Am Wochenende ticken die Uhren anders. Da hat man Zeit, hat Muse und reichlich Gelegenheit für Kurzweil. Zeit also auch, um mal wieder ganz gediegen zu lesen. Und was bietet sich für die wochenendliche Schmökerei besser an als eine ordentliche Portion gut abgehangenes Text-Slow-Food, zumal es sich dabei auch noch um echte Originale handelt. Serviert werden die üppigen Portionen als bekömmliche Ration von je fünf Seiten pro Wochenende: Willkommen also in der ersten Ausgabe der Wochenendlektüren, einer Kombination aus TSF und Original in Serie und unter neuem Namen, innerhalb derer verschiedene Prosatexte veröffentlicht und zur Diskussion gestellt werden.
Den Anfang macht heute eine bereits vormals hier und sogar zweifach abgedruckte Geschichte, jedoch in einer so stark überarbeiteten Version, dass die urspünglichen beiden Entwicklungsstadien dieses Textes im direkten Vergleich alt und einfach aussehen. Eine literarische Skizze von einst entwickelt sich Schritt für Schritt zu einem Panorama, die Figuren werden lebendiger, Geschehen und Handlung stimmiger, die Sprache konsequenter und kompromissloser, was jedoch der Lesbarkeit nicht immer zuträglich ist. Dafür lernen wir einen stringent inszenierten Cyborg-Gelehrten kennen, dessen Leben aus den Fugen gerät und der dabei wider Willen zum Brennpunkt der Ereignisse in einer möglichen Zukunft einer solaren Menschheit wird. Es hätte so gewesen sein können steht sowohl als Arbeitstitel wie auch als Credo über dem literarischen Experiment, dessen erster von sieben Zugängen den Neumenschen Xaver S. ebenso porträtiert wie er die größeren Zusammenhänge und Hintergründe der fiktiven Zukunft darstellt und reflektiert.
Zukünftig werden mit wöchentlich fünf Seiten andere assoziierte Texte kapitelweise folgen: Inhaltlich anders gelagert, formal, funktional und sprachlich höchst divers wie different hierzu, führen neben Xaver S. (XS) sechs weitere Zugänge hinein in die vielfältige, postutopische Science-Fiction-Welt. Wir treffen auf die Zwillinge Yin & Yang (YY); begegnen der Schatzjägerin Alice Aqanda (AA); lernen Kjotho (KJ), den Regenten von Gor Thaunus, sowie die dort de facto herrschenden Oligarchen kennen; begleiten ein tierisches Trio (TVB), die Ente Trudie, den Raben Balthazar und den schwarzen Schwan Valerian auf ihrem politischen Trip; erleben das Drama rund um die Psychedeeler (PD), eine exzentrische Piratencrew, und nehmen Anteil am Leben und Leiden des Vektoren #42.3 (V8).
Nun aber eine gute erste Wochenendlektüre, Euer Satorius
1. Zugang XS – Schwere Ausnahmefehler im System
Mit jedem Tage und von beiden Seiten meiner Geistigkeit, der moralischen und der intellektuellen, näherte ich mich so ständig jener Wahrheit, durch deren teilweise Entdeckung ich zu einem so fürchterlichen Schiffbruch verdammt worden bin: daß der Mensch in Wahrheit nicht eins, sondern wahrlich zwei ist. Ich sage zwei, weil der Status meiner eigenen Erkenntnis nicht über diesen Punkt hinausgeht. Andere werden folgen, andere werden mich auf dieser gleichen Linie überflügeln. Ja, ich wage anzunehmen, daß die Menschheit sich schließlich bewußt werden wird eines ganzen Gemeinwesens vielfältiger, inkongruenter und unabhängiger Existenzen.
