Heute betone ich mit der Veröffentlichung der dritten Wochenendlektüren die dritte Silbe des Wortes: „END“. Während sich das Ende der Woche dem Ende zuneigt, übergebe ich Euch die nächsten fünf Seiten von Xavers Geschichte; ich übereigne Euch damit meine fantastischen Worte und überlasse es eurer Fantasie der Welt Farbe, Weite und Tiefe zu verleihen.
Noch jedoch bleibt alles weiterhin recht rational und abstrakt, denn er ist mental reichlich verstiegen, lebt nur in seinem Kopf, der derzeit so verbuggte Cyborg. Dessen Leben ist kürzlich genug mit dem Motiv „Ende“ penetriert worden und wird es weiterhin werden. Bald, aber noch nicht sofort, kommt sogar die Stunde der Wahrheit, nach der höchst plastischen Innenwelt kommt die Außenwelt erstmalig zur Erscheinung. Bis dahin bleibt das Buch erzählperspektivisch im Kopf des Neumenschen und manifestiert sich beim Lesen des folgenen Texthappen in unserem Kopf, denkt, berichtet, kommentiert und reflektiert durch uns. Aber genug ge…
Kurz und knapp, ohne allzuviel Schnick-Schnack und Papperlapapp, Euer Satorius
(…) 1. Zugang XS – Schwere Ausnahmefehler im System
Es hatte ja schon zuvor kaum leistungsfähigere Augmentate gegeben, aber dieser Tage waren seine perfekt gewarteten, optimal kalibrierten und ideal integrierten a.u.-Augmentate eine absolute Ausnahmeerscheinung. Auf diesem technischen Faktum hatte er sich, wie er nun schmerzlich erfahren hatte, zu lange ausgeruht. Sein – nunmehr: ehemaliger – Arbeitgeber war die academia universalis oder kurz a.u., ausgedrückt als Punkt-Akronym, wie man es dort liebvoll zelebrierte und übertrieben kultivierte. Die Institution solaren Ranges war gleichermaßen seine technologische Amme wie Ort seiner privaten und professionellen Vergangenheit. In Relation zu ihrer Macht und den anderen relevanten Gruppierungen war die a.u. erstaunlich unbeschadet aus den Wirren der jüngeren Historie hervorgegangen. Trotz des Technologiesterbens verfügte man dort über einen beträchtlichen Anteil am verbliebenen Bruchteil intakter Alttechnologie und hatte überdies große Fortschritte in der Wiederaneignung des früheren Technologieniveaus erzielt. Eine trotz aller Verschleierungsversuche und vormaliger Diskretion leider weithin bekannt gewordene Tatsache, die dementsprechend häufig Anlass für Gerüchte und Argwohn gab. Auf diesem Boden wuchsen die Theorien nicht nur in der Verschwörungsszene seit Langem wild, wucherten und trieben alsbald prächtige Blüten: Von offener und verdeckter Bewusstseinskontrolle war die Rede, dabei fantasielos, manipulierte Augmentate und Daten verdächtigend, bis kreativ, eine gezielte Veränderung des Mikrobioms oder Hirnphysiologie vermutend. Von Supersoldaten, Mutanten, Klonwesen und Cyber-Magiern wurde ebenso gemunkelt, wie Außerirdische und mächtige KI’s zu den Kunden der a.u. gezählt wurden. Das Meiste davon war Spinnerei, wie Xaver trotz seiner lediglich mittleren Sicherheitsfreigabe zu wissen vermeinte, nur das Wenigste annäherungsweise zutreffend, zumal unter sachlichen und damit unspektakulären Nomen. So war er selbst lebender Beweis in Richtung KI und Cyber-Magier, würde er als Augmentat-Träger der 6. Generation im 67. Rang doch allen Menschen und sogar vielen Neumenschen als wunderliches Meisterwerk erscheinen, wenn sie seiner zunächst unsichtbaren Fähigkeiten und Fertigkeiten denn je ansichtig wurden, was recht selten geschah. Wer bei der academia tätig war, lebte zurückgezogen und arbeitete in der Stille, an vielen versteckten und wenigen öffentlichen Orten überall im Sonnensystem, auf und unter der Erde.
Aber er war raus! Trotz aller technischen Perfektion war er in Ungnade gefallen, war ihm zuletzt gekündigt und er damit fast zeitgleich aus seinem Exil geworfen worden. Garret und Aurelia, seine Mentoren und Vorgesetzten hatten bisher nicht mal den Schneid und den Anstand gehabt, sich ihm zu erklären oder auch nur irgendwie persönlich von ihm zu verabschieden; allzu viel zu erklären, zu begründen gab es leider ehrlicherweise nicht, denn er war schuldig, war sehenden, suchenden Auges auf dem schmalen Grat zwischen Kündigung und weiterer Duldung seiner Allüren entlang getanzt. Er tat soeben, was er tun musste; arbeitete aber ohne Ambition und Innovation, zumeist jenseits der gesetzten Fristen und diesseits des regulären Tagesarbeitspensums. Liederlichkeit, Ineffizienz und Perspektivlosigkeit wurden ihm primär zum Vorwurf gemacht. Und er hat es gehört, genickt und nicht gehandelt. Mahnung nach Mahnung war ergangen und dann kam die Kündigung.
