Widerruf oder 2. Auflage?

Meine letzte Nachricht hatte es bereits angedeutet: Ich habe meinem literarisch-versuchenden Kollegen eine harte Kritik anlässlich seines ersten Textes zuteil werden lassen. Anfangs in der Rolle als unkritischer Herausgeber noch beworben, habe ich nunmehr diese Rolle gegenüber dem Text abgelegt und bin zum Hybrid aus kritischem Lektor und gemeinem Rezensenten geworden.

Als solcher darf ich, mehr noch, muss ich harte Worte finden, und sofern sich irgendwo in ihnen ein konstruktiver Keim verbirgt, umso besser. Fazit: Der Text war nicht nur langatmig und kompliziert, sondern richtiggehend leserunfreundlich.

Die ausführliche Version dieser Kurzfassung bekam mein textender Freund in langen Gesprächen zu hören. Die Idee aber fand und finde ich gut, nur die Umsetzung ließ zu wünschen übrig. Kurzum, als Rohfassung war der Text zu gebrauchen. Meine Empfehlung war ganz simpel. Ich riet ihm zum Überarbeiten und dazu, zuvor über Figuren, Plot, Schauplatz und Syntax zu reflektieren. Meine Denkanstöße waren unter anderem diese: Die Erzählsprache eines weltfremden Wissenschaftlers darf auch weiterhin verkopft, ausführlich und abschweifend sein. Der Plot darf einfach sein und sich sehr zögerlich entwickeln. Aber der Leser muss motiviert bleiben, diesen Gang zu den Hintergründen der Geschichte durchzuhalten. Wenn so Viel berichtet werden soll, dann muss das Wenige, das man darstellen kann, auch dargestellt werden. Es braucht gute Gründe für die vielen Berichte und Erinnerungen. Sogar Spannung ist möglich, wenigstens ein bisschen. Etc. pp. – So ging es noch lange weiter, immer wieder im Kreis und um Ecken herum.

Heraus gekommen ist eine Teilung in zwei Kapitel und eine komplette Überarbeitung des Textes. Ich hätte ihm mehr Streichungen empfohlen, aber er bestand auf den Inhalten und Ausdrücken. Er wolle in den ersten Kapiteln oder besser Zugängen seines Romanprojekts deshalb so viel über die Hintergründe der Erzählwelt vermitteln, um für die teilweise sehr eng geführten späteren Zugänge einen Kontext vorzuschießen. Eines dieser Kapitel haben wir kürzlich mit „Yin und Yang…“ kennengelernt. Neben dem Fast-Magister werde er mindestens fünf, wahrscheinlich aber sogar sieben, grundverschiedene Figurenensembles entwickeln. Jeder dieser Zugänge solle diese Bezeichnung auch wirklich verdienen, also möglichst unterschiedlich sein.

Ich wittere zwar noch immer die eine oder andere literarische Durststreck auf dem Weg durch den Zugang mit Namen Xaver Satorius, bin aber gespannt. Ob es ihm gelingen wird, den Leser durch die Abwechslung der Stile zu unterhalten oder ob er damit nicht zu viel, zu früh will? Ich verstehe die kindliche Vorfreude verschiedene Plots, Perspektiven, Erzählsprachen, (Sub-)Genres auszuprobieren, gewagt bleibt die Kombination all dessen in einer gemeinsamen Rahmenhandlung trotzdem – gerade ohne Erfahrung und Sicherheit.

Wir mögen unterschiedlicher Meinung sein, dennoch glaube ich, dass Quanzland der richtige Ort, die richtige Bühne für diese Experimente ist. In diesem versöhnlichen Sinne präsentiere ich Euch heute den neuen, ersten Zugang mit Fast-Magister Xaver Satorius. Wahrscheinlich nur deshalb, weil mein notorischer Narzissmus noch immer von der Namensgebung gebauchpinselt ist. Wie dem auch sein mag, hier nun die 2. Auflage des vormals veröffentlichten Textes bzw. dessen erstes Drittel.

Viel Spaß beim (Wieder-)Lesen und hoffentlich mehr Lesefreude als zuvor, Euer Satorius


Ein Neumensch im Ausnahmezustand

Seiten 1 – 18

Verwirrung und nostalgische Melancholie umwaberten seinen Geist. Erinnerungen und Erwartungen blitzten abrupt auf, verbanden sich und drifteten gemeinsam davon.

 

Sein sonst optimal unter Kontrolle gehaltener Körper nutzte den herrschenden Ausnahmezustand ungehemmt aus. Er tat, was er sonst nicht konnte, und überschüttete ihn seit Beginn des Fluges mit einer exquisiten Auswahl an Unannehmlichkeiten: Juckreiz, Übelkeit, Kopfschmerzen, Niesen und Augentränen beispielsweise.

 

Derzeit juckte sein anarchischer Körper, also kratzte er ihn. Flüchtig zunächst, im Nacken am Haaransatz begann er, ging aber sofort nahtlos dazu über, die Muskulatur dort immer energischer zu massieren. Was dort seit einigen Stunden an Verspannung angewachsen war, entsprach proportional so ungefähr dem Maß an Veränderung, das sein Leben seit Längerem irritierte. Eine aktuelle Veränderung, eine epochale Entwicklung und der akute Zustand spielten in diesem unschönen Zusammenhang herausragende Rollen. Ein Umzug, eine Katastrophe und ein Technikausfall, mit psychischen und physischen Folgen belasteten ihn.

 

Entgegen seinem Temperament und fast alle Gewohnheiten musste er handeln. Seine Sesshaftigkeit, der Hang zu Kontemplation und Gemütlichkeit, aber auch die Neigung zu Weltflucht und Trägheit waren seither gefährdete Güter. Denn Xaver Satorius befand sich seit nunmehr 5 Aktuell-Tagen auf der Reise. An deren Ziel, so hoffte er inständig, würde ein neues Zuhause auf ihn warten; ob der Plan überhaupt aufging, und für welche Dauer er ein Zuhause haben würde, stand dabei zurzeit noch gänzlich offen.

 

Trotz aller Fährnisse und Unannehmlichkeiten, die ein interplanetarer Umzug unter den herrschenden Zuständen mit sich brachte, gab es viel zu gewinnen. Ihn erwartete die Chance auf verheißungsvolle Anstellungen in den besten Häusern. Damit würde er in seiner beruflichen Laufbahn den Schritt vom Theoretiker zum Praktiker wagen. Über die klassischen Anforderungen an einen Bewusstseinsformer hinaus, kämen ihm die Rollen eines moralischen Erziehers und intellektuellen Mentors zu. Vielleicht würde er später gar zum Vertrauten oder Berater eines seiner Zöglinge. Das waren die verheißungsvollsten Visionen. Falls diese nicht wahr wurden, war die Tätigkeit immer noch gut genug honoriert, um darüber hinwegzusehen. Zumal er ganz nebenbei ein herrschaftliches Dach über dem Kopf haben würde.

 

Heraus aus seinem Exil, einer erträglichen aber tristen Zuflucht auf dem Mond, führte ihn sein Weg. Er hatte die ebenso mickrige wie sichere Siedlung verlassen, deren einzige Existenzberechtigung in ertragreichem Tiefenbergbau bestand. Sie besaß nicht einmal einen echten Namen und hieß entsetzlich nüchtern: KK-L 2342.

 

Warum gerade hier eines der Refugien der Academia Universalis verborgen war, beantwortete die Bedeutungslosigkeit dieses Ortes in solarer Perspektive. Keiner der diversen Kriegstreiber interessierte sich für diese unbedeutende Gegend, womit ideale Bedingungen für eine Zuflucht vorlagen.

 

In jener trotz allem technischen Fortschritt noch immer schlecht erschlossenen Region auf der dunklen Rückseite des Mondes hatte die Reise vor wenigen Aktuell-Tagen begonnen. Danach führte sie ihn über nur wenige Zwischenstationen zum zentralen Raumknoten des Erdtrabanten in Eluna. Dort musste er sich ohne Umschweife, so sah es nämlich seine rigide Planung vor, eine Passage in Richtung traumatischer Vergangenheit buchen: Destination Erde – Endstation Zentraleuropa!