Robert Louis (Balfour) Stevenson (1850 – 1894), „Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde“ (1886)
„Die fehlerhafte und Unglück bringende Auffassung, als sei ein Mensch eine dauernde Einheit, ist Ihnen bekannt. Es ist Ihnen auch bekannt, daß der Mensch aus einer Menge von Seelen, aus sehr vielen Ichs besteht. Die scheinbare Einheit der Person in diese vielen Figuren auseinanderzuspalten gilt für verrückt, die Wissenschaft hat dafür den Namen Schizophrenie erfunden. Die Wissenschaft hat damit insofern recht, als natürlich keine Vielheit ohne Führung, ohne eine gewisse Ordnung und Gruppierung zu bändigen ist. Unrecht dagegen hat sie darin, daß sie glaubt, es sei nur eine einmalige, bindende, lebenslängliche Ordnung der vielen Unter-Ichs möglich. Dieser Irrtum der Wissenschaft hat manch unangenehme Folge, sein Wert liegt lediglich darin, daß die staatlich angestellten Lehrer und Erzieher sich ihre Arbeit vereinfacht und das Denken und Experimentieren erspart sehen. Infolge jenes Irrtums gelten viele Menschen für ’normal‘ ja für sozial hochwertig, welche unheilbar verrückt sind, und umgekehrt werden manche für verrückt angesehen, welche Genies sind. Wir ergänzen daher die lückenhafte Seelenlehre der Wissenschaft durch den Begriff, den wir Aufbaukunst nennen. Wir zeigen demjenigen, der das Auseinanderfallen seines Ichs erlebt hat, daß er die Stücke jederzeit in beliebiger Ordnung neu zusammenstellen und daß er damit eine unendliche Mannigfaltigkeit des Lebensspieles erzielen kann. Wie der Dichter aus einer Handvoll Figuren ein Drama schafft, so bauen wir aus den Figuren unsres zerlegten Ichs immerzu neue Gruppen, mit neuen Spielen und Spannungen, mit ewig neuen Situationen. Sehen Sie!“
Hermann Hesse (1877 – 1963), „Der Steppenwolf“ (1927)
Man starrte ihn an. Dabei saß der graue, alte Mann derzeit einfach nur ruhig da und wirkte, als schliefe er tief und traumverloren. Seine Augen waren geschlossen, sein Gesicht war glatt und er wirkte totenstarr. Nur wer genau hinsah, konnte ein minimales Zucken erkennen. Im fahlen, faltigen Gesicht verrieten es nur die Augen, auch wenn die Lider wie die übrige Muskulatur körperweit paralysiert waren: Die Augäpfel rollten unter der künstlich stabilisierten Mimik wild umher. Unablässig, aber weitgehend unsichtbar sprangen die blassblauen Iriden chaotisch hin und her; unstet, rasch und irritierend erratisch. Dabei weiteten sie sich, zogen sich wieder zusammen, der permanenten Dunkelheit scheinbar zum Trotz. Ein verborgener Widerspruch, ein störendes Detail das Wissenden vieles verraten hätten. Aber sie wussten es nicht, sahen es nicht; ahnten, argwöhnten es allerhöchstens. Verstehen würden sie es keinesfalls.
Neugierige bis verwunderte, bisweilen milde belustigte und häufiger nunmehr auch ärgerliche, jedenfalls kaum noch verstohlene Blicke streiften ihn, trafen ihn und blieben an ihm haften. Er bot ihnen Nahrung, lieferte ihnen den Stoff für ihr peinlichesu Mitvergnügen und taugte ideal als Objekt für sie, seine sogenannten Mitmenschen, hier und heute genauer Mitreisende. Man war bedürftig dieser Tage, denn viel Leid herrschte unter den Menschen; die Last der älteren und neueren Geschichte war kaum noch zu ertragen. Man war also dankbar für ein scheinbar so wehrloses Opfer, eine abnorme Ablenkung. Denn sie verzehrten sich schier nach Zerstreuung, nach simpler Ablehnung, danach, all das Falsche in ihnen und um sie herum zu kanalisieren, zu fokussieren und zuletzt zu projizieren, nach draußen, möglichst weit weg von sich. Heute wählten sie ihn als Objekt dafür aus; er bot sich an, hatte sich sogar ehrlicherweise förmlich aufgedrängt. Dabei war das, was er tat, weder verboten, noch lag es überhaupt in seiner Verantwortung, was hier mit ihm geschehen war, weiterhin geschehen würde.
