Wochenendlektüren Nr.4 – XS1: S. 16-20/~53 [Update 2.3]

Immer wieder Sonntags kommt neuerdings die aktuelle Wochenendlektüre. Gründe für die Verschiebung Richtung Ende des Endes gibt es viele, gute wie schlechte, wie das in einer komplexen Welt zumeist der Fall ist: Arbeit allem voran; andere Hobbys, Stichwort: Lebensräume, Familie und bisweilen Schreibunlust; wobei die Reihenfolge die konkrete Relevanz abbildet, nicht die generelle Wichtigkeit des Motivs.

In diesem radikalen Sinn mache ich eine große Einzahlung bei der Zeitsparkasse, fasse mich kürzestmöglich und grüße mit weiteren fünf Seiten über Xavers Welt nunmehr auch als im Präsens und als absatzloses Kontinuum vorgetragene Hyperrealität.

Schönen Sonntag solange, Euer Satorius


Als ich das vor guten sechs Monaten obenstehenden Text verfasst hatte, konnte ich nicht ahnen, wann und wie und wer derjenige sein würde, der nun den Update-Text hier verfasst – soweit so anonym und damit nichtsagend. Den Rest dieser sicher spektakulären Geschichte über Veränderung, Wachstum und Wandel verschlingt der geheiligte Datenschutz, wird durch den Wert der verehrten Privstspähre maskiert und veschleiert. Es hat sich zwar viel getan, und zwar nicht nur am Text, aber Ton und Inhalt obiger Botschaft aus der gefühlt unüberbrückbar fernen Vergangheit bleibt in Gänze bestehen, wie es auch latentens Thema der einschlägigen Wochenendlektüre ist: Zeit ist das wertvollste Gut, das wir haben können, und somit das wertvollste Geschenk, das wir machen können! Xaver hat dafür seinen ganz eigenen (fiktionalen) Lösungsansatz: hyperreale Zeitdilatation, dazu an anderer, späterer Stelle mehr …

Schönen Samstag (dieses Mal,) derweil, Euer Satorius


(…) 1. Zugang XS – Schwere Ausnahmefehler im System

Heraus aus seinem extraterrestrischen Versteck, einer eben noch erträglichen, aber absolut tristen Zuflucht auf dem lebensfeindlichen, wenn auch seit langem umfassend kolonisierten Erdtrabanten, führte ihn seither sein Pfad. Er hatte die ebenso bedeutungslose wie sichere, lunare Ansiedlung verlassen, deren einzige Existenzberechtigung in mäßig ertragreichem Tiefenbergbau bestand. Der mickrige Gewinn rechtfertigte so gerade noch die hohen Fixkosten, besonders zu Buche schlugen diejenigen für Lebenserhaltung. Seltene Erden und eine reiche Auswahl an Edelmetallen und -gasen wie Helium-3 und dergleichen triviale Rohstoffe mehr, waren hier massenweise vorhanden und wurden entsprechend emsig gefördert. Diese Einrichtung besaß sogar nicht einmal einen gewachsenen Namen und hieß entsetzlich nüchtern und unoriginell: KK-Q32.24D – worin viele Informationen codiert worden waren, aber Außenstehenden, Nicht-Genossen, nichts erzählt wurde.