 

Ohne sich auf seinem Weg ernstlich mit seiner Umgebung zu beschäftigen, war er die meiste Zeit über in der sensorisch-geschützten, digital-aufbereiteten Hyperrealität seines Gedankenkonzils gereist. Dieses technische Wunderwerk bestimmte Xavers alltägliches Leben grundlegend. In einem Reisekokon genannten Modus dieser künstlichen Bewusstseinserweiterung war ihm trotz minimalem Kontakt zur Außenwelt eine zielstrebige, hocheffiziente Fortbewegung möglich. Mobilität fast ohne Reibung mit der Umwelt, der Kontrapunkt zu dem, was in früherer Zeit als Flanieren Kulturgeschichte geschrieben hatte.

 

Er hatte den Schutz des Reisekokons öfter aufgesucht, als gut für ihn war und er sich das wünschte – mehr noch, sehnlich erhoffte. Er musste sich unbedingt wieder mehr an die reale Außenwelt, die Menschen dort und vor allem den Umgang mit beidem gewöhnen, sonst würde er es zukünftig schwer haben.

 

Sowohl in professioneller als auch in existenzieller Hinsicht waren die Rückkehr in die wirkliche Welt und vor allem die Wiederaneignung des Sozialen vordringliche Ziele. Die Fähigkeit zu Empathie und das Erzeugen von Bindung würden unumgängliche Ebenen seiner praktischen Arbeit in naher Zukunft sein. All seine theoretische Brillanz half ihm dabei zunächst kaum weiter. Er hatte gelernt, starke Emotionen zu scheuen und solche waren hochwahrscheinliche Folgen des eingeschlagenen Pfades. Angesichts der epochalen Entwicklung würden die Gefühle wahrscheinlich eher Leid und Schmerz, denn Glück und Freude sein.

 

Im Anflug einer Marotte – damit zurück zum akuten Zustand – rechnete er in Nanosekunden-Schnelle mithilfe einer simplen Kognitivfunktion seines zur Zeit weitgehend inaktiven Gedankenkonzils um: 5 Aktuell-Tage entsprachen heute, laut letztem von Googol vor Abflug recherchiertem Kurs, auf dem Planeten Erde 1,23 alten Tagen. Also wäre er bereits 5 mal 1,23 Tage unterwegs gewesen, damit im Ergebnis exakt 6,15 Tage, bevor damals plötzlich die ganze Welt auf die schiefe Bahn geraten war – knapp 6 Tage, rief er sich sofort gedanklich zur Ordnung. Dieses bisweilen komplizierte Kalendarium besaß sowohl im Zentralknoten Frankfurt Rhein/Main als auch im gesamten übrigen Einflussbereich der Karlus-Korporation Gültigkeit. Mit kleinen Modifikationen wurde es weltweit und sogar systemweit von vielen Gesellschaften genutzt. Er liebte es zwar, zwischen den verschiedenen Datumssystemen herumzurechnen, wollte sich diese Eigenart aber abgewöhnen.

 

Sich selbst darin zu bremsen, nicht in neurotischem Ausmaß detailverliebt zu sein, war als mentale Einstiegsübung zunächst noch leicht machbar. Sich aber ganz alleine seinen übrigen Existenzmustern und all den Veränderungen und unangenehmen Zuständen zu stellen, war hingegen schon reichlich zermürbend. Der wohlfeile Fachbegriff Potenzialreduktion täuschte über die Schwierigkeiten seiner Umsetzung hinweg. Gezielt und kontrolliert wenig Wiederholung sowie Verstärkung von ungewolltem Denken und Verhalten zuzulassen, klang zwar schon konkreter, war aber dennoch nicht leichter zu machen.

 

Die Tücken der Praxis seiner Wissenschaft machten ihm heftig zu schaffen. Ohne seine Technik war er bloß ein gebildeter Mensch, der kaum mit sich selbst zurechtkam: Sein Körper quälte ihn und sein Geist kam einfach nicht zur Ruhe, lies weiterhin Klarheit und Kürze sträflich vermissen.

 

Ohne mediale Zerstreuung und ohne höhere augmentale Unterstützung musste er derzeit sein Dasein fristen; mental irgendwie über die Runden kommen. Die Existenz wurde tatsächlich nur durch Willen und Disziplin aufrechterhalten. Die Eindrücke aus der realen Umgebung fielen kärglich aus. Die sporadischen Impulse seines Gedankenkonzils störten mehr, als sie halfen. Fast nur sein nacktes Ich war im Moment präsent – ein höchst ungewohnter Bewusstseinszustand für den technikverwöhnten Xaver Satorius. Wenn der Köper nicht auch noch solche Querelen machen würde, könnte er weit besser mit der Situation zurechtkommen. Mit wirklichem Widerstand und realer Reibung konnte er nur schwerlich umgehen.

 

Radikaler Entzug, idealistische Weltfremdheit, soziale Inkompetenz und körperliches Leiden sorgten zusammen für richtig viel Stress, da durfte er ruhig mit der größten Herausforderung hadern: dem Bannen von Vergangenheit und Zukunft im Guten wie im Schlechten. Er hatte die existenzielle Herausforderung zu bewältigen, seine schmerzvolle Erinnerung zu besänftigen und gleichzeitig der bittersüßen Versuchung der Heimat zu widerstehen. Die eine drohte, die anderen lockte; so in etwa analysierte er den Zustand seines Bewusstseins, keineswegs derartig schnell und sauber, wie sonst. Er musste zwischendurch immer wieder innehalten, seine Gedanken klären und Kraft schöpfen. Müdigkeit und Verwirrung hatten Juckreiz und Verspannung derweil den Rang abgelaufen.

 

Wie artikulierten sich wohl die Ansprüche an eine rational wie emotional kluge Haltung in der aktuellen Situation? Die gedankenschnelle Erörterung dieser Frage wollte Xaver nicht glücken, obwohl eigentlich ein Kinderspiel für die Lebenskunst eines Magister Universalis – eines Fast-Magisters genauer gesagt. So hatte er früher bei heiteren Gelegenheiten selbstironisch zu scherzen gepflegt. Er hatte lange nicht mehr an diesen Namen und diese Zeit gedacht, dafür gab es viele Gründe.

 

Nun würde es bis auf Weiteres bei dem scherzhaften Titel bleiben, denn die materiellen wie ideellen Strukturen der Academia Universalis existierten nur noch als verstreute Bruchstücke. Dieses Schicksal teilt sie mit vielen anderer Institutionen und Errungenschaften der menschlichen Kultur; aber immerhin, sie existierten, noch immer, nach allem! Bis die zivilisatorischen Scherben, wenn überhaupt, je wieder zu einem lebendigen Ganzen zusammengesetzt sein würden, waren geachtete Titel, renommierte Abschlüsse und wichtige Prüfungen abgeworfene Aspekte der Kultur. Ein Verlust, der leicht wog, verglichen mit der weitreichenden und tief greifenden Zerstörung des kulturellen Fundaments, der Zersplitterung des Erbes der solaren Menschheit:

 

Sicherheit im Einklang mit Freiheit, Gerechtigkeit gepaart mit Frieden, Humanität im Angesicht radikaler Pluralität sowie nicht zuletzt Fortschritt im Verbund mit Hoffnung! Historisch zunächst noch höchst allgemeine, utopische Ideen, welche in den letzten Epochen der Menschheitsentwicklung an konkreter Kontur gewonnen hatten. Sie hatten sich schrittweise durchgesetzt, waren sozial wie politisch manifest geworden. Notwendig ging mit der Konkretisierung dieser großen Ideale eine Revolution auf allen Ebenen des Daseins einhergegangen. Nach wenigen Dekaden hatten Welt und Bewusstsein sich grundlegend gewandelt – scheinbar für immer.

 

Geistige Spekulanten und phantastische Freidenker des frühen 2. solaren Jahrhunderts waren durch diese friedliche Revolution überrascht worden, solche des 1. Solar-Jahrhunderts wären mindestens verblüfft gewesen und solche noch früherer, gar alter christlicher Jahrhunderte hätten laut gelacht oder wären kopfschüttelnd weiter ihres Weges gegangen.