Er litt unter einer Serie schwerer Systemfehler; aber auch das würden die wenigsten von ihnen überhaupt erkennen, geschweige denn anerkennen. Er wiederum sagte es ihnen nicht, fragte sie auch nicht nach Hilfe, beschwerte sich sogar bisher beim Personal nicht mal über seinen Zustand. Dabei unterlag die Sicherheit der Fluggäste logischerweise fremder Verantwortung und die Verantwortlichen wussten schließlich genauestens über seine Situation Bescheid; kannten die für seinen besonderen Fall geltenden Sicherheitsstandards. Sollte er also tatsächlich durch ein tumbes Unterlassen der Betreiber einen chronischen Schaden davontragen, außer derzeit weiterhin nicht eben angenehmer Reflexion ausgesetzt und diverser Symptomatik unterworfen zu sein, würde er charakterliche Milde und kultivierten Pazifismus fahren lassen. Er war nur ihretwegen so heftig gestört, total dysfunktional und nicht nur deshalb ziemlich gestresst. Sollten sie doch allesamt, die Mitarbeiter der Korporation ebenso wie die anonymen Mitmenschen, sich selbst wiedererkennen an ihm, gnadenlos in ihrer Widerwärtigkeit durch ihn gespiegelt. Er unterdes ließ sich nicht beirren, weder in seinen Prinzipien noch in seinen persönlichen Präferenzen und Paradoxien. Mit ihren törichten Meinungen über seinen Zustand zeigte sich der ihre umso eindrücklicher und damit untrüglicher. Ängste und Ambitionen brachen sich an ihm, bündelten sich um ihn herum und verliehen ihm hässliche Attribute: krank, gestört, gefährlich, bestenfalls noch dubios oder mysteriös. Er hingegen blieb sich auch praktisch treu: Ignorierte sie, größtenteils und wenn möglich technisch assistiert, indem er völlig in seine eigene Welt eintauchte oder wenigstens die allgemein verbindliche Außenwelt gründlich verzerrte, sie willkürlich manipulierte und somit bedarfsgerecht zurechtstutzte.
So gut es eben ging und so lange es gut ging, tat er das; aber dann gab es immer wieder diese kleinen und größeren Abstürze. Schwere Systemfehler solchen Ausmaßes hatte er seit Jahren nicht mehr ertragen müssen, nicht mal bei den regelmäßig heftigen Sonnenstürmen ging es ihm derart miserabel. Wie von gefräßigen Käfern, die sich gierig durch Silizium, Kunststoffe, Metalle und Fleisch fraßen, wurde er von Bugs überrannt, übermannt und von innen heraus lahmgelegt; seine neuronalen Netze litten effektiv seit kurz dem Start unter allerlei Interferenzen, insbesondere die vielen komplexen höheren Augmentate. Dabei drängte sich ihm, dem kühlen, sachlichen Denker, dieser ekelhaft lebendige Vergleich auf, obwohl er den letzten echten Käfer vor mehr als einem Jahrzehnt gesehen hatte. Er war kurz erstaunt über den Bilderreichtum und die Blumigkeit seines Denkens, verbuchte es dann aber als weiteren Effekt von Deaktivierung und Einsamkeit. Denken in Metaphern war ihm im Normalfall fremd. Mehr noch, er verachtete alle Tropen, sah in ihnen Verwirrungen und Spielereien des Denkens. Aber er riskierte es, dem aktuellen Drängen der rechten Hemisphäre nachzugeben; wollte dabei aus dem ungewollten Zustand wenigstens etwas über sich selbst lernen, sein rohes Ich erleben, bar jeder Assistenz und Modifikation wild denken und zugleich suboptimal existieren.
Jene Situation fußte auf einer Fehlerserie, welche den hyperrealen Weltenwanderer fesselte und band, ihn gnadenlos in die Konsensrealität zurückwarf; hineingepresst in das blasse Abbild, das von ihrem einst so leuchtenden Urbild noch übriggeblieben war: Ein goldenes Zeitalter war in tiefste Finsternis hinabgestürzt; so nostalgisch überzogen urteilte nicht nur er, so oder so ähnlich dachten die meisten seiner Zeitgenossen. Dass alles zu Bruch gegangen und total schief geraten war, war einer der wenigen unstrittigen Allgemeinplätze im Sonnensystem. Sonst hingegen war man sich in Wenigem derart einig; denn es herrschte Zwietracht und die vier Reiter marodierten, errichteten ihre Reiche in den Ländern der Sterblichen.
Dazwischen also, wenn er unweigerlich in diese Realität zurückfiel, abstürzte und hier bruchlandete, schützte er sich sensorisch so gut und so weit es ebengerade ging; denn immerhin, viele der makroskopischen Augmentate funktionierten noch leidlich zuverlässig. Aber das half alles nichts: Er brannte durch, weshalb sein sonstiges Verhalten immer wieder auffällig und tatsächlich abnorm gewesen war. Sein bisheriges Gebaren war bestenfalls noch affektiert zu nennen, schlechterdings wirkt es ungesund und widernatürlich, schlichtweg gestört. Er degenerierte körperlich, so viel war klar, und alle konnten sie seinem sukzessiven Verfall beiwohnen. Immer wieder aufs Neue, selten aufs Gleiche eskalierte sein Körper seit Beginn des Fluges. Er ekelte sie an, faszinierte sie damit zugleich, erregte Aufsehen und Abscheu gleichermaßen.
