Wochenendlektüren Nr.5 – YY1: S. 1-2/~34 [Version 1.2]

Während der Plot fast ausgereift ist, die Konflikte und Motive grob geklärt sind, letzte Justierungen an Erzählstruktur, Stil und Personal – bisweilen schmerzhaft und definitiv langwierig – vorgenommen und umgesetzt worden sind, lasse ich die Wochenendlektüren freimütig wiederauferstehen. Texte für die Füllung gibt es nunmehr genug, sogar für eine echte Kontinuität sollte es langen; ob die Artikel aber immer so zeitig, ordentlich und ausführlich kommentiert sein werden, wissen nur die Moiren und Musen.

Zuvor hat eine andere Figur aus dem selben (nicht gleichen) Kosmos, der Neumensch Xaver S., den literarisch-dilletantischen Reigen mit vier schweren Takten eröffnet, aber auch ihm und seiner Geschichte ergeht es nun zum dritten oder vierten Mal so, wie es YY1 sogleich ein zweites Mal ergehen wird: Es folgt auch bei diesen beiden das Update heraus aus der Betaphase hinein in die erste finale Version 1.0 (mittlerweile im Update 1.2), bei jenem schleicht sich bereits die Version 2.3 in den Tiefen des Blogs still und heimlich heran. Deshalb erlaube ich mir frei heraus eine Empfehlung in Richtung des Updates der ersten vier Teile von XS1, denen sich bald irgendwann die restlichen Sequenzen des ersten Kapitels und zukünftig unbestimmt auch einmal des zweiten, abgeschlossenen und des entstehenden dritten Kapitels im Rahmen der Wochenendlektüren anschließen werden – vom nur imaginierten vierten oder gar dem vorgenommenen fünften Kapitel beinahe geschwiegen. Hier also findet ihr die Aktualisierung der Urzelle meiner literarischen Ambitionen, welche demgemäß auch der am weitesten entwickelte Text innerhalb der sieben so unterschiedlichen Zugänge zum namenlosen Experimental-Sandkasten-Epos sein dürfte: Wochenendlektüren Nr.1 – XS1: S. 1-5/~46 [Update 2.3]

Nun aber zurück zum Zentrum diese Artikel und des angekündigten Textes, einer Erzählung über das Schicksal des angeblichen Zwillingspaars Yin und Yang. Die beiden illustrieren mit je eigenem Stil, Blick und Gebahren die dystopische Sklavenhaltergesellschaft in Gor Thaunus, gelegen in der apokalyptisch-düsteren Eifel des (Solar-)Jahres 133. Eine andere Erzählsituation als bei XS und der erklärte Wille, beiden Protagonisten eine prägnantere, markantere Stimme zu verleihen, leiten die Überarbeitung des aus der Betaphase her bekannten Stoffs an.

Im Rahmen der noch jungen TSF-Reihe Wochenendlektüren ist es zwar die Premiere für YY, das Format Originale jedoch hat schon mehrere Versionen (ohne nachzuschauen schätze ich: ca. drei) von YY1 dokumentiert und archiviert. Zuletzt erschien hiervon die erste, fast-final zu nennende Version 0.9 und wer sich hart spoilern will, der kann sich bereits jetzt den gesamten Textkorpus des ersten Kapitels auf einmal reinziehen. Nunmehr jedoch möchte ich schrittweise versuchen, dem Inhalt eine lebendigere und echtere Form zu verleihen. Mal sehen, ob diese hehren Ambitionen weit tragen – man darf gespannt sein!

Euer leselahmer, blogverhaltener zugleich dennoch spiel-, seh- und derzeit schreibwütiger, Satorius


1. Zugang YY – Gor(e)

„Hey ihr! Kommt mal rüber. Herzlich willkommen im schönen Gor Thaunus, wo NÄCHSTENLIEBE und FREIHEIT großgeschrieben werden! Wir zwei sind eins, mein Bruder Yang und ich – Yin, einfach nur Yin“, beginne ich den süßsauren Begrüßungsversuch der vier Fremden mit einem meiner einstudierten Sprüche für die Gattung Frischfleisch. Nichts rührt sich.

Rauch liegt in der Luft. Es riecht würzig, nach Reisig, Brot und sogar Fleisch, wohl aus den Backhäusern, in denen die Höheren ihre Nahrung zubereiten. Ich habe dabei natürlich schon wieder heftigen Hunger, aber meine Tagesration an Synthoschleim vorhin bereits komplett aufgegessen – am späten Nachmittag! Dieser ekelhafte, graubeige Nährbrei macht mich bestenfalls satt, reicht aber selten bis zum Abend. Ich versuche, den fiesen Duft zu verdrängen, der von oben aus Hohenherz und der Berggasse zu uns herunterweht, und werde sogleich von aufdringlichen Erinnerungen an früher heimgesucht. Erinnerungen an Mamas asiatisch-arabische Wokgerichte überfallen mich stattdessen, sind mir gleichzeitig Trost und Qual. Also lasse ich auch sie weiterziehen, schiebe sie vielmehr mühevoll beiseite. Da ich gerade überhaupt keinen Stoff, was auch immer, mehr gebunkert habe, ist Regelsurfing eine gute, ehrlicherweise sogar die einzige Alternative zum Ablenken. Das ist eine bei uns Niederen sehr beliebte Abwechslung, in der sich eine Portion Gefahr mit Genugtuung vermischt. Unser und mein größter und allzeit verfügbarer Freizeitspaß besteht im bewussten Provozieren der Ordnung. Wir spielen dabei mit den vielen, so seltsamen Regeln, die uns die sogenannten Eigentümer auferlegt haben. Die meisten dieser Gesetze kennen wir, das Eigentum, aber eben nicht alle, weshalb man immer mal wieder überrascht wird. So habe ich eben bereits bewusst gegen eines der weithin bekannten Verbote verstoßen, als ich meine abgegriffenen Worte über den halben Platz hinweg Richtung Südosttor gebrüllt habe, so laut und so weit ich mit meinem sanften Stimmchen eben brüllen kann.

