Wochenendlektüren Nr.9 – YY1: S. 8-11/~35 [Version 1.2]

Ein weiteres Wochenende bringt eine weitere Passage final überarbeiteten Text mit sich. Wir erfahren darin mehr über Yin und ihr Leben in der dystopischen Gemeinschaft, die ihre Existenz und Subsistenz einzig durch Sklaverei zu sichern vermag. Zwar bietet Gor Thaunus respektive seine noch farblosen Gründer ihren Bewohnern Schutz vor der menschenfeindlichen Umwelt und ein gesteigertes Maß an Zivilisation in einer verwüsteten Welt, dennoch zahlt die Mehrheit der Sklaven mit ihrer Freiheit und Arbeitskraft den Preis für diese Vorzüge. Mag sein, dass am Ende alle zusammen mehr Wohlstand haben – Stichwort: Trickle-down-Theorie -, aber wird dadurch eine drastische Ungleichheit zugusten der reichen Minderheit und zulasten der arbeiteten Mehrheit legitimiert? Welches Maß an Luxus ist im Angesicht der Armut noch erträglich? Wie viel sind die Hochkultur und der Fortschritt vor diesem Hintergrund noch wert?

Anklänge an die antiken Poleis mit ihrem Sklavenheer sind also ebenso kalkuliert, wie obiger Fragekomplex in die Lektüre inkorporiert und Assoziationen an eine ungleiche Verteilung von Wohlstand und Belastung in unserer globalisierten Lebenswelt inspiriert werden soll. Hiermit will ich – Autorenschaft hin oder her – jedoch weder Interpretationshoheit beanspruchen, noch verhindern, dass jeder Leser seine ganz individuellen Bedeutungen herein- und herauslesen wird. Wie auch, ist doch dieser wie jeder andere Text, und sei es der funktionalste Gebrauchstext, ab dem Moment semantisches Freiwild, in dem er den Geist seines Verfasser verlässt und sich in unserer Welt manifestiert.

Dennoch erlaube ich mir gelegentlich, auf das hinzuweisen, was ich neben Zertreuung und Schreibtraining auszudrücken beabsichtige und was eben nicht: So ist der Themenkomplex Flucht und Gastfreundschaft, mag er auch in der Eröffnungsphase offen anklingen, übrigens bestenfalls sekundär und wird rasch fallengelassen. Dieses zeitgenössische Thema in diesem fiktional-zukünftigen Kontext zu reflektieren ist m.E. nicht nötig. Eventuell hilft solcherart positive wie negative Erläuterung demjenigen, der sich fragt: Was soll das komische Geschreibsel denn eigentlich?!

Mit der doppelten Einladung, Eure Lektüreefrahrungen zu teilen und über unsere Rolle in der Welt zu reflektieren, Euer hoffentlich nicht zu pädagogisch-aufdringlicher Satorius