Wie wohl sein neuer Arbeitgeber technologisch im Detail ausgestattet sein würde? Darüber hatte er sich, die allgemeinen Angaben in den diversen Ausschreibungen hin oder her, schon vielfach Gedanken gemacht, sich die Hardware in hellen und hellsten Farben ausgemalt; wobei ihm hierbei wirklich nur der spekulative Modus faktenbasierter Fiktion als Heuristik übrigblieb, da die notwendigen Fakten allesamt Informationen von strategischem Wert waren und damit in Krisen- und Kriegszeiten streng geheimgehalten wurden. Er konnte somit nur auf Basis minimaler Datenbestände extrapolieren, was zwangsläufig eine heftige Varianz der Prognostik und ihrer Qualität bedeutete. Zugegeben, er war also, was selten genug vorkam, im Unklaren über die nahe Zukunft, war deshalb gespannt, geradezu nervös. Denn er sah einer unsicheren Zeit entgegen und wurde wirklich wie real herausgefordert. Vielleicht, so dachte er nun wieder munter weiter – trotz aller neuen Freiheiten zum Pessimismus ganz gemäß augmentaler Direktive manisch-positiv gefärbt – würde er irgendwann, viel später und viel weiter hinten auf dem gerade erst eingeschlagenen Weg sogar zum intimen Vertrauten eines seiner wahrscheinlich später nicht unbedeutenden Schüler avancieren; konnte so womöglich selbst Einfluss auf die solare Politik und die Geschichte der solaren Menschheit nehmen. Wenigstens, so beschied er sich nun doch nüchterner, würde er hinsichtlich der Grundbedürfnisse absolut autonom leben können. Außerdem, Macht interessierte ihn nicht mehr, weder als Mittel, noch als Zweck oder Zustand; das war lange vorbei und er hatte damals bei den Lektionen und Simulationen, wie Macht zu generieren, zu konsolidieren und zu instrumentalisieren wäre, immerhin schlimmstenfalls lediglich hyperreales Leid verursacht, tragisch im direkten Erleben, ja, aber trotz allem am Ende und rückblickend nur fiktional, simuliert, nicht faktisch und fatal – reversibel und irreal. In die Geschichtsschreibung würde er sich also hoffentlich nicht verstricken und verwickeln lassen – da wollte er ganz treuer Neo-Epikureer sein, Suchtproblem hin oder her, seine Devise lautete: Genieße dein Leben und lebe im Verborgenen! Soweit seine Prinzipien und Visionen für die nächsten Kapitel seiner Lebensgeschichte. Dass deren Erzähltempo sich derzeit merklich zu erhöhen anschickte, wollte ihm weiterhin nicht so recht gefallen. Er mochte es gelassen und gemütlich, behaglich und berechenbar, nicht hastig und heftig. Er sollte entschleunigen, Zeit und Kraft tanken.
Ergo meditierte er, mündete sein Denken in eine kurze mentale Stille; sein Bewusstsein zentrierte sich; er begab sich dergestalt ins natürliche Auge des technologischen Sturms: Das All in sich spüren, den Atem wahrnehmen und lenken, Brahma entdecken, nichts denken und alles achtsam in sich aufnehmen, in sich vertiefen und sich auflösen. Soweit die Ideale, und der Versuch ihrer praktischen Umsetzung war immerhin zweckmäßiger, als weiter nutzlos daherzudenken und dabei simulativ seit Langem gelöste Probleme, weit vor deren Umsetzung und vor allem ohne neue Information, abermals hin und her zu wälzen, nochmals zu grübeln und letztlich womöglich sogar noch zu hadern.