 

„Nicht so oft daran denken; schau einfach nicht zurück in Richtung Vergangenheit, sondern lieber voraus in eine Zukunft, die unweigerlich besser sein wird!“, schallte es kraftlos und ziemlich plakativ durch sein Bewusstsein. Mit solchen Ratschlägen waren ihm die Mitglieder seines Gedankenkonzils kaum eine Hilfe bei der Bewältigung der akuten Krise. Wobei er durch den verirrten Impuls letztlich doch aus den Weiten einer Erinnerungsspirale zurückkehren konnte.

 

In einem zynischen, inneren Lachanfall über die gesamte Situation kehrte er ins Hier und Jetzt und damit zu einer beharrlich und dumpf schmerzenden Nackenmuskulatur zurück. Hinzu gesellten sich noch ein dreifachs schnelles Niesen und er wünschte sich bereits wieder zurück. Wäre er seinem mentalen Sermon doch eben nicht entflohen, ein Aufenthalt hier in der rauen Realität seines Körpers war aktuell tatsächlich die weniger wünschenswerte Alternative.

 

Ob es ihm nun besser ginge, hätte er Gymnastik in den letzten Solar-Jahren ernster genommen? Gewiss, er hätte wirklich mehr Zeit mit der Pflege seines Körpers verbringen sollen, anstatt fast ausschließlich durch den Äther des Gedankenkonzils zu schweben. Anfangs in soeben noch zulässigem Maße betrieben, wurde seine Weltflucht ab einem bestimmten Punkt wirklich problematisch. Gerade für seinen Berufsstand war eine Affinität zu Hyperrealitäten nicht ungewöhnlich. Überdies war ein ganzes Arsenal an Augmentaten mit Xaver verschmolzen. Er musste förmlich Gebrauch von diesen mächtigen Werkzeugen machen. Er hatte jedoch rasch auch den Missbrauch derselben für sich entdeckt und fleißig kultiviert. Die Entwicklung von da an verlief lehrbuchartig, sodass er nach einiger Zeit mit den meisten Kennzeichen einer Sucht gebrandmarkt gewesen war: Konsumzwang, Kontrollverlust, Toleranz, Isolation, Schädigung und ja, auch Entzug, wie er gerade mit Nachdruck zu spüren bekam.

 

Konkret hatte er sich mit dem Konzil sowie der Hilfe und Gesellschaft der mittlerweile sechs Mitglieder an alles erdenkliche und greifbare Wissen über verlorene Welten und verlorene Zeiten geklammert. Wo es zu Beginn durch seinen Beruf gesetzte und nur am Rande privat motivierte Schwerpunkte gegeben hatte, wurden seine Forschungen zunehmend willkürlicher und wahlloser – zuletzt waren sie zum reinen Selbstzweck verkommen. Die Eskapaden hatten schließlich sogar fast seine komplette Freizeit und die eben noch vertretbaren Anteile der Arbeitszeit eingenommen.

 

Immerhin hatte er sich während dieser Aufenthalte in den künstlichen Paradiesen Unmengen an totem, besser verstorbenem Wissen über Geschichte und diverse Wissenschaften erworben. Den eigentlichen, unsagbaren Grund dieser zweiten Flucht, hatte er tief vergraben: die unvorstellbaren Schrecken der solaren Wirklichkeit und den milliardenfachen Tod in der nahen Vergangenheit.

 

Die Abhängigkeit von den Errungenschaften, Einflüssen und Einflüsterungen seines Gedankenkonzils und seiner Mitglieder hatte zwei Gesichter. Ihr harmloses Antlitz bestand in der alltäglichen Allgegenwart von Hochtechnologie; ihre hässliche Fratze offenbarte sie jene, die sich alltäglich in ihren Illusionen verloren. Da machten Inhalt und Anspruch der Eskapaden, ob hochintellektuell oder total trivial, keinen wesentlichen Unterschied mehr. Er war an einem Punkt angekommen, wo Form und Inhalt auseinandergebrochen waren. Die Sucht dirigierte eine stetige Wiederholung ihres liebsten Duos: Wissen und Spiel. Was auch immer sich anbot, solange es nur in diesen Formen aufzutreten vermochte, wurde es konsumiert.

 

Sein mächtigster Verbündeter war die besondere Bauart eines Cerebral-Augmentats. Wie viele andere Geräte dieser Art war sie Ergebnis langwieriger, interdisziplinärer Forschungen. Im Prinzip gestatteten es Augmentate dieser Klasse ihrem Träger, seinem Bewusstsein eine Art Betriebssystem – bei Xaver das Gedankenkonzil – mit vielfältigen Funktionen hinzuzufügen. Auf dessen Basis konnten dann die fantastischsten Erweiterungen installiert werden. Beispielsweise waren autarke Persönlichkeits-Module – oder eben Mitglieder – eine gängige Implementation der technologischen Möglichkeiten.

 

Auf seine eigene, illustre Runde von Bewusstseinsgefährten musste Xaver im Moment gezwungenermaßen verzichten. Da sie in ihrer Konfiguration und Kombination seine Persönlichkeit wunderbar, aber leider dringend nötig ergänzten, herrschte insofern kognitiver Ausnahmezustand. Seine leistungsstraken Begleiter waren seit dem Start seltsam gestört und gaben nur noch von Zeit zu Zeit schwache Impulse von sich.

 

Die Reise an sich war erzwungen. Seine finanziellen Mittel und insbesondere die persönlichen Spielräume hatten sich im Lauf des vergangenen Solar-Jahrzehnts unwiederbringlich erschöpft, nicht zuletzt wegen seines Fluchtproblems. Deshalb mussten zweite und auch erste Flucht nun unbedingt aufhören. Insbesondere wegen der schleichenden Entwertung reingeistiger Kompetenzen, die in der vergangenen Dekade gefühlt wie tatsächlich immer stärker um sich gegriffen hatte.

 

Es blieb ihm also erst einmal nur der Weg von der Theorie in die Praxis; immerhin die der gut dotierten Elitenerziehung und -bildung. Eine berufliche Option, bei deren Anbahnung er noch von den Kontakten aus der aktiven Akademiezeit hatte profitieren können. Wie er insgesamt der Academia den Großteil seins derzeitigen materiellen Wohlstands verdankte. Zu allem Überfluss war der Markt für rein-zivile oder auch nur im Ansatz ethisch vertretbare Forschungsprojekte eingebrochen. Einerseits gab es wenig Bedarf, andererseits keinen liberalen, solaren Arbeitsmarkt.

 

Er war schon wieder in unerquicklich Meditationen abgeglitten. Wie war seine Lage? Nach fünf Aktuell-Tagen befand er sich fast wieder auf der guten alten, neuen Erde. Das war damit einen Reisetag früher, als er angesichts der politischen Zustände, die im Moment seiner minutiösen Planung geherrscht hatten, für möglich gehalten hatte.

 

„Wobei man hier treffender von militärischen, denn von politischen Zuständen sprechen sollte!“, wurde er geistig, jedoch sehr leise vernehmbar, von einem Aspekt seines Konzils augmental beeinflusst. Der thematischen Zuständigkeit nach ähnlich, aber dem gedanklich-sanfteren Unterton nach eher Sokrates und nicht Nietzsche. Dafür brauchte er sich nachher nicht einmal die internen Logdateien ansehen oder später einfach nachfragen, wenn wieder alle Funktionen, Instanzen und Module des Gedankenkonzils störungsfrei aktiviert sein würden.