1. Zugang YY – Gor(e)

Ich stehe ganz oben, sogar weit über Hohenherz. Mir schwindelt und der Wind pfeift heftig. Ich bin auf Soma – Teufelswerk und Ambrosia –, und zwar derb. Wellen aus purer Wonne fluten durch Körper und Geist. Der Grund für beides heißt Mira Zorathule. Die jüngste Tochter der jüngst verstorbenen Helena Zorathule, die wohl die mächtigste Frau in Gor gewesen sein dürfte, hat mich direkt an meinem ersten Arbeitstag bei der Gründerfamilie mit hinauf auf den Thallum Gor genommen, vielmehr dorthin befohlen – ein Privileg, das nur den Eigentümern zusteht, bei mir aber nicht nötig gewesen wäre. Der Trip und der Ausblick trösten mich über alles andere hinweg, versöhnen mich für einen kurzen Augenblick mit der beschissenen Welt dort unten zu meinen Füßen, in der ich tagtäglich überleben muss. Die Siedlung interessiert mich nicht, ich ignoriere sie und blicke in die Ferne. Weit im Westen, auf halbem Weg zum Horizont, erstreckt sich ein ausgedehnter Dschungel. Ein bis hierhin sichtlich bunt gefleckter Pflanzenteppich windet sich dort bergauf durch das raue Hügelland. Sogar einige der unglaublichen Baumriesen sind zu sehen, ragen tausende Meter in die Höhe, bis hinauf in die Wolken und vielleicht sogar darüber hinaus. Unten in den Niederungen der Glasstadt und bei den wenigen Aufenthalten in der Berggasse habe ich nie so weit blicken können. Ich bin verzaubert, obwohl ich genau weiß, um was es sich dabei handelt: Es ist kein märchenhafter Zauberhain, sondern Ergebnis nüchternen Biotechnologie, eine ehemalige Naturlunge – funktional doch wunderschön. Damals und jetzt träume ich davon, wie ich, Simsalabim, aus Gor entkomme und, Abrakadabra, die Todeszone unbeschadet hinter mir lasse, um schließlich noch vor Sonnenuntergang dort anzukommen. Überall um mich herum ist Leben, allerlei Pflanzen und Tiere. Ich begebe mich schnurstracks zu einem der Riesenbäume, beginne mutig und kraftvoll, an seiner borkigen Rinde hinauf bis in die Wolkendecke hinein zu klettern. Dunkelheit und klamme, feuchte Luft umfangen mich und nach dem wundersamen Aufstieg komme ich erleichtert und nur leicht erschöpft mit den orangeroten Strahlen der wärmenden Sonne oberhalb der Wolkendecke an. Eine schier unendliche Wolkenlandschaft, Berge, Ebenen und Schluchten in Weiß, Grau und Schwarz erstrecken sich in alle Himmelsrichtungen. Die Krone des Baums beginnt bald über mir, wirft einen gigantischen Schatten nach Osten. Dort kann ich auf ausladenden Ästen seitwärts wie weiter aufwärts gehen. Voll Freude und mit Zuversicht suche ich nach einer günstigen Stelle, finde sie und blicke ich mich hier oben um, sauge den himmlischen Anblick, der sich mir bietet, tief in mich auf. Ich habe soeben eine überirdische Zauberwelt betreten, sehe nicht nur die anderen Baumkronen, die aus den Wolken ragen, sie überragen und teilweise ineinander übergehen, sondern nun auch glitzernde Luftschlösser, die überall in nah und fern sanft dahingleiten. Voll Freude und mit Zuversicht suche ich nach einer günstigen Stelle, finde sie und blicke ich mich hier oben um, sauge den himmlischen Anblick, der sich mir bietet, tief in mich auf. Ich habe soeben eine überirdische Zauberwelt betreten, sehe nicht nur die anderen Baumkronen, die ineinander übergehen, sondern nun auch glitzernde Luftschlösser überall in nah und fern. Sogar einige Orbitalkanäle winden sich im Hintergrund der Szenerie empor. Auch wenn ich zugleich um deren Existenz und die der Atmosphärenhabitate weiß, kann ich mich der Magie dieses Anblicks nicht entziehen. Ich atme die frische und reine Höhenluft ein, staune und schweige beeindruckt. Die glänzende Schönheit dieser sonnendurchfluteten Zwischenwelt, weit über der festen Erde, jedoch unterhalb der Orbitalstätten im Weltraum gelegen, erfüllt mich. Ich spüre deutlich, hier oben über den Wolken, wartet ein neues, besseres Leben auf mich. Ein Hauch von Frieden und Reichtum, Glück und Gerechtigkeit umgibt die sanft dahingleitenden Wolkenstädte, allesamt dahinhingestreut wie schimmernde Edelsteine in den Farben des Regenbogens. Ich streife auf den Pfaden, welche die meterdicken Äste der Bäume mir bieten, stundenlang umher, nähere mich erst dieser, dann jener Stätte. Währenddessen geht die Sonne unter, der Himmel lodert dabei in gleißendem Feuerschein und sein Azurblau dunkelt langsam auf das satte Schwarzblau des Weltalls ab. Einzig die Orbitalbauten darüber und dazwischen, die wenigen sichtbaren, vom Erdboden aus hinaufführenden Kanäle ebenso wie das erdumspannende Netzwerk an deren Ende, unterbrechen das traumhafte Panorama. Sie sind in kunstloser, metallen-schwarzer Einfachheit gehalten und ihre Positionslichter leuchten sporadisch auf. Die Baustile der vielen fliegenden Städte sind im Gegensatz dazu so vielfältig wie einzigartig, so schön wie sympathisch. All ihre farbenfroh glänzenden Oberflächen und die bunt gemischten Bewohner in ihren Straßen erwachen für mich zum Leben, bezaubern mich. Jede dieser atmosphärischen Heimstätte ist anders, aber alle gleichen sie sich, sind so behaglich, so sauber, so nett und freundlich wie die anderen. Auf paradiesische Art sind sie unwirklich – ich fühle mich im Inneren so, wie damals während und nach den tolldreisten Märchen, die unsere Eltern uns früher einmal zum Einschlafen vorgelesen haben. Abenteuer treffen auf Geborgenheit, Weite und Nähe fallen zusammen, eine Vereinigung von Gegensätzen findet statt – träumend erfasst mich ein Gefühl der Heimat, ja, es erfüllt mich.

