Welche Wirkung werden die technologischen Neuerungen, die seit Anfang der neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts den Alltag und die Köpfe der Menschen fundamental verändern, auf die Gesellschaft im Allgmeinen und die Politk im Besonderen haben?
Kompakter und klarer könnte eine Frage kaum ausfallen; spannender und aktueller kaum sein. Klar, jeder hat hierzu sofort einige Intuitionen, eigene Erfahrung und etliche Meinungen. Stellt man diese Frage jedoch ernstlich, eventuell gar unter wissenschaftlichem Anspruch, sei er nun philosophisch, psychologisch, soziologisch akzentueirt oder sonst wie interdiszilpinär gemischt gemeint, wird es herausfordernd bis heikel. Das Leben selbst transmutiert, eine einmalige und neue Entwicklung ist im Gange unter den Oberflächen und hinter den Vorhängen von politischer Korrektheit und Normalität.
Klar ist, wenn auch vieles im Laufe der Geschichte(n) wiederkehrt, so gibt es doch echte Progression und Innovation: Vom „Scherbengericht“ der Griechen bis zu heraufdämmernden neuen Formen wie „Digitaler Demokratie“ und „Techno-Kollektivismus“ ist es ein kultur-historisch weiter Weg.
Wenn also „Re-Nationalisierung“, „Neu-Populisimus“, „Ent-Politisierung“ und „Liberalisierung“ nicht überhand nehmen, könnten wir an der Schwelle zu einem Zeitalter echter politischer Metamorphosen stehen: Block-Chain, Web 2.0, Cyborgisierung und Digitalisierung insgesamt haben auch politisch ein revolutionäres Potential, soviel ist wohl unstrittig; strittig hingegen ist, wann sich dieses Potential bahnbricht, wo und wie es sich historisch somit realsiert und manifestiert.
Europa und China sind hier zwei Kandidaten, bei denen Neuerungen in der einen oder anderen politischen Richtung denkbar oder bereits absehbar sind; Schwellen- und Entwicklungsländer bieten neuen Formen und Strukturen von Herrschaft und Markt einen Entwicklungsraum, wenn es auch weltweit an Versuchen der zwanghaften Konservierung und reaktiven Regulierung nicht mangelt.
Das Neue kommt notwendig auf uns zu, die Frage ist hierbei nicht das generelle „ob“, sondern das konkrete „wer, wann, wo und wie“ dieser Wandel stattfinden wird. Ich jedenfalls glaube und hoffe gleichermaßen, dass aus dem Schosse des 21. Jahrhunderts echte politische Innovationen hervorgehen, welche die seit Aristoteles so zyklisch erscheinende Welt der politischen Systeme aufbrechen und erneuern. Dass hierbei gerechtere wie ungerechtere Formen von Politik, Regierung und Öffentlichkeit entstehen werden, ist ebenso logisch wahr, wie es inhaltlich banal ist.
Bei aller prognostischen Offenheit hinsichtlich Weg und Wesen bleibt zuletzt, kurz die Gründe für die steile Behauptung darzulegen, es gebe notwendig aus- und anstehende Updates, also nicht bloßes Wiederkehren des abstrakt immer wieder Gleichen unter historisch konkret unterschiedlichem Gewand: Die zivilisatorischen Herausforderungen sind derart extrem, global und komplex, dass die alten Formen von Wirtschaft und Politik (ich muss hier glücklicherweise keine Klärung dieses [Miss-]Verhältnisses vornehmen) sie nicht (mehr) zu lösen vermögen; die Quantität und Qualität der Mittel zum politischen Zweck erweitert sich exponentiell; die Grenzerfahrung wird zum generellen Narrativ der Menschheit und fordert Umorientierung; Information, Vernetzung und Globalisierung haben stark integriert und wenn nicht harmonisiert, jedenfalls standardisiert.
Man darf also m.E. gespannt sein auf neue Impulse und Konzepte, insbesondere bin ich gespannt darauf, wer die Avantgard sein wird, die angeblich per selbstregulatorischem System flexible und lernfähige, jedoch auch konservative bis ineffiziente Demokratietradition oder die nicht minder ambivalenten Formen von Kollektivismus und Marktliberalismus…
… kritisch bis neugierig, offen bis sorgenvoll der globalen Zukunft zugewandt, harrend der Updates auf „Politik 2.0“, Euer Satorius
Ja, es ist das aktuelle große politische Problem. Die neuen Technologien haben die Möglichkeiten ins Unermessliche schießen lassen. Was macht man nun, da die Vielfalt ihre Zügel ablegt? Letztlich hat sie das nicht ganz getan, insofern Google die Rolle der Regierungen übernommen hat. Google hält die Vielfalt im Zaum, doch wie lange noch? Bereits Titus Livius stellte sich diese Frage: Was würde die Menge machen, wenn es nicht zu einem bestimmten Moment einen König, einen Kaiser, einen Tribun gäbe, der sie in Schach hält? Ein Fixpunkt ist wie ein Konzept in der Philosophie – die fluktuierende Vielfalt wird von ihm geschluckt. Das kann man sich auch als eine architektonische Form vorstellen: Von ägyptischen Pyramiden bis zum Eiffelturm gibt es einen Fixpunkt und ein breites Fundament, das den Raum absorbiert. Heute haben die neuen Technologien diese Struktur gesprengt. Man ist mit der Vielfalt als solcher konfrontiert. Jeder besitzt mehr globale Hinweise über den Zustand der Welt als Augustus, Napoleon oder sogar Mitterand. Die Entscheidungsgrundlage ist heute bei jedem – bei Milliarden – reicher als durch alle Fixpunkte der Vergangenheit.
Philosophie Magazin: Und dennoch hat man den Eindruck, dass alles schwimmt …
Das ist heute das große Problem: Kann man wirklich auf Fixpunkte verzichten? Leibniz meint, wir brauchen einen Fixpunkt, nämlich Gott, um kommunizieren zu können. Ich spreche in diesem Moment nicht mit ihnen: Sie anworten mir nur, weil Sie mit Gott sprechen und Gott mir ihre Antwort übermittelt. Es erscheint absurd, den Umweg über ein drittes Glied gehen zu müssen, doch sobald es mehr als drei Gesprächspartner gibt, ist es ökonomischer, über einen Fixpunkt zu gehen, der jedem die Informationen übermittelt, als sie individuell von jedem zu jedem übermitteln zu müssen. Heute hat das Netz den Platz Gottes eingenommen. Wird sich die reine Vielfalt regieren lassen, ohne dass neue Formen der Überwachung aufkommen? Vielleicht bildet sich ja gerade eine neue Demokratie heraus? Das ist die Frage.
Michel Serres (1930 – ), Gespräch unter dem Titel „Ich denke mit den Füßen“, in: Philosophie Magazin Nr. 05/2016 (August/September), S. 73.