 

Warum Sokrates eigentlich „Sokrates“ hieß? Wohl am ehesten deshalb, weil er – besser müsste man ja sagen: es, das Modul – unabhängig vom jeweiligen Wissensgebiet operieren konnte und beim Vergleich, insgesamt der Bewertung und dem analytischen, wie synthetischen Umgang mit Wissen und Information im allgemeinsten Sinn dieser Begriffe behilflich war. In lebenspraktischer Hinsicht unterstützte dieses Modul die alltägliche Gesprächsführung, dabei besonders wissenschaftliche Diskurse, aber auch die Sprachspiele des Alltags. Sich Einfühlen und Zuhören gehörten einfach nicht zu seinen Stärken, noch zu seinen innersten Interessen. Sokrates füllte einige Lücken, die Xavers Charakter zu bieten hatte: lebendige, gesprochene Kommunikation, insgesamt Extraversion und in Ansätzen auch Empathie und zwischenmenschliche Bindungsfähigkeit. Zudem brachte er viele Fähigkeiten und Fertigkeiten von beruflicher Relevanz in passgenauer Form mit sich. Er war der perfekte, mentale Berater eines Theoretikers und theoretisch auch Praktikers von Wissen, Bildung und Erziehung. Nicht nur zufällig genau auf die Bedürfnisse der Academia Universalis zugeschnitten, wurde die Grundversion eines solchen Moduls allen Adepten nach der Konstituierung ihres Gedankenkonzils feierlich installiert. Insofern war Sokrates auch das erste und somit älteste Zusatzmodul mit ultrastarker KI, welches den Fast-Magister auf seinem Lebensweg begleitete.

 

Ein thematischer Fokus für die aktuelle Selbstoptimierung war gesetzt: Empathie und Sozialkompetenz. Denn ohne Offenheit und Klarheit im Gespräch würde er beruflich und existenziell versagen. Sokrates, Matrina und neuerdings Xaya unterstützten Xaver in diesem Lernprozess. Individuationsassistenz war eine tolle Errungenschaft und das ließ ihn beruhigt in die Zukunft blicken.

 

Dieser Abschnitt war der bei weitem zivilisierteste Teil seiner knapp zwei Neu-Wochen dauernden Reise. Deshalb freute er sich über den unerwarteten Puffer, den er gewonnen hatte. Damit konnte er vielleicht in der weiteren Planung doch einen Besuch in den musealen Zeichennetzen einschieben. Glücklicherweise wurden in Zentraleuropa enorme Anstrengungen unternommen, das Wissen der Menschheit zu bergen und zu bewahren.

 

Er stand nun also tatsächlich kurz vor dem Ende seines ersten interplanetaren Fluges seit – ja, seit der schicksalhaften Passage kurz nach der überraschenden und überstürzten, ersten Flucht. Einer Flucht, die aufgrund des Zusammenbruchs der Normalität vor gut zehn Solar-Jahren unumgänglich geworden war. So lange dauerte das Ende der Geschichte nunmehr schon an; der alten Geschichtsschreibung wohlgemerkt, mit ihrer chronologischen Glattheit und begrifflichen Universalität. Wollte man die alte Sprache parodieren, könnte man zusammenfassen: Nach der Verzweiflung kam die konkrete Utopie, welche durch die singuläre Katastrophe beendet wurde, und nun war die postutopische und postapokalyptische Epoche angebrochen.

 

„Wem in dieser schönen, neuen Welt geht es wohl nicht andauernd so wie uns jetzt gerade?“, meldete sich ein weiterer Aspekt des Konzils im Jammerton kollektiven Selbstmitleids zu Wort.

 

„Hätten die alten Meister der Menschheit schon gewusst, welch unbegreifliches Leid kosmischen Ausmaßes mindestens drei Generationen zu erdulden haben würden, dann hätten sie sich mit ihrer Lebenskunst und all ihrer Ethik damals etwas mehr Mühe gegeben.“

 

Zwei hilfreiche Impulse, die ihn aus dem nächsten, mentalen Abgrund geholt hatten. Die zweite Botschaft war vermutlich Nietzsche geschuldet, die erste Nachricht ging am ehesten auf Matrina zurück. Er befand sich in der verwirrenden Lage, die eigene, innere Quellenlage nicht klar übersehen und damit seine Gedanken eindeutig adressieren zu können. Wenn überhaupt, waren die künstlichen Aspekte seines Selbst nur subtil und sporadisch wahrnehmbar. Kaum integriert, wenig kontrolliert, dämmerten die sechs künstlichen Intelligenzen irgendwo im Dunkelraum um sein Bewusstsein herum.

 

Für eine zivilisatorische Situation, wie sie derzeit im Sonnensystem herrschte, hatte es schlicht keine vergleichbaren Vorläufer in der Menschheitsgeschichte gegeben und damit auch keinerlei Empirie für ernsthafte Prognosen. Die erwähnten drei Generationen waren jedenfalls maßlos untertrieben. Es hatte seit einigen Jahrhunderten Epi-, Pan– und Holodemien mit ähnlicher Letalität gegeben. Pest, HIV/AIDS, Ebola, Marsfieber und H23BN3, so meinte er sich, richtig an ein paar Namen zu erinnern. Bei all diesen aber, und das markierte den entscheidenden Unterschied, konnten Schicksal, Gott oder medizinische sowie gesundheitspolitische Defizite als denkbare Gründe angeführt werden. Der solare Kollaps und mehr noch seine Folgen hatten eine andere Qualität. Abermals ging es mental bergab, Xaver verlor sich schon wieder in wahllosen Erinnerungen, auch wenn sie recht linear dahergekommen waren.

 

Der liebste Dialogpartner von Sokrates war Nietzsche, der seinerseits eine Mixtur aus metakognitiven, sozialen und charakterlichen Aufgaben zu leisten hatte. So war es seine Domäne, in selbstzweckhaftem Maße zu hinterfragen und zu zweifeln. Bei jedem logischen Schluss und jeder moralischen Wertung nahm er den egozentrischen, meist zynischen Gegenstandpunkt ein. Wo Sokrates schuf, zerstörte Nietzsche: „Mit dem kritischen Hammer und einer Prise maliziösem Humor immer munter in Bausch und Bogen gegen alles und jeden zu Felde ziehen!“, hätte man seine Leitmotive treffend zusammenfassen können. Man könnte ebenso treffend behaupten, die Module entwickelten sich parallel und im Wechsel mit ihrem Träger zu eigenständigen und reiferen Versionen ihrer Grundversion, womit auch interessante Binnen-Persönlichkeiten heranreiften. Deren interne Beziehungsdynamik war skurriler bis banaler Art – gerade Nietzsche war auffällig begabt in der skurrilen Richtung. Er sorgte in Beratungen, besonders denen des gesamten Konzils notorisch für scharfe Kontroverse und mit seinen amüsanten, aber schnell ätzenden Provokationen nicht selten für einen Eklat.

 

Er musste gleichzeitig niesen, husten und aufstoßen – langsam reichte es nun wirklich. Schon entglitten ihm wieder die Fäden seines Bewusstseins. Da war sicher hyperreale Kognition am Werk. Unvermittelt kamen ihm die beiden Weltkriege des fernen 20. Jahrhunderts mit Informationen und Illustrationen in den Sinn. So plastisch und echt, wie die Grausamkeiten wirkten, funkten tatsächlich Störimpulse des Konzils dazwischen. Wie die zuvor harmlos erinnerten Seuchen waren die historischen Fakten mittlerweile kaum noch Gegenstand eines allgemeinen Wissens, sondern vielmehr dem Wirken von Meinung, Macht und Mythos übereignet.

 

Wider Erwarten hatte er historisch ähnliche und vielleicht vergleichbare Ereignisse mit eventuell analogen psychokulturellen Konsequenzen gefunden. Zwei der letzten großen Kriege der modernen Menschheit. Es hatte in deren Folge seinerzeit nachweislich traumatisierte Generationen gegeben. Die damals gerade im Entstehen begriffenen Schulen der Psychotherapie hatte in vielen dieser Menschen ihre Klientel gefunden und entwickelte ihre Methoden und Begriffe auch unter dem Eindruck besagter Weltkriege. Ebenso konzipierten spätere Generationen ihre Wissenschaft unter dem Phänomenhorizont der seelischen Belastungen, die der Menschheit durch den Spätkapitalismus zugefügt worden waren. Die Reihe setzte sich noch fort, …

 

„Stop!“, beendete er diese Abschweifung mit einem mentalen Befehl aus eigener Kraft. Er driftete zunehmend in einen Zustand ungezügelter Nostalgie ab, wobei er wahrscheinlich durch Fehlfunktionen seines Konzils irgendwie beeinflusst wurde. Solche teils psychedelischen Zustände, durchsetzt von Fakten, Einfällen, Impressionen und Assoziationen, kamen gewiss nicht ohne Einfluss der Module zustande.