Und schon falle ich jäh aus meinem Traumland, mein Wegträumen endet in Wehmut und Verzweiflung: Das waren bessere Zeiten, damals in unserem früheren Leben, in einer unwiederbringlich verlorenen Vergangenheit. So angenehm und tröstlich die damit verwobenen Erinnerungen und dazugehörenden Traumbilder auch sind, so falsch und unwirklich sind sie heute, so dumm und naiv bin ich, wenn ich sie mir vorstelle. Es gibt dort oben über den Wolken in Wirklichkeit genauso wenig Gutes zu finden wie überall da draußen in den Todeszonen. Nur Leid und Tod warten dort, der Rest ist Vergangenheit und bloße Vorstellung. Hinter und über mir liegen Schmerz und Trauer – und vor mir? Was wird wohl alles auf mich zukommen: Eine steile Karriere als Edelsklavin, vielleicht der fast unmögliche Aufstieg, ja Ausstieg, in die Freiheit, erworben durch herausragende Leistungen und Treue im Dienst für Gor Thaunus? Wohl kaum, alberne Vorstellungen spinne ich mir da zurecht, nicht einmal des Träumens wert. Hier unten im Schlamm der Außenstadt, gefangen im Glaskäfig sind Anfang und Ende gleich, ist ein für alle Mal Schluss. Der Höhepunkt, nein, das Ende meines Lebenswegs als Unfreie scheint mit der Anstellung im Haus der Zorathules endgültig erreicht – einmal Sklavin, immer Sklavin.

Diese Gedanken an die verlorene Vergangenheit, die raue Wirklichkeit und die festgelegte Zukunft holen mich unsanft zurück in die Außenwelt. Es regnet ununterbrochen und der allgegenwärtige Schlamm wird dabei zu knöcheltiefem Matsch, stinkt zudem noch abscheulicher als sonst und macht aus jedem Schritt einen Kampf. Der Schlick ist kriechender Vorbote der aggressiven Natur da draußen, die selbst die dicken Schutzwälle nicht aufhalten können, was sie hier bei uns wohl auch gar nicht tun sollen. In den weiter innen und weiter oben liegenden Stadtbezirken ist nichts mehr von all dem zu sehen. Außer an mir und den anderen dort beschäftigten Sklaven gibt es näher zum Zentrum der Stadt kaum noch echten Dreck. Hier jedoch sind alle schmutzig, selbst wenn sie sich um Sauberkeit bemühen. Kaum ist der Schlamm getrocknet und ausgebürstet, kommt ein neuer Arbeitstag und alles beginnt von vorne.

Bevor ich nun ernsthaft damit anfange, mich über meinen Arbeitsdienst zu beschweren, oder mich am Ende sogar noch über die neue Stelle zu freuen, will ich mich doch lieber wieder mit den Gegebenheiten um mich herum beschäftigen: Die vier Wanderer dort draußen müssen sich zuvor mühsam durch die hiesige Todeszone mit ihren Tonnen an Dreck und Horden von Ungeziefer geschlagen haben – vom tödlichen Rest ganz zu schweigen –, da bin ich mir absolut sicher, auch wenn ich seit Jahren nicht mehr hinter dem Wall gewesen bin. Unterwegs müssen sie sich ständig gefürchtet haben, von irgendetwas angegriffen und verletzt, wenn nicht sogar getötet zu werden. Alles andere wäre Verdrängung oder Dummheit gewesen, denn niemand bei klarem Verstand unterschätzt die Gefahren dort draußen. Vielleicht hatten sie Glück, sind gute durchgekommen, das aber ändert nichts an der instinktiven Angst vor der Todeszone, die ihren Namen verdient hat.

Ob diese abgerissenen Figuren frische Jagdbeute oder verzweifelte Flüchtlinge sind, weiß ich nicht, am Ende ist das im Ergebnis sowieso gleich. Alle sind sie Opfer und verlieren spätestens in dem Moment ihre Freiheit und ihre Würde endgültig, in dem sie ihren Fuß in diese verfluchte Stadt setzen und dann nichts weiter anzubieten haben als ihr nacktes Leben, ihre wertlosen Hoffnungen und Träume.

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