Leidenschaftslos war sein Verhältnis zu diesem Ort, der ja immerhin seine Zuflucht gewesen war, ja zu realen Orten, wenn nicht gar zur Physis überhaupt und zur Materie insgesamt. Er lebte stattdessen entschieden lieber und deutlich länger in seiner Hyperrealität. Für dortige Eskapaden, der Ironie nicht genug, brauchte er aber eine sichere Zuflucht in der wirklichen Welt, bedurfte einiger Ressourcen und spezieller Bedingungen, die ihm bisher wie selbstverständlich zur Verfügung gestanden hatte. Dass es ewig so weiterginge, hatte er bis zum letzten AU noch stur und realitätsblind angenommen, wusste es nun, einen Tag später, aber leider endgültig besser. Seine Zeit bei der a.u. war tatsächlich vorüber, sein sieben, unermesslich lange Solarjahre währendes Exil war vorbei, die Überlebensflatrate war ihm ein für alle Mal gestrichen worden. Warum gerade jetzt, war ihm nicht ganz klar geworden; warum gerade dort, im Untergrund von KK-Q32.24D eines der Refugien der academia universalis verborgen war, wusste er dafür gewiss: Die pure Irrelevanz dieser winzigen Station, die mitsamt ihrer lunaren Umgebung in solarstrategischer Perspektive bedeutungslos war. Keine der vielen sichtbaren und unsichtbaren Konfliktparteien interessierte sich für diesen hellstgrauen, aber eben nicht ganz weißen Fleck auf ihren Karten; damit bot die Gegend ideale Bedingungen für den Betrieb einer Zuflucht, gelegen ein Dutzend Meter unterhalb einer beinahe vollautomatischen Bergbauanlage. Eine Art besserer Hausmeister – Michel, der Wildwüchsige, wie ihn die hochgebildeten und durchaugmentierten Neumenschen in der a.u.-Enklave im Scherz nannten – lebte ganz alleine oberhalb des ausgedehnten Komplexes und wartete dort die Robotanlagen, welche jedoch derart optimiert waren, dass sie sich weitgehend selbst versorgten und sogar den Abtransport der wertvollen Rohstoffe autonom organisierten. Er war also latent in Bereitschaft, unterbeschäftigt und lebte sich in seiner Freizeit ungehemmt aus, wusste unterdessen aber rein überhaupt gar nichts von der illusteren Horde an Cyborgs unter seinen Füßen; so unternahm er tagein tagaus allerlei belustigende Peinlichkeiten und sorgte damit immer wieder für Erheiterung unter den hiesigen Mitarbeitern der academia.

In jener trotz allem technischen Fortschritt und jüngerem Rückschritt noch immer schlecht erschlossenen Zone auf der erdabgewandten Rückseite des Mondes, einige Kilometer südwestlich des Mare Ingenii, hatte sein aufgezwungener Ausweg seinen Anfang genommen. Danach hatte ihn seine Route über nur wenige unbedeutende Zwischenstationen zum zentralen Raumknoten auf dem Mond geführt, in die vormalige Millionenmetropole Eluna. Dort war über viele Generationen hinweg in vielerlei Hinsicht Menschheitsgeschichte geschrieben worden; unübersehbar in steinernen, metallenen und synthetischen Lettern buchstabierte und manifestierte die gesamte Ansiedlung einen epochalen Triumph der raumfahrenden Menschheit über den lebensfeindlichen Weltraum. Aber Xaver S. interessierte das nicht, nicht mehr, trotz aller Liebe zur Historie. Er hatte vor der Abreise aus dem Refugium noch Unmengen an Daten akquiriert, auf legalem wie illegalem Wege, hatte legale wie illegale Inhalte mitgehen lassen; unterwegs dann, für die tagelangen Fahrten über die endlosen Pisten aus staubigem Regolith, hatte er sich üppige Bildungs-, Erlebnis- und Unterhaltungsprogramme zusammengestellt: Neben etlichen alten Filmen und Multimediaquellen, faktischen wie fiktionalen, von und über die verwüstete Erde, bestand seine Auswahl auch aus unzähligen Wissensnetzen zu allen wichtigen Stationen der geplanten Reiseroute, und sie wurde selbstredend um etliche Erfahrungsräume erweitert, wobei teilweise Meisterwerke an hyperrealen Simulakren dabei gewesen waren. Hierbei war er unter anderem mehrere Tage durch das ebenso historische wie damals noch prosperierende und pulsierende Eluna des Jahres 69 solarer Zeitrechnung geschlendert, hatte währenddessen diese markante Metropole mit ihren schroffen Kontrasten ganz für sich entdecken dürfen: das solare VM-Diplomatiequartier, die schwebenden Gärten, das Denkmal der Ersten, die lunaren Niedrig-G-Werften, die Ausgrabungsstätten beim Kopernikuskrater, aber auch gewöhnliche Kneipen, teuere Clubs, billige Bars und edle Bordelle sowie Restaurants, Museen, Tempel und natürlich die Mediatheken und Casinos. All das hatte er selbst erleben dürfen, wirklich am eigenen Leib mit- und durchgelebt, mit allen Sinnen hatte er die damalige Welt erfahren, die singulären, dennoch simulierten Bewohner und einzigartig erscheinende Erlebnissen unter und mit ihnen erfahren. Dass er sich danach noch ein aktuelleres Simulakrum aus dem vorletzten Solarjahr angesehen hatte, bereute er fortgesetzt. Dieser Ort war seither, wie viele andere im Sonnensystem auch, gestorben, war vielmehr halb- und untot, entstellt und pervertiert; aber immerhin war er durch diese abschreckende Aktualisierung seiner Erwartung gewarnt worden, hatte sich deshalb vor dem Abflug weitgehend vollisoliert und ohne unnötige Umschweife, dort angekommen, fortbewegt. Zudem sah die mittlerweile exakt fixierte und seitdem rigide implementierte Reiseplanung solcherart Eile nicht nur für die Passage durch Eluna vor; er würde sich auch darüber hinaus spürbar hetzen müssen: Zeit bedeutete Überleben, mit der einzigen Ausnahme des restlichen Tages nach seiner Landung in Frankfurt am heutigen Nachmittag. Dort wollte er sich soweit möglich gründlich umsehen, wirklich erfahren und erleben wie die Korporation dort unten auf der Erde herrschte und handelte. Dementsprechend zügig und zeitig war er zuvor am Terminal für interplanetare Transits angekommen, hatte seine raren materiellen Besitztümer aufgegeben und war vorzeitig aufs Flugfeld hinausgetreten. Dort hatte sogar er dann innegehalten, denn der Raumknoten war auch heute noch ein beeindruckender Anblick, bot einen berauschenden Ausblick, war trotz des Verfalls absolut sehenswert. Er stand einfach da und starrte mit saugendem Blick, sah langsam schweifend um sich: Er erblickte die farbenfroh und teilweise gemustert kolorierten Kraftfelder über und hinter den vielen Raumschiffen, schwenkte weiter, hinüber zum Hauptkomplex des Raumhafens, der ein Musterbeispiel früher hypersolarer Hocharchitektur darstellte, blickte über die Kuppellandschaft hinweg, die bis nach Alt-Eluna hinüberreichte und ihrerseits die nichtzerstörten Teile der ehemaligen Gartenlandschaft beherbergten, und fokussierte zuletzt noch kurz sein in der Ferne unverkennbar vor der Schwärze des Alls schimmerndes Reiseziel. In Blau, Grün und Weiß leuchtete es ihm entgegen, prangte es dort vor dem sternengespickten Vorhang des Weltalls; lockte ihn mit den lebendigen Farben der toten VM, der alten Eutopie einer lange vergangenen Vereinten Menschheit. Er hatte für den Flug dorthin gut ein Viertel seiner Geldmittel aufgewendet, hatte eine Passage in Richtung traumatische Vergangenheit gebucht; Destination: Erde – Region: Zentraleuropa – Raumknoten: Frankfurt Rhein/Main. Dort würde die herrschende Dystopie ihn …