 

Er war tatsächlich einer von derzeit wohl nur wenigen Millionen Menschen, die noch so etwas wie ein angemessenes Bild der Menschheitsgeschichte besaßen. Vor allem aber unterschied ihn sein vitales, fast manisches Interesse an der historischen Perspektive und der Glaube an deren unabdingbaren Wert von den meisten seiner verbliebenen Mitmenschen. Auch wenn die wenigsten eine so leistungsstarke und bisweilen sogar unterhaltsame Erweiterung ihres Bewusstseins ihr Eigen nennen konnten, wie das im Fall von Xaver und seinem Gedankenkonzil der Fall war, blieben die Lust auf Bildung und die Wahl der Interessen noch immer Fragen der persönlichen Verantwortung. Leider zu aller erst eine Frage der existenziellen Möglichkeiten; in einer Zeit, in der sehr grob geschätzt die Hälfte, der im Sonnensystem lebenden, noch gut 8 Milliarden Menschen, kein gesichertes Überleben mehr hatten.

 

Trotz aller qualitativen historischen Ähnlichkeit blieb noch der planetenweite quantitative Unterschied zwischen den Weltkriegen 1 und 2 auf der einen sowie dem solaren Kollaps auf der anderen Seite. Dieser absolute Unterschied fiel derart überwältigend aus, dass doch von einer anderen Qualität zu sprechen ebenso unlogisch wie reizvoll war.

 

„Uns wird damit nun die bittere Aufgabe zuteil die Tatsache zu akzeptieren und irgendwie, irgendwann einmal emotional zu integrieren, dass es einzig menschliche Freiheit war, in deren Raum die kosmische Katastrophe ihren Ursprung genommen hat. Die Last der damit unwiderruflich aufgebürdeten Verantwortung wird und sollte in Anbetracht der angedeuteten Quantität mehr als nur 3 Generationen auf den Schultern lasten!“, folgerte irgendetwas mit bestechender Klarheit in die kurze, geistige Stille hinein, zugleich aber ohne den kleinsten Funken Trost. Eine Bewertung des Istzustands, welcher wohl bis auf Nietzsche und Matrina alle übrigen Module des Gedankenkonzils zuneigten, aber wie sollten er als ewig-nörgelndes Kontramodul und sie als sorgendes und behütendes Mutterethos das auch je tun können.

 

Also blieben ihm in seiner ganz persönlichen Version dieses Istzustands bisweilen weiterhin nur möglichst kluge Spekulationen und ein paar psychomanipulative Tricks als Auswege aus dem Jammertal der Gegenwart; bald aber hoffentlich auch wieder der Zugriff auf sein Gedankenkonzil.

 

Er musste aber wirklich aufpassen, durfte nicht wieder flüchten. Dieses brisante Verhaltensmuster galt es weiter konsequent einzudämmen, denn er wurde ihm trotz all seinem Wissen um Bewusstseinsveränderung noch nicht so recht Herr: ein Komplex aus Sucht, Nostalgie und Gelehrsamkeit. Durch ihn angetrieben nutzte er das Gedankenkonzil als Instrument einer akribischen und weitschweifigen Lektüre. Diese virtuell aufwendig gestalteten Lesereisen hatten sich längs und quer durch die Vergangenheit des menschlichen Geistes gezogen, mit sporadischen Schwerpunkten in den Disziplinen Psychologie, Philosophie, Pädagogik, Politik sowie besonders Geschichte und Soziologie.

 

Die vielfältigen Themen nahm Xaver nicht bloß passiv auf, sondern erlernte vieles zusätzlich interaktiv oder kurz gesagt: Er spielte.

 

Solche Eskapaden im Erfahrungsnetz hatten sich gewöhnlich den Studien im Zeichennetz angeschlossen und manchmal mehrere Tage gedauert. Ein Ritual exzessiver Vertiefung, das letztlich in den Abgrund hinabführte. Dort warten Verleugnung, Vergessen, Verwahrlosung und Verwaisung auf ihn, seine persönlichen vier apokalyptischen Reiter.

 

Es war eine Phase der verderblichsten Allianz mit seinem Gedankenkonzil gewesen. Dessen Mitglieder hatten dem Missbrauch zunächst kaum Einhalt geboten. Dann war zuerst Matrina vor einem Solar-Jahr und daraufhin Xaya vor wenigen Solar-Monaten als therapeutische Module installiert worden. Mit Hilfe der beiden KI’s war er letztlich überhaupt erst schrittweise in den mentalen und charakterlichen Zustand versetzt worden, der ihn letztlich hierher geführt hatte.

 

Was er nun tat, waren damals undenkbare Dinge gewesen. Befähigt hatte ihn das Duo Xaya-Matrina, zu seinem Ausbruch, heraus aus der digitalen, reizüberfluteten Isolation wieder hinein in ein leidendes, tätiges Leben. Wobei er nun bald auch noch die beruflichen Herausforderungen und einen neuen Alltag als heilsame Neuerungen hinzugewinnen würde. Die Dynamik einer Reise war schon mal eine gute Arznei. Dass er die bisherige Reise weitestgehend im Modus Reisekokon verbracht hatte, war hierbei symptomatisches Erbe. Ein Erbe, auf das er liebend gerne verzichtet hätte. Aber trotz aller Technik, so perfekt sie auch war, blieben gewisse Probleme renitent.

 

Wer, wenn nicht er, war für solche intellektuellen Formen der Eskapade prädestiniert. So war er sieben volle Sonnen-Jahre in der Disziplin der Disziplinen ausgebildet und dabei mit neuster Köpertechnik und Geistestechnologie ausgestattet worden, bevor Armageddon-Light sein etwas überfällige Finalakkreditierung dann endgültig vereitelt hatte.

 

„Nun also mit Humor als Mittel zum Zweck der Maskierung und somit als Medium der Verdrängungsarbeit; besser jedenfalls, als tödlich zu resignieren, wie das ungeahnte Prozentwerte der solaren Bevölkerung in der Zwischenzeit getan haben“, versuchte ein verirrter, eventuell von Xaya oder Nietzsche geprägter Impuls ihn erfolgreich zu irritieren.

 

Sich in diesem Zusammenhang zu den anteilig gefassten Statistiken, die er vor einigen Solar-Monaten noch vor Augen gehabt hatte, absolute Zahlen vorzustellen, besonders bei der Kategorie Suizid und suizidanaloge Todesfälle, wagte er nicht einmal ansatzweise. 15,76% von einst noch rund 10 Milliarden, die selbst wiederum nur die Überlebenden von dereinst beinahe 35 Milliarden Menschen im Sonnensystem gewesen waren. Nicht einmal das vermeintliche Meisterargument, noch am Leben zu sein, lebendig zu sein und wieder hoffen zu können, half bei dieser unbegreiflichen Dimension an Leid.

 

„Wie kompliziert Datierung heutzutage geworden ist, seit kaum noch astronomische Stabilität gewährleistet ist und nicht mehr nur jeder Himmelskörper an sich seine relativen Eigenzeiten hat, sondern diese sogar noch jeweils für sich dynamisch geworden sind“, dachte er in dem sermonartigen Versuch, seine Gedanken wieder in die freundlichen Bahnen seiner Datumsneurose zurückzulenken.

Er scheiterte mit diesem kläglichen Versuch und wurde prompt von einer düsteren Vision heimgesucht:

 

„Tod, einfach so, milliardenfach mal eben!

 

Unendlich, unbegreiflicher Tod!

 

Nur, das nagt, wo ist der Sinn dahinter?

 

Wofür nur, warum nur?

 

Wahrheit, verzweifelt gesucht, sollst du haben:

 

Die Sonne …“, eine weibliche Stimme riss ihn plötzlich zurück in die Wirklichkeit.

 

„Bitte aktivieren sie Ihr schützendes Stabilisierungsfeld! Falls dies nicht ihrerseits geschieht, übernimmt es die Automatik 90 Sekunden nach dem Ende dieser Mitteilung für sie“, flüsterte eine sonore und etwas laszive Frauenstimme scheinbar direkt und mitten in seinem Kopf.

