Wochenendlektüren Nr.10 – YY1: S.11-14/~35 [Version 1.2]

Wieder ist eine Woche ins (Quanz-)Land gegangen und ich habe eine neue Portion TSF für die Originale zubereitet. Nachdem ich letzte Woche der Marotte gefrönt habe, meinen eigenen Texten einen interpretatorischen Beipackzettel hinzuzufügen, unterlasse ich das dieses Mal und komme ohne viel Brimborium zum eigentlichen Anlass dieses Artikels: Die nächsten drei Seiten des ersten Kapitels bringen heute gegen Ende den ersten Neuauftritt von Yang mit sich, der nunmehr stilistisch selbstständiger und damit von Yin unterscheidbarer, nämlich bewusstseinsstromlinienförmig umgeschrieben dargestellt wird.

Mit allerbesten Wünschen fürs Lesen und fürs Restwochenende, Euer Satorius


1. Zugang YY – Gor(e)

Trotzdem gibt es einen mehr als kosmetischen Unterschied zwischen den beiden Gruppen: Als Beute haben sie von Anfang an gewusst, was hier gespielt wird, und mussten den letzten Marsch quer durch die tödliche Wildnis schon in der Gewissheit zurücklegen, Eigentum geworden zu sein. Denn sie waren selbstverständlich zuvor schon mit einfachen Implantaten ausgestattet worden und standen seither unter Kontrolle. Mitten durch den Albtraum der Todeszone ging es dann für die neuen Sklaven, hin zu ihren neuen Herren. Die hiesigen Rituale sind nicht nur in dieser Hinsicht ausgewiesen unmenschlich, aber so sieht es die Initiation in Gor Thaunus für Beutemenschen eben vor. Sein Asyl in dieser Stadt und den damit verbundenen Schutz muss man sich zuerst symbolisch verdienen, durch Bereitschaft zum Leiden. Auf diesem ersten Weg im neuen Lebensabschnitt sieht man die rettende Zuflucht beinahe die ganze Strecke über schon in der Ferne liegen, lichterloh strahlen und locken mit ihrem fatal falschen Leuchtturm, dem Thallum Gor. Trotz allem, was zuvor schon passiert sein mochte, sehnt man die Ankunft herbei. Am Ende des Marsches, wenn alles gut gegangen und man es hoffentlich soeben noch im Hellen hierher geschafft hat, ist man regelrecht froh, in seinem zukünftigen Gefängnis angekommen zu sein – pervers, aber wahr. Am Anfang steht der Überfall, mitsamt Gefangennahme und Enteignung, dann die Drohung, mittellos, ohne Waffen und Nahrung, in der Todeszone krepieren zu müssen, nach einer wirkungsvoll langen Bedenkpause zuletzt das ach so großzügige Angebot, kaum eine Wahl zu nennen, und dann der schmerzhafte Eingriff, mit dem die technische Versklavung beginnt: Sicherheit auf Kosten aller Freiheit, unfreies Leben statt sicherem Tod. So ungefähr läuft eine Versklavung in Gor ab, eine ziemlich bittere Angelegenheit. Und nicht nur das, dieses Elend ist nur der einschneidende erste Level eines widerwärtigen Spiels, ist nur der Beginn eines andauerenden Parcours an Überwachung, Disziplinierung, Gehirnwäsche, gelegentlicher Quälerei und alltäglicher Schinderei.

Einzig in dieser Hinsicht geht es also den zunächst noch freiwilligen Flüchtlingen besser, gleich ob sie aus purer Hoffnung oder schierer Verzweiflung Zuflucht hinter den mächtigen Mauern dieser Siedlung suchen: Für sie beginnt das Grauen hier drin nach dem Terror dort draußen etwas später, insgesamt etwas schleichender und angeblich auch nicht immer zwangsläufig. Denn gerüchtehalber kann man, sofern vorhanden, durch Besitz oder Talent bei der Einreise Vorteile für sich sichern, angeblich sogar als Freier in der Berggasse loslegen. Das klingt für mich glaubhaft, denn Gleichheit ist hier nur ein Fremdwort unter vielen anderen vergessenen Idealen, die ich allesamt dank meiner knapp vier Jahre Lebenszeit in wohlbehüteter Freiheit kennengelernt hatte. Hier in Gor Thaunus, als enteignete Sklavin, wird mir dieses Wissen tagtäglich zum Fluch – ich weiß wie es war und wie es sein könnte.

Uns war es schlechter ergangen, denn Yang und ich haben leider die Tortur der Initiation und der ersten Wochen hinter uns gebracht, vielmehr bringen müssen. Wir waren damals vor gut zwei Jahren nicht als Flüchtende hierher gekommen, sondern als Geraubte. Also mussten wir den Ritus der vier Himmel durchmachen, nachdem wie zuvor schon ein Mal durch die Wildnis marschieren mussten. Für diese Fortsetzung der Initiation waren wir nach der Ankunft noch vier weitere Male in der Todeszone ausgesetzt. Daraufhin mussten wir, Gor und den zentralen Turm ständig als einzige verlässliche Orientierung am Horizont, in einem Tagesmarsch unseren Weg zurückfinden. Während dieser schlimmen Tage sind wir zu anderen Menschen geworden, zu gebrochenen, willenlosen Opfern. Beim ersten Mal war es schon hart genug, aber mit jedem weiteren Mal wurde es schlimmer, denn man wusste nun, was einem alles dort draußen drohte, hatte das Leid gesehen und mehrfach gespürt. Kaum eine der Gewaltmärsche durch die Todeszone geht ohne Tote und Verletzte unter uns Sklaven ab. Die dauernde Todesangst sorgt, zumal man ohne Nahrung und Wasser ausgesetzt wird, für unangenehmeste Grenzerfahrungen. Danach weiß man kaum noch, wer man vorher gewesen ist