… der Gedankengang bricht jäh ab; sein konstant rebellierender Leib und der dagegen gerichtete Gedankensermon verstummen beide, Last und Leid verpuffen schlagartig, lösen sich plötzlich und gänzlich auf: Ein Riss in der Kontinuität der Realität tut sich auf, eine Sprungstelle in seiner Existenzkurve, ein kurzer Konflikt zwischen zwei Wirklichkeiten entflammt; tobt; verlischt; dann ergießt sich reine Wonne – unmittelbar, unerwartet, wundervoll wie der initiale Augenaufschlag an einem lichten Sommermorgen, heraus aus einem berauschenden Traum – inmitten seines Bewusstseins; wohlig warmes Licht begrüßt ihn sanft in einer neuen, altgewohnten Wirklichkeit, die sehr viel simpler ist, dadurch aber klar und kontrollierbar. Hinweg sind all die Nuancen, Schattierungen, Zweifel, hinfort die vielen komplexen Argumente, Erinnerungen, Pläne und Träume, vor allem aber deren unstillbare Differenz zur widerständigen, widerspenstigen Welt; versöhnt, alles mit allem, ein jedes mit einem jeden – holistische Perfektion des Arrangements, pure Harmonie der Seele, totale Kohärenz der Information: Identität! Er selbst – Xavers hyperreal simulierter Ich-Kern, der Keim seines technisch replizierten Bewusstseins – ist vollkommen rund, existiert als Entität einzig für sich, absolut egozentrisch; er ist topisch betrachtet ein Punkt, gelegen jenseits des dreidimensionalen Raums, irgendwo in dessen Nischen, und temporal gesehen gleicht er einem multiplen Graph, diskret aber volatil fortlaufend, irgendwann jenseits der linearen Weltzeit. In hyperreale Leere hinein emaniert seine subjektive Eutopie, Utopie in objektiver Gestalt umhüllt ihn; dennoch, die alten, mächtigen Titanen, die jedes menschliche Dasein befehligen, – Zeit und Raum – lassen nicht lange auf sich warten, bedrängen ihn und bemächtigen sich seiner unnachgiebig; unterbrechen das Äquilibrium des Anfangs unwiederbringlich, stören die Eintracht und die Glückseligkeit, kontaminieren seine Essenz mit hyperrealer Existenz, simulierter Differenz und fiktiver Dynamik: Die Zeit zerrt, der Raum reißt; dort wird er lokalisiert, sodann terminiert; die gestrengen Ahnen des menschlichen Geistes weisen ihn zurecht, brandmarken sein Bewusstsein kategoriell mit ihren vierdimensionalen Koordinaten und verbannen ihn somit endgültig an einen fixen Platz im Kontext einer finiten Anzahl an Aspekten, dargestellt durch eine ebenfalls endliche Menge an miteinander verknüpften Funktionen, determiniert durch eine Unzahl an globalen wie lokalen Parametern und Variablen. Ein kausaler Prozess beginnt und wird sukzessive komplexer, alsbald rekursiv und schließlich fraktal; vergangen ist die Trivialität des Beginns. Entzweiung, Existenz, Ekstase, Entropie, auf den Schmerz der Differenz folgt die angenehme Ahnung der Vektoren, die Sein in Werden transformieren; Verwunderung; die Wahrnehmung von dämmrigem Licht hinter dichtem Nebel daraufhin; schlagartig, glasklare Präsenz in lichter Daseinshelle – exakt so fühlt sich ein geglückter Systemstart an! Er existiert nunmehr technisch vermittelt, sogenannt hyperreal, erlebt dabei unerwartet die lange sehnlich erwartete Daseinsform fern körperlicher Anhaftung und geistiger Beschränkung – kalt und rein, frisch und prickelnd; ungeahntes Potenzial entfaltet sich, wird stetig expandiert und intensiviert; dabei kommt es aus dem informationellen Nichts, aus Null heraus folgen interessante Zahlen mit relevanten Werten.

