto fremder der Mensch, desto indirekter und technischer das Medium des Gesprächs, desto größer die eigenen Erwartungen, das eigene Ego.

Also kurz und gut: Nehmt mich, meine und die Sprache überhaupt nicht sonderlich ernst; habt allem voran Freude im spielerischen Umgang mit Sender, Empfänger und eurem Medium, vertraut auf die gelingende Praxis und lasst die Theoretiker in ihren kargen Kämmerlein einsam, trost-, furcht- und fruchtlos vor sich hingrübeln!

Im wilden Wechsel von dunklem Sinn und lichtem Unsinn, Euer Satorius


Natürlich hat Gadamer auf seine Weise recht. Wer redet, will verstanden werden. Nur, wie Derrida sogleich bemerkt hat, der Wille ist ein äußerst fragwürdiger Garant dafür, dass das Verstandenwerden auch realisiert wird. Wieso sollte der Wille des einen den anderen verpflichten? Und außerdem: Wieso sollte man eigens etwas wollen, zu dem soweiso alle verpflichtet sind. Die Garantie auf Verständigung, die der Wille geben soll, muß den weiten Umweg über die Installation als transzendentalpragmatische Norm nehmen, um den Leser überhaupt zu erreichen. Und selbst dann hängt alles davon ab, ob er auch bereit ist, sich der Norm zu fügen. Das aber ist zunehmend unwahrscheinlich. Es genügt jemand wie Nietzsche, der kurzerhand erklärt:

„Man will nicht nur verstanden werden, wenn man schreibt, sondern ebenso gewiss auch nicht verstanden werden.“ (Nietzsche: KSA 3, S. 633)

Den Preis den Gadamers Hermeneutik entrichtet, um der Möglichkeit der Alternative von Verstehen und Missverstehen zu entgehen, besteht letztlich in der Streichung des Lesers als Adressaten der Interpretation, und zwar zugunsten von Sedimenten des Seins, die sich an seinen Entscheidungsspielräumen vorbei in ihm ablagern.

„Die eine träumt davon, eine Wahrheit und einen Ursprung zu entziffern, die dem Spiel und der Ordnung des Zeichens entzogen sind, und erlebt die Notwendigkeit der Interpretation gleich einem Exil. Die andere, die dem Ursprung nicht länger zugewandt bleibt, bejaht das Spiel und will über den Menschen und den Humanismus hinausgelangen, weil Mensch der Name des Wesens ist, das die Geschichte der Metaphysik und der Onto-theologie hindurch, das heißt im Ganzen seiner Geschichte, die volle Präsenz, den versichernden Grund, den Ursprung und das Ende des Spiels geträumt hat.“ (Derrida: Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaften vom Menschen. In: Die Schrift und die Differenz, S. 441)

Matthias Schöning, Gesten der Interpretation, Gadamer und Derrida, S. 6f.

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