Zeit verging; aber aus dem minimalen Keim des Zweifels erwuchsen schon bald bittere Früchte. Tropisch überhitzt kehrte er ins wilde Denken zurück, zerbrach damit seinen Fokus, trübte die Klarheit des Geistes; fürchtete sodann den nächsten Übergriff seiner krisengeschüttelten, fehlergeplagten Körpermaschine; wappnete sich daraufhin gegen ihren nächsten Angriff auf seinen fragilen Geist. Also flüchtete er, nicht in die Stille, sondern ins Getöse, konsequent und kompromisslos nochmals ins Reich der rasanten Reflexion: Sie waren weg, alle Sieben, und er darüber und anschließend von sich selbst ambivalent überrascht. Am Ende vermisste er sie sogar irgendwie mehr, trotz allem, als er sich das vorzustellen gewagt hatte. Frei zu sein, Freiheit zu haben, konnte eben auch Einsamkeit und Unsicherheit bedeuten; Unabhängigkeit in extremer, radikaler Form konnte Fluch statt Segen sein. Ohne seine technologische Assistenz, bar der meisten augmentalen und aller hyperrealen Optionen war er der Welt, der Physis und Aspekten seiner Psyche hilflos ausgeliefert; war frei von Technik und doch zugleich auch unfrei zu vielem, was er sonst wollte und üblicherweise konnte. Denn gerade jetzt, weiterhin, dachte es sich insbesondere ohne die Einflüsse und Einflüsterungen der sieben KI-Module entsetzlich anders, so eindimensional und monologisch, wirr und beliebig, zum Teil düster und dunkel, bildreich und netzartig, quer durch die Zeit und dem Zufall ausgeliefert. Sein Denken war tierischer und wilder, willkürlicher und spontaner geworden; geschah gleichsam in einer durchaus kreativen Reihe von Assoziationen; konkludierte wenig bis überhaupt nicht, kam aber pragmatisch, wenn auch auf mystischen, okkulten Pfaden zu analogen Schlüssen; alles insgesamt aber, seine Existenz, sein Dasein geschah entschieden strukturloser, war weniger objektiv und operant, valide und reliabel; er dachte krumm, ineffektiv und undifferenziert. Noch ertrug er es, dachte nebenbei tröstlich: Halb so wild, zur Not konnte er auf klassische Formen der Weltflucht zurückgreifen, ob wieder Meditation mit Brahma oder eventuell irgendeine Gebetsliturgie mit Allah, Manitu, Enki oder gar Gott höchstselbst, die Möglichkeiten waren Legion und er konnte improvisieren. Bald jedenfalls würde dieser Zustand überstanden sein, bald – spätestens in gut zwei Stunden, sofern er in Sachen Normalzeit noch leidlich korrekt orientiert war.
Wenig überraschend hinterließ die mehrfach, ja, simulativ sogar milliardenfach analysierte Thematik derzeit dezidiert eine andere neuronale Spur in den Windungen der betroffenen Hirnareale, wirkte irgendwo in den Untiefen seines Neokortex irgendwie andersartig. Für diese banale Bestandsaufnahme brauchte er keinerlei präzise Echtzeit-Hirnanalyse, auch keine sonst wie schlagende empirische Evidenz, er gewahrte den psychischen Prozess intuitiv, induzierte aus seinem nervlichen Nachhall retrospektiv das, was deduktiv sein über Dekaden gewachsener Wissenskomplex samt Spürsinn für psychische wie mentaltechnische Vorgänge und ihre zeroplastischen Resultate ihm diktierte. Auch wenn die meisten seiner Gedankengänge in ihrer zuvor und weiterhin realisierten Form minimal als Übertreibungen und maximal als Hirngespinste gelten mussten, blieb trotz aller Technikfreiheit die logische Folgerung am Ende des Denkweges gleich; auch ohne luzide Abwägung aller Parameter und bar der Kenntnis von Wahrscheinlichkeiten stand auch nach dem Gedankenspiel auf diesem lästigen Flug die Konklusion weiterhin felsenfest: Falls seine Zweck-Utopie fast-m.a. im großen Wirtschaftswunderland, als welche er sie nun wiederum entlarvt hatte, nicht realisiert werden konnten, wurde dennoch beinahe jede Tätigkeit in der grob anvisierten Branche astronomisch hoch honoriert. Durch eine derartig üppige monetäre Kompensation würde er gewiss darüber hinweggetröstet, kein gutväterlicher Marionettenspieler im Dienste von Humanismus, solarem Frieden und der Rückkehr der Menschheit auf den Pfad von Fortschritt und Gerechtigkeit sein zu dürfen. Zumal er durch die gesamte Aktion, sollte sie auch nur im Ansatz glücken, ganz nebenbei ein sicheres, voraussichtlich sogar herrschaftliches Dach über seinen derzeit faktisch obdachlosen Kopf bekommen konnte. Das war derzeit eine von drei absoluten Prioritäten. Was wollte, wünschte er also mehr; bei seiner Vita war selbst das wahrscheinlich erreichbare Minimum weit mehr, als er zuvor im hyperrealen Traum, im Tran auf Luna je für möglich gehalten hatte. Denn die Privatwirtschaft war ihm bis vor wenigen Tagen niemals als eine nötige Alternative, noch gar je als die derart reizvolle Perspektive erschienen, die sie nunmehr geworden war; hatte werden müssen – nach dem überfälligen Rauswurf aus der Akademie.