 

Er hatte sie zu Beginn seines Flugs vom Mond zur Erde selbst eingestellt. Anstatt wie die meisten Reisenden über ein lokales Eingabefeld am Sitzplatz, war dies bei ihm über eine hyperreale Eingabemaske, also durch die Möglichkeiten des Konzils geschehen. Nun gratulierte er sich entschieden zu diesem Entschluss.

 

„Wir werden in wenigen Minuten den Boden des Planeten Erde berühren und bedanken uns deshalb schon einmal vorab für das uns von Ihnen entgegengebrachte Vertrauen“, säuselte es da schon sanft weiter.

 

„Da sich die solare Sicherheitslage auf unserer Reiseroute wider Erwarten entschärft hat, konnten wir die Reisedauer beträchtlich reduzieren. Wir werden also insgesamt 50 Minuten früher landen. Die Meisten unter Ihnen werden höhere Augmentate wie Netzports, Cerebral-Schnittstellen, Bewusstseinserweiterungen, Muskelverstärker, Fernoptiken, Nahrungs- oder Nachschubreplikatoren und dergleichen besitzen. Wir bitten sie in ihrem eigenen Interesse nochmals, diese bis zur abgeschlossenen Landung deaktiviert zu lassen. In Verbindung mit unserer Antriebstechnologie und aktuellen, astronomischen Phänomenen kam es leider mehrfach zu Störungen und sogar zu einigen bedauerlichen Zwischenfällen. Überdies wird es sehr wahrscheinlich stärkere Turbulenzen und kleinere Erschütterungen bei der Landung geben. Dabei handelt es sich um leider unvermeidliche Unbequemlichkeiten, durch welche die technische Sicherheit jedoch in keiner Weise beeinträchtigt wird. Der Auslöser des Problems liegt weit außerhalb unseres Einflussbereichs – um Verzeihung bitten wir dennoch. Wir wünschen ihnen eine gute Ankunft im Zentralknoten Frankfurt Rhein/Main, einen erfüllenden Aufenthalt in Zentraleuropa sowie den Transitgästen eine sichere Weiterreise – Ihr Team von Karlus-Raumflug, einer Marke der Karlus-Korporation.“

 

Als wäre das nicht bereits genug der uneigentlichen Rede gewesen, folgte noch ein vor Werbung triefender Nachsatz: „Empfehlen sie uns später in ihren intimen Gruppen bitte weiter, sofern Sie mit unserer Dienstleistung so zufrieden waren, wie es unser stetes Anliegen und innigster Wunsch sind. Beachten sie ferner die vielen kombinierbaren Unterhaltungs- und Kulturangebote, die wir ihnen in unserer Heimatregion exklusiv offerieren. Für weitere Details und diesbezügliche Buchungen helfen die hiesigen Kontakt-Schnittstellen weiter. Am besten nutzen sie die direkte Verbindung über unseren Auftritt in den Zeichennetzen; am allerbesten tauchen sie sogar in die hyperrealen Welten unserer Erfahrungsnetze ein: Hier bieten wir ihnen die vielfältigen Waren und Dienstleistungen der Karlus-Korporation hautnah zum Ausprobieren an. Unser gesamtes Sortiment können Sie gefühlsecht erleben und unkompliziert erwerben. Neben den üblichen Warenformen können sie ihre Bestellung, sofern sie das wünschen und dieser Zusatz für das Produkt angeboten wird, sogar als limitierte Blaupause für ihren eigenen Replikator erhalten. Überzeugen sie sich von unseren Qualitäten und unserer bewährten Qualität. Seit Generationen gilt bei uns das Unternehmensmotto: Qualität über Quantität!“

 

Der anfänglichen Dankbarkeit entgegen erzeugten derart viel geheuchelte Normalität und inszenierte Hochzivilisation, wie sie in dieser Botschaft zum Ausdruck gekommen waren, eine sehr unangenehme Kombination an Emotionen bei Xaver. So spürte er derzeit sowohl in der Magengegend den Druck, sich vor Ekel angesichts solchen Zynismus übergeben zu müssen, als auch im Bereich der Kehle den Drang, seine Wut über diese freche und beinahe pietätlose Realitätsverleugnung in die kleine Welt ihrer 30-Mann-Maschine herauszubrüllen.

 

Selbstverständlich tat er nichts dergleichen und machte sich stattdessen daran, sein aufgewühltes Gemüt mithilfe wenig routinierter Atem- und Imaginationstechniken zu besänftigen.

 

Dieses Kunststück war ihm zu seiner eigenen Überraschung bereits gelungen, als die angekündigten 90 Sekunden verstrichen waren und er rücksichtsvoll, aber bestimmt in seinen Schalensitz gepresst wurde. Dass dieser ergonomisch perfekt auf seine Statur angepasst war und sich wohlig um seinen Körper schmiegte, gab ihm das Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit; welches aber schnell wieder verschwand, weil er ruckartig von Krämpfen geschüttelt wurde. Sein rebellischer Köper musste schnell wieder unter Kontrolle gebracht werden.

 

Bald würden die technischen Wunderdinge wieder funktionieren, alles wieder möglich sein. Denn der Landeanflug hatte nun endlich begonnen und der Moment seiner ganz persönlichen Rückkehr auf den schicksalhaften Heimatplaneten der Menschheit stand damit unmittelbar bevor. Ob diese klingende Rede von Schicksal und Menschheit überhaupt eine Zukunft haben würde, stand Spuren gleich in den Sternen geschrieben.

 

„Vielleicht wird das Ende der Geschichte doch nicht nur zu langsam abgewickelt, sondern birgt wider Erwarten und Gefühl den Keim einer besseren Zukunft in sich!“ Das war eindeutig ein erbauender Impuls von Matrina gewesen, der trotz Deaktivierung und durch die Störung hindurch so klar in sein Denken hineintönen konnte.

 

Er brauchte solches Wissen nicht, denn er wusste seit Langem, dass er zu einer privilegierten Minderheit gehörte. Geholfen hatte dies kaum. Als Gelehrter im besten Alter, dem erste und zweite Flucht sowie Überleben im Exil aufgrund seiner privilegierten Herkunft und der Ausbildung in der Academia ohne Weiteres offen gestanden hatten, ging es ihm materiell noch immer unerhört gut. Dennoch blickte er ungewiss in die Zukunft, war sich ganz und gar nicht sicher, ob Hoffnung für sich und die Menschheit bestand.

 

Er wandte sich in seinem Sitz neugierig so weit um, wie es Stabilisierungsfeld und akuter Nackenschmerz soeben zuließen. Ein schmerzerfüllter, nur flüchtiger Blick ins Antlitz seiner Mitreisenden, zeigte ihm erwartungsgemäß Ernüchterndes. Der Anblick bot kaum Anlass zu glauben, dass positive Emotionen es aktuell leicht hatten. Allen anderen voran waren Hoffnung, Freude, Genuss und insgesamt Glück rare Güter im Sonnensystem geworden.

 

„Überall graue, starre und maskenhafte Trauerfratzen. Die Leichenarmeen des psychokulturellen Niedergangs, der sich an den Tag der großen Asymmetrie angeschlossen hat und seither in den Seelen der meisten Menschen wütet“, blitzte es durch sein Bewusstsein. Morbid und abstoßend waren die sinnlichen Eindrücke, die den Flash begleitetet hatten und gerade abebbten. Ein Wechselbad körperlicher und geistiger Qualen ergoss sich weiterhin unnachgiebig über Xaver Satorius.

 

Selbstvergewisserung half womöglich, also dachte er in harmlos biografischen Bahnen: Die fast hermetische Kunst der Magister Universalis war seine Wissenschaft und sein Handwerk. Ihr ging es im Allgemeinen darum, eigenes wie fremdes Bewusstsein nach flexiblen Maßgaben zu manipulieren und wunschgemäß zu formen; es kontinuierlich zu trainieren und zu erweitern, um ihm im Ergebnis ebenso vielfältigen, wie in seiner Effizienz atemberaubenden Nutzen abgewinnen zu können. Die Grundlagen dieser Disziplin hatte er gründlich erlernt, zumal mit eigenen Vertiefungen. In langjähriger, vornehmlich theoretischer Forschung hatte er an diversen Projekten mitgearbeitet.