Nun erst etabliert er sich als materieller Avatar in der hyperrealen Welt, erscheint damit als physikalisches Objekt und ist währenddessen psychisch noch bei weitem nicht final als hyperreale Persönlichkeit konstituiert. Er hat sich damit aus der verhassten Konsensrealität ausgeklinkt und existiert unter virtuellem Licht; gelangt dergestalt hinein in eine augmental direkt in seinem Kortex erzeugte Simulation einer lebensecht wirkenden Pseudowelt, die sich solcherart perfekt und perfide als Außenwelt gebärdet, dass die Gefilde seiner Hyperrealität einem künstlichen Paradies nicht unähnlich sind. Nach seinem Eintritt befindet er sich am standardisierten Startpunkt des Konstruktes: Er steht aufrecht unweit des höchsten terrestrischen Punktes dieser Welt, konkret auf dem Wehrgang eines trutzigen wie eleganten Palastkomplexes, blickt geradeaus in die Weite und die Tiefe, beide immens. Wie stets genießt er die ersten Augenblicke ausgiebig, den Ausblick über seine ureigene Schöpfung und deren Anblick; voller Genuss, aber maßvoll schwelgt er nur kurz, schon bedrängen ihn Funktionen und Algorithmen aller Klassen und Arten, fordern von ihm mit Nachdruck stetig wachsende Bruchteile seiner Aufmerksamkeit, zerteilen sukzessive sein kognitives Kontinuum in Myriaden von Partitionen, fragmentieren ihn, brechen den Geist in diverse Instanzen auf und lassen zunächst immerhin noch knapp 77% seines Bewusstseinspotentials für das kontemplative Einstiegsritual übrig. Die übrigen 23% werden für den Betrieb des Basissystems verwendet; durch sie und mit ihnen wird kalkuliert, operiert, analysiert und administriert, tief unter und hinter der optischen bis haptischen Welt-Benutzeroberfläche – irgendwo ganz unten in den Matrizen seiner Datenbanken, technoorganisch verschmolzen in einem neuronalen Verbundnetzwerk von Nervenzellen, Naniten und Augmentaten.

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