Es sind neuerlich viele Obdachlose hierher gekommen, dabei sind die meisten Wohnkuppeln mittlerweile beinahe wieder aufgefüllt und bald wird es deshalb wohl noch enger darin werden, als es bisher zu zweit schon ist. Na, warte ich weiterhin gespannt ab, kommt heute eine Konsequenz? Nervenkitzeln flasht mich dabei angenehm, ich warte nervös und bin erregt – komplett egal, ob noch eine Strafe folgt. Und wie meistens, wenn einer von uns sich laut hörbar bemerkbar macht, interessiert das die patrouillierenden Wächter in der Nähe überhaupt nicht, ganz im Gegensatz zu dem leblosen, gelben Ding zwischen meinen Augen. Ich verfluche diesen verdammten Ring in meiner Nase, den ich nicht übersehen kann und auf dem alles über mich gespeichert wird. Mein Name – Yin – und eine fünfstellige Nummer – 24017 – sind sogar mit bloßem Auge zu lesen, der Rest sind unsichtbare Daten. Diesem Ding gegenüber, also der darin verbauten Überwachungstechnik, erlaube ich mir gerade den Regelverstoß und riskiere damit eine Bestrafung durch das teuflische Gerät. Geht meine Aktion schief und ich werde erwischt, wird es vermutlich schmerzhaft ausgehen. Aber den kleinen Einsatz ist der kurze Rausch wahrlich wert und so schlimm ist die Strafe dann auch wieder nicht. Ein kleiner Moment der Pein kommt immerhin einem kurzen Lebenszeichen gleich. Wir sind nämlich sonst sowas wie lebende Leichen, allesamt irgendwo zwischen Leben und Tod, schuften vor uns hin, funktionieren bestenfalls einwandfrei, sind dabei kaum der menschlichen Aufmerksamkeit wert und werden also, wo das möglich ist, zwischenmenschlich ignoriert. Auf diese eine Art sind wir hart unsichtbar, werden aber auf allen anderen Ebenen heftig durchleuchtet: Mein Puls, mein Hautwiderstand und die Zusammensetzung von Blut, Schweiß, Speichel und sogar meiner Scheiße werden jederzeit aufgezeichnet, irgendwo registriert und analysiert, machen mich so zum Opfer meines Körpers und zur Geisel meiner Vergangenheit. Ein altes, verblasstes Bild fällt mir ein, auch wenn es sogar hier in den Niederungen der Stadt nanotechnologisch rein ist und beides nicht gibt: Ich sitze hier fest wie eine Mücke im Spinnennetz, unsicher und ängstlich, sobald ich mich zu viel rühre, weiß die mörderische Spinne sofort Bescheid, kommt herbei und sorgt gründlich für Ruhe. So richtig verstehe ich das große Ganze mit der Technik, den Regeln und den Strafen aber auch nicht. Aber Yang und die Älteren halten sich für klüger und haben es mir grob erklärt. Bisher hat ihre Theorie meistens gestimmt, also muss sie irgendwie wahr sein, es passt zu häufig und zu gut zusammen.

Erwartungsgemäß beachten mich die Wächter dort drüben auf dem Wall nicht ein Stück weit – warum auch. Ich meinerseits sehe sie, habe jedoch keine Ahnung, wer sich unter den schwarzgrünen Körperpanzern mitsamt geschlossenem Helm versteckt – sicher irgendwelche Mitläufer aus der Berggasse. Dass sie mich in Ruhe regelsurfen lassen, ist also gerade nicht das Ungewöhnliche, sondern die Tatsache, dass ich dieses verbotene Gespräch überhaupt eröffnen konnte, und auch, dass ich weiterhin ohne jede körperliche Folge davonkomme. Glück gehabt, freue ich mich noch, als sich ein neuer Gedanke aufdrängt: Von wegen Glück, das kann anderweitig schief gehen! Am Ende könnte ihre Unfähigkeit, ihre Faulheit unser aller Pech sein! Wenn dieses Pack jeden Streuner einfach so hier reinlässt, ohne ihn zuvor ordentlich oder überhaupt mal zu kontrollieren, haben wir die Folgen zu tragen. Ihre Aufgabe ist es, die vier Eindringlinge zu überprüfen und so für Sicherheit zu sorgen. Aber was tun die Scheißer stattdessen: Nichts, außer die meiste Zeit über dumm rumstehen und bloß gelegentlich wichtigtuerisch hin und her laufen.

Oder übertreibe ich gerade mal wieder heftig, spinne mir was zurecht und alles ist in bester, schlechter Ordnung? Was soll’s, es sind ja bloß gruselige Geschichten, vertröste ich mich. Die Ankunft der vier Neulinge ist erstmal nicht mein Problem, vielleicht ja sogar überhaupt kein Problem. Im Gegenteil, es ist eine Gelegenheit und die serviert mir am frühen Abend eine willkommene Abwechslung zum normalen Regelsurfen. Trotzdem, die Lust am Risiko des Erstkontakts ebbt schon wieder ab und so krass wie mein Bruder bin ich dann doch nicht. Noch mehr zu wagen, wage ich jetzt nicht mehr, bin aktuell leidlich zufrieden mit mir und meinem Dasein: Es ist beschissen, aber es war schon schlimmer.

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