Eine Kündigung kam dieser Tage, zumal in seiner speziellen Situation, einer Apokalypse gleich, machte zwar manches möglich, vor allem jedoch machte sie noch viel mehr nötig. Gleich einem kalten Neustart mit anschließendem Betrieb auf Notstrom, ob infolge eines EMP-Angriffs, Bugs oder einer Beschädigung, war der Absturz gleichsam gnädig und gewaltsam – nur das in seinem Fall eben niemand da war, um das Notstromaggregat zu stellen, zu versorgen und zu warten; geschweige denn die daran angeschlossenen Gerätschaften funktional zu halten. Wie alle Menschen musste er essen und vor allem trinken. Im Gegensatz zu der Masse an Puristen verbrauchte er jedoch ungeheure Mengen an Energie: Über die üblichen 2.500 Kilokalorien hinaus verbrauchte er noch durchschnittlich gut 6.000 zusätzlich, um die notwendigen rund 300 Watt Leistung pro Stunde für seine diversen Augmentate zu generieren und so ihre reibungslose Stromversorgung zu gewährleisten – so viel konnte und wollte niemand essen. Also bedurfte er neben der chemisch-biologischen Energieerzeugung zusätzlich einer elektrischen Stromquelle, um regelmäßig seine Speicher kabelgebundenen wieder voll aufzuladen; das war zwar nicht täglich, aber auch mit radikalen Einsparungen wenigstens wöchentlich notwendig. Zudem musste der technische Teil seines Leibes von Zeit zu Zeit gewartet sowie, wenn und wo nötig, repariert werden, wofür seltene Materialien, Ersatzteile und Verbrauchsstoffen von Nöten waren. Ihm gingen alles in allem also die lebensnotwendigen Ressourcen aus, zu rasch, denn ein Neumensch zu sein und auf längere Sicht auch zu bleiben, war sehr teuer und ziemlich aufwändig. Gewisse Kompromisse waren möglich, aber große Teile seiner Körperprozesse funktionierten nur noch mit augmentaler Assistenz, hatten sich der autarken Homöostase lange entwöhnt. Bisher wie selbstverständlich von der a.u. gewährleistet, war dieser Zustand des drohenden Mangels mitten in seine heitere Hyperrealität hereingebrochen. Bei der Abreise aus der Enklave hatte er zwar ein paar Vorräte erhalten, welche jedoch arg knapp kalkuliert waren. Trotz des morgigen, durch geringe Geldmittel leider limitierten Rastens in Frankfurt war ihm minutiös von Gougol, hoFFmaNN und Brigitte durchgerechnet worden, dass die Versorgungsgüter nur mit moderater Rationierung bis zum Zielort seiner Reise ausreichen würden. Erst dort, im Haus seines potentiell ersten privaten Kunden und damit Arbeitgebers, tief im Süden der nahegelegenen, aber aktuell nicht direkt erreichbaren Metropolregion Nordrheinland gelegen, würde er, so denn Glück und Geschick mit ihm waren, wieder eine Rundumversorgung erhalten. Er, der Neumensch, war damit zeitgleich mächtiger und ohnmächtiger, weil bedürftiger als die wenig oder überhaupt nicht augmentierte Mehrheit seiner Mitmenschen; große Kraft verursachte große Kosten. Nach der Kündigung war er nun definitiv arbeitslos und in wenigen Wochen eventuell auch noch mittel- und ressourcenlos.
Unversehens war er deshalb vor fünf Aktuell-Tagen, kurz nach Tagesbeginn aufgebrochen und hatte nach einer langen Nacht des hyperrealen Grübelns und Entwerfens einen neuen Lebensweg eingeschlagen. Dieser für ihn so erschütternde Tag hieß gemäß der Terminologie des in der a.u. weiterhin gebräuchlichen Solarions, je nach Geschmack frei wählbar, entweder numerisch-prägnant 64.01.133 oder kulturgeschichtlich-ausführlich Saturn/EU/Tradition/133; ein Datum allenfalls, das Xaver zeitlebens unangenehm in Erinnerung behalten würde, wenn er die korrespondierenden Daten nicht schlicht löschte, genauer gesprochen die verteilten Aktivitätsmuster neuronaler Erinnerungsnetze nicht nivellierte. Noch nachhaltig geschockt von der heftigen Nachricht, dem ultimativen Rauswurf mit einer Vollzugsfrist von nur einem läppischen Tag, war damals die an- und abschließende Abreise nur dank augmentaler Unterstützung relativ reibungslos verlaufen. Xaya, Matrina sowie hoFFmaNN, Brigitte war selbstredend federführend involviert gewesen, wurde aber ignoriert, hatten ihm mit ihren Fähigkeiten und Eigenschaften umfassend assistiert; wobei ihn seine drei anderen Begleiter, Aristokraton, Friederich und Gougol in jener Ausnahmesituation nur mäßig hatten unterstützen können.