Es herrschte Chaos in ihm; Entropie zerfaserte, zerfranste, zerfräßte seinen Kosmos, sein Selbst deflagrierte: existenziell, physisch und psychisch, augmental wie hyperreal. Er litt, konnte nicht mehr, irrte mental wahllos umher. Stress, ein für ihn seltener Zustand, griff um sich. Dissoziative Anfänge stürzten hinab in assoziative Verwirrung und kulminierten dann irgendwann in den Fängen nostalgischer Melancholie. Gedankenschimären galoppierten, durchwaberten Schleiern gleich sein entfesseltes, unruhiges Bewusstsein und marterten in Summe mit handfesten Schmerzen seine kaputte Konstitution. Die Käfer wühlten sich unterdessen durch sein Abdomen, labten sich an den diversen Organen, folterten ihn in seiner eigenen Haut. Der Schmerz hämmerte als vielfarbiges Stroboskop. Er wanderte im Zwielicht. Unentwegt blitzten Erinnerungen und Erwartungen auf, abrupt, verbanden sich und drifteten davon, gemeinsam zwar, doch wahllos durcheinandergewürfelt. Sein sonst kontinuierlich und optimal unter Kontrolle gehaltener Leib nutzte den Ausnahmezustand ungehemmt aus. Das wilde Fleisch trumpfte auf, protzte mit sonst regulativ kompensierten Fehlern, erging sich in Marotten und Makeln. Es tat also schlicht, was es sonst nicht konnte, und überschüttete ihn schon seit einer subjektiven Ewigkeit – die sich objektiv auf exakt 95 Minuten, genau 17 Sekunden und gerundete 357 Millisekunden belief – mit einer exquisiten Auswahl an mitunter quälenden Symptomen. Physisch überwogen dabei bisher Juckreiz, Übelkeit, Kopf- und Gliedschmerzen, aber mit nahendem Niesen und beginnendem Augentränen kündigten sich gerade zwei Neuerungen in der gleichfalls unerwünschten wie unangenehmen Reihe an Leiden an. Früher hatte man dieses an sich unspezifische Syndrom als Technose beschrieben; damit meinte man einen instabilen Zustand, der sich bei Neumenschen aus unterschiedlichsten Gründen einstellte. Insbesondere nach dem Versagen eminenter Kernkomponenten trat gewiss Technose auf. Die Körper der durch und durch technisierten Menschen kannten kein autarkes Gleichgewicht, hatten in vielerlei Hinsicht verlernt, selbstständig zu funktionieren, zu leben, waren damit unfähig zur Homöostase geworden und kollabierten deshalb verschiedentlich. Dennoch waren Neumenschen langfristig robuster, langlebiger und leistungsfähiger, sodass der lebenslange Anreiz hoch genug gewesen war, die mitunter und nur mit Pech lebensbedrohlichen Risiken einzugehen. Nun erlebte er diese Kalamitäten am eigenen Leib, zahlte stellvertretend den Preis für den technologisch erzwungenen Evolutionssprung der Menschheit.
Vermutlich würde er also gleich wieder zum Blickfang aller werden. Ganz so, als ob er ein grotesker Clown in einem Zirkus der Absonderlichkeit wäre, der hier, in der nüchternen Sachlichkeit der Kabine, für den gemeinen Pöbel seine bizarren Kunststücke aufführte. Eine Posse für den Pöbel, dargeboten von einem Narren, der sich seit langem schon zum Magier gewandelt wähnte. Er hatte ein Faible für alte Esoteriken und spielte deshalb gerne mit solchen kuriosen Weltbildern; pflegte so den Umgang mit vormodernen Gedankengebäuden, jonglierte und kokettierte dabei munter mit ihren Begriffen und persiflierte rundheraus ihre kruden Ideologien – Tarot und die große Arkana beispielsweise.
Nunmehr reagierte er, deaktivierte per Mentalbefehl die künstliche Paralyse seiner Muskulatur, sonst würde er sich beim nächsten Technose-Schub womöglich unnötige Zerrungen, Hämatome oder dergleichen Ärgernisse zuziehen. Denn, was jetzt genau kommen würde, wusste er nicht und auf die üblichen Notfallmechanismen zur Schadensprävention wollte er sich hier und heute definitiv nicht mehr verlassen.