 

Schließlich war er dann nach seiner Flucht von der Erde mit einer kleinen Gruppe an Magistern auf dem Mond gestrandet. Dort hatten sie in einem Refugium der Academia die Wirren der Katastrophe überstanden. Fast autark in ihrer Versorgung hatten sie genug Zeit gehabt, um bald darauf den Kontakt zu ihren Brüdern und Schwestern herzustellen.

 

Ihre Organisation war ein Hort der Innovation. Komplexe Pharmazeutik und Körper- sowie Geistestechnologien wurden seit weit über einem Jahrhundert munter eingesetzt. Nicht zuletzt wegen der Arbeit der Academia Universalis waren solche Technologien mittlerweile im Alltag erprobte Hilfsmittel. Der rapide Fortschritt auf diesem Gebiet war Xaver mehrfach am eigenen Leib zugutegekommen. So trug er selbst eine ganze Reihe sogenannter Augmentate an und in sich. Mittlerweile kannte er zwar auch Licht und Schatten dieser Artefakte, war aber alles in allem dankbar für deren Existenz.

 

Trotz aller derzeit heraufziehenden Geistesfeindlichkeit waren die Ausbildung zum Magister und deren technologische Mitgift seine zurzeit wertvollsten Güter. Sein trotz kleiner Verfehlungen guter Leumund und besonders die mitgeführten Referenzen waren viel wert, aber ohne einen optimalen Einsatz all seiner Fähigkeiten und Mittel würde er den geplanten Quereinstieg in die Praxis, und zwar direkt auf Meisterniveau, nicht schaffen.

 

Xaver war von sich selbst erstaunt, und tief dankbar für diese Überraschung. Während des grauenvollen Fluges hatte es in der Tristesse der Passagierkabine und neben dem Aufbegehren seines Leibes eine einzige, schöne Ausnahme gegeben: ein junges, sichtlich verliebtes Paar mit einem bereits halbwüchsigen Sohn. Pausenlos hatte der Junge seine Eltern aufgeregt und begierig nach allerlei Sinn und vermutlich viel mehr Unsinn gefragt. Nachdem er darauf geduldig wirkende Antworten erhalten hatte, war er befriedigt wieder ins Spielen zurückgekehrt, nur um bald darauf abermals fragenden Blickes in Richtung seiner Eltern zu rennen. Ein Schauspiel, das trotz der tiefschürfenden Kraft von Kinderfragen, einer Komödie glich, also fast ohne die überall lauernde Tragik auskam.

 

Der Anblick dieses familiären Idylls war ihm in seinem akuten Zustand ein größerer Trost gewesen, als er je für möglich gehalten hätte. Er, der notorische Einzelgänger, der sein Leben nur seinen Passionen, also im Grunde nur sich selbst gewidmet hatte, entdeckte während dieses Raumflugs eine verschüttete Seite in sich wieder.

 

Obwohl Xaver von den Gesprächen der entfernt sitzenden Familie bestenfalls wenige Bruchstücke aufgeschnappt hatte und deshalb vor allem auf die Deutung des lebendigen Miteinanders angewiesen war, traute er sich seine Einschätzung gelassen zu. Dabei half ihm ein weiterer Vorzug seiner Ausbildung: Die Schulung in diversen Methoden der Verhaltensanalyse, welche zur optimalen Lernkonfektionierung unerlässlich waren. Im Alltag assistierten ihm technologische Helfer, nun musste er sich auf sein Erfahrungswissen verlassen.

 

Er verstand fast alles, nur nicht, warum ihn der Anblick so sehr erbaute. Für seine Verhältnisse hochsensibel registrierte er einen auffälligen Umstand, witterte das unvermeidliche Quantum Tragik im Spiel: Wenn das Kind kurz mit sich selbst und die Eltern infolgedessen miteinander beschäftigt waren, hatte sich deren freudiges Strahlen schon mäßig abgedunkelt und in den Phasen von Einsamkeit war es dann sogar beinahe ganz erloschen. Dann glichen die liebenden Eltern der grauen Masse um sie herum; glichen vermutlich auch ihm selbst, wie er im Auge eines unsichtbaren Betrachters, vorzugsweise Lesers erschienen wäre.

 

Familie bot in diesen schrecklichen Zeiten wohl schlicht eine unvergleichliche Form von Heimat – viel echter, erfüllender und ernster, als dies dem technisch optimierten Individuum zur Verfügung gestanden hätte; sei es noch so gut vernetzt und hochgerüstet. Es gab in seinem Fall zwar die sechs Module des Gedankenkonzils, aber was bedeutete das denn in der Bilanz und insbesondere im Vergleich: Dass Nietzsche mit seinem beißenden Zynismus in dieser Hinsicht ein Trost hätte sein können, stand kaum zu erwarten; Googol und Hoffmann waren zu verschroben respektive zu wortkarg für diesen Bereich; Sokrates half mit seiner Weisheit immerhin ein wenig weiter und die motivierende Xaya machte ihn psychisch wie physisch insgesamt stärker; allen voran kümmerte sich die auf Seelsorge, Empathie und Lebenskunst spezialisierte Matrina um sein emotionales Befinden. Sie glich Launen aus, beugte also neurochemischen Ungleichgewichten vor; stimmte die Erwartung positiv, was sie in Zusammenarbeit mit Hoffmann durch neurochemische Ungleichgewichte erreichte; öffnete seine Persönlichkeit empathisch gegenüber anderen, wobei sie mit Sokrates und Xaya kooperierte, und impfte ihn insgesamt mit dem Glauben an Gutes, Schönes und Wahres.

 

Alle diese Technik fehlte aktuell und sie war auch zuvor nicht schon immer da gewesen. Er hatte lange Zeit versucht, aus dem Mangel eine Tugend zu machen. Er hatte aber schmerzlich erkennen müssen, dass sein Ersatz wie eine schale Simulation wirkte, verglichen beispielsweise mit der familiären Komödie. Diese war ihm mehrmals zum Anker geworden, ebenso gegen die psychotischen Eintrübungen wie gegen die körperliche Pein, unter denen er schubweise litt: Schmerzhafter Augendruck und rhythmischer Tinnitus gaben derzeit ihr Duett.

 

Xaver war Zeit seines Lebens höchstens wenige Male Familie und Freundschaft nahegekommen, nur um beides wieder und wieder zu verlieren. Sein Problem war wohl schlicht und einfach dasjenige, was seit Menschengedenken als Liebe fassbar gemacht werden sollte. Für ihn wirkte sie nunmehr nur noch wie ein bloßes Wort ohne tiefen Sinn und Gehalt. Er hatte daraufhin vorgesorgt.

 

Er hatte irgendwann beschlossen, sich mit einem Panzer aus Weisheit, einem aus Gelehrigkeit geschmiedeten Schild und waffenfähigen Klinge an Mundwerk und Verstand auszustatten. Dafür wurde er mit Triumphen im wissenschaftlichen Disput belohnt, genauso wie er unweigerlich durch Niederlagen im politischen Schacher um Posten und Portale bestraft wurde. Dass kaum Jemand den unnahbaren Eigenbrötler besonders gut und lange leiden konnte, lag dabei vor allem an seinem offensichtlichen Desinteresse für die soziale Lebenswelt. Die ersten Jahre mit dem Gedankenkonzil vertieften die vorhandenen Gräben zu seinen Mitmenschen noch merklich. Er isolierte sich zunehmend, entband sich sozial wie emotional.