Schon passierte es; er stöhnte sofort laut auf; nieste daraufhin heftig, herzhaft, mehrfach: „Argh … Haaattschuu! … Haatschiiii! …“, so und ähnlich ging es die nächsten Minuten weiter. Glieder zuckten wild und Körpersäfte flossen ungehemmt, wurden daraufhin umständlich, dennoch effektiv beseitigt. Die ganze Zeit über ließ er seine Lider vor den salzdurchtränkten Augäpfeln, all den ungezügelten Tränen zum Trotz, weiterhin tunlichst geschlossen – diese anonymen Blicke! Sie sollten ihn eigentlich nicht interessieren, plagten ihn jetzt aber trotzdem zunehmend.
Die vielen Ionen in der unregulierten, natürlichen Tränenflüssigkeit schadeten einigen Augmentaten in den beiden Auge; aber was sollte er denn anderes tun als warten, hoffen und weiterhin befehlen. Entsprechend begannen die Augen nun auch spürbar zu schmerzen. Soweit es machbar war, leitete er den Überschuss an Tränenflüssigkeit über einen flexiblen Beipass in seinen Magen um, tat vom Nötigen damit aber nur das soeben und eingeschränkt Mögliche. Eigentlich müsste er jetzt eine gründliche Spülung der Augen vornehmen, ein neues Fluid herstellen und dieses letztlich applizieren, aber er war in seiner Körperkontrolle massiv eingeschränkt. Warum so kompliziert, rief er sich pragmatisch zur Räson und tat, was die Normalmenschen in solchen Fällen auch taten: Im Gegensatz zu ihnen weiterhin vom Außen isoliert, taub und blind, jedoch nicht mehr lahm, wischte er sich kurzerhand die überschüssigen Tränen einfach mit dem Ärmel seiner Adora weg, wobei das multifunktionale Nanitengewebe die Flüssigkeit zum Gros resorbierte und nahezu 100% der Materie für Xaver wiederverwertete.
Inzwischen hatte sein rebellischer Körper begonnen, hemmungslos zu jucken; dementsprechend kratzte er ihn unerbittlich. Versuchte es zunächst, dabei plump scheiternd, durch den mehr als solid zu nennenden Werkstoff der mehr als nur funktionalen Kleidung hindurch. Direkt aus der Starre heraus und gleich mal richtig tief rein in den Slapstick, dachte er nebenbei in einer Mixtur aus Selbstironie und ungewohnter Scham. Sollte er sich nun schlicht wieder sedieren und damit vor der Situation kapitulieren? Nein, er würde sich wehren! Also akzeptierte er den Zustand, dachte kurz nach und fuhr sodann mit der Hand durch die Ärmel unter die beigen Nanofasern seiner Kleidung, einer Tracht, die einer Mönchskutte gleich locker um seinen Körper fiel. Das intelligente Material weitete sich, sobald er in es hineingriff – es funktionierte also immerhin etwas. Der Juckreiz sprang unterdessen, als wollte er ihn verhöhnen, also disponierte er um. Er jagte ihn und kratzte, zaghaft und zerstreut zuerst, fixierte sich dann aber auf seinen Nacken. Seine Körperwahrnehmung transformierte schlagartig, Juckreiz unterlag heftiger Verspannung, krampfartig ansteigend. Dorthin, wo ihr Epizentrum lag, konnte er glücklicherweise gut mit seiner linken Hand gelangen; die Rechte hingegen war zwischenzeitlich taub geworden und deshalb derzeit nur mäßig hilfreich. Dergestalt gehandikapt massierte er sich noch eine Weile mit der Linken weiter – emsig, aber erfolglos; malträtierte dann zunehmend eine Stelle, weiter oben direkt am Haaransatz und rieb vehement dort, wo Juckreiz wieder die Oberhand zu gewinnen schien. Sollte er doch seine Nervenenden ausschalten, es zumindest optimistisch nochmals versuchen, das Problem augmental in den Griff zu bekommen? Es gab immerhin praktisch unendlich viele Optionen und Modifikationen, die er ausprobieren konnte, dazu bedurfte er nicht zwingend der Assistenz durch seine sieben Module oder gar des Zugangs zur Hyperrealität.