 

Vor zehn Solar-Jahren aber, da war aus diesem Makel quasi über Nacht und auf einen perversen Schlag hin eine Art Stärke geworden. Er war emotional ungebunden und zugleich praktisch unabhängig, ohne jede ernsthafte Anhaftung. So konnte er schneller als die meisten reagieren und den Startschuss geben, zu seiner ersten Flucht. Er blieb von dem milliardenfachen Verlust geliebter Angehöriger in seiner abrupten, ja brutalen, Direktheit verschont und hatte sich seelisch gesünder über die erste Zeit retten können. Insgesamt hatte sich der Einzelgänger Xaver Satorius auf einmal besser zu behaupten vermocht. Der zu höchster Abstraktion befähigte Magier in ihm und insbesondere die ebenso stark ausgebildete Fähigkeit des Narren, sich in Illusionen und Hyperrealitäten zu flüchten und über diese die tatsächlichen Nöte des wahren Sonnensystems zu vergessen, waren aufgewertet worden.

 

Hätte er doch damals bereits geahnt, wohin ihn die zweite Flucht über Jahre hinweg führen würde: von der wirklichen Lebenskompetenz zur bloßen Text- und Informationskompetenz; ins selbst gewählte Exil eines nur noch technologisch-sozialen Daseins; ins hyperreale Elysium, das ihm sein Gedankenkonzil zu schaffen vermochte. Dabei handelte es sich um eine künstliche Realität, ähnlich einem Klartraum. Im Detail war die Hyperrealität aber viel mehr als ein bloßer Traum. Ihr lag eine restlos logische Struktur zugrunde, sie konnte nach Belieben kontrolliert und verändert werden und bot vor allem eine Illusion, die mit allen Sinnen erlebt werden konnte. Die geschaffene Welt konnte fast perfekt sein, durfte das aber aus gutem Grund nicht. Erkannte der Geist des Trägers die Scheinwelt als real an, endete er im Digitalen Solipsismus. Diese effektiv tödliche Nebenwirkung hatte in der Anfangszeit der technischen Bewusstseinserweiterung viele Opfer gefordert und tat das vereinzelt immer wieder. Auf irgendeine Art musste die sicher falsche von der angeblich richtigen Realität unterscheidbar sein, sonst drohte Lebensgefahr.

 

Macht und Militär, Misstrauen und Mord hatten seit dem solaren Kollaps das Regiment in großen Teilen dessen übernommen, was zuvor so unwahrscheinlich lange gewährt hatte. Eine in globalem, mehr noch solarem Maßstab herrschende Phase institutionalisierten Friedens war jäh zu ihrem Ende gekommen. Es hatte zwar immer Interessenkonflikte, Differenzen und unterschiedliche Visionen der eigenen Zukunft gegeben, aber diese waren politisch ausgeglichen und nutzbringend kanalisiert worden. Keineswegs waren Harmonie oder Einheit dabei die leitenden Ideale gewesen, sondern Respekt, Pluralität – nicht bloß Pluralismus – und Klugheit. Nicht paradiesisch war dieser Abschnitt der Menschheitsgeschichte gewesen, aber derart politisch organisiert und durch Traditionen gebunden, dass die solare Menschheit eine zivilisatorische Blütezeit ungeahnten Ausmaßes hervorgebracht hatte. Die weltweiten Entwicklungsunterschiede, welche in der Mitte des alten 21. Jahrhunderts als unüberwindlich gegolten hatten, waren nachhaltig ausgeglichen worden. Ausgleich und Solidarität hatten tatsächlich Wettkampf und Eigensinn als Prinzipien ersetzt.

 

Für einen Intellektuellen seines Ranges mag all dies gleichermaßen plakativ wie schöngefärbt klingen, aber in den verblassenden Erinnerungen an sein früheres Leben hatte die politische Ebene zeitlebens im krassen Gegensatz zu seinen persönlichen Nöten und existenziellen Miseren gestanden – Glorie neben Elend. Es war eine solare Öffentlichkeit entstanden, innerhalb derer ein politischer Diskurs sorgsam kultiviert worden war, dessen politische Konsequenzen daraufhin das Angesicht der politischen Kultur für immer verändert zu haben schienen. Die im Folgenden gegründeten supraplanetaren Institutionen hatten umfassende Legitimität ideal mit konstitutioneller Unabhängigkeit gegenüber den unvermeidlichen, anderen Machtfaktoren vereint; gegenüber den unzähligen föderal organisierten planetaren, kontinentalen, nationalen, regionalen Akteuren und auch gegenüber privat-wirtschaftlichen, ideologischen und religiösen Fraktionen. Die unweigerlich weiterhin vorhandenen Interessenskonflikte waren auf kleinstmöglicher Ebene und mit dem geringsten Maß an Vorteil und Schaden auf allen Seiten geschlichtet worden.

 

Dieses heillos komplexe, gleichwohl stabile Vielebenensystem war nach mehr als einem Solar-Jahrhundert plötzlich kollabiert und hatte nicht nur tiefe Gräben, sondern schiere Abgründe zwischen den diversen Interessengruppen, Machtblöcken und Ideologien innerhalb des kolonial erschlossenen Sonnensystems freigelegt. Dass ein entstanden war, war nicht zu leugnen gewesen, wurde er doch sogar unter dem unverhofften Wertepaar von Pluralität und Differenz immer als Stärke wahrgenommen und als solche kultiviert. Ob die epochale Errungenschaft eines Verzichts auf Universalismen mittelfristig mit zu ihrem eigenen Untergang geführt hatte, war weiterhin historisch und faktisch ebenso unklar wie es ein sehr bitter-ironisches Ende einer glorreichen Ära gewesen wäre.

 

„Hör endlich auf damit, das ist ja vielfach widerwärtig! Am Ende singst du noch das Lied der Philosophia perennis oder sprichst von Moderne, Neuzeit, goldenen Dingen und weiteren historisch unzulänglichen Selbstüberschätzungen. Von deinen wissenschaftlichen Mängeln in der Darstellung der goldenen Epoche und den ungebührlichen Vereinfachungen der historischen Entwicklung will ich gar nicht erst anfangen. Pah! Hör endlich auf damit und komm in die Gegenwart zurück!“, hämmerte es auf einmal in seinen tiefen Traum hinein.

 

Wenn bei dieser polemischen, aber hilfreichen Intervention nicht hauptsächlich Nietzsche federführend gewesen war, musste er sich doch ziemlich täuschen. Wie lange war er nun wieder geflasht gewesen; hatte die Fähre nicht eben zur Landung angesetzt? Nackenschmerz flutete durch seinen Schädel und verhinderte eine schnellere Orientierung.

 

Die planetare Fähre eines der vielen mächtigen und mächtigeren Akteure hatte dem einsamen Wanderer den Weg durch die meisten Schichten der Erdatmosphäre gebahnt. In einem von Fusionszellen betriebenen Meisterstück menschlicher Fertigungskunst, dessen neuartigen Triebwerke Schwerkraftneutralisation mit Pulsation optimal kombinierten. Wären nicht die chronischen Folgen von solarem Kollaps und die akuten Auswirkungen der interplanetaren Kriege gewesen, so wäre die Landung wohl ohne jede Turbulenz abgegangen. So aber mussten die Reisenden die eine oder andere Schwerkraftspitze nebst der schon erwähnten Technikstörungen erdulden.

 

Eine neuerliche Eskapade hatte Xaver bereits absorbiert und so realisierte dieser die physischen Unannehmlichkeiten während der Landung kaum noch. Ebenso wenig nahm er den nunmehr weinenden Jungen wahr.

 

Letztlich brachte das Eigentum der mächtigen Karlus-Korporation ihn, den leidenden Fast-Magister, lebendig und so wohlbehalten wie nur möglich auf die geschundene und ausgeblutete Erde zurück. Dort konnte es nur besser werden. Nach diesem Flug war Xaver Satorius sich so sicher, wie es sein akuter Zustand ihm erlaubte. Noch immer tief versunken, saß er ungerührt in seinem Sitz. Die letzten Passagiere hatte die Maschine vor gut zehn Minuten verlassen. So war er nun der letzte Mensch an Bord der Robotfähre, da das einzige Besatzungsmitglied ihn eben wach gerüttelt hatte und dann vorausgegangen war. Jetzt konnte er auch endlich seine Augmentate wieder aktiveren, wodurch sich seine Lage grundlegend verbessern würde. Aber wie sehr, wie weit und wie viel durfte er flüchten, mithilfe des Gedankenkonzils heraus der realen Welt ins hyperreale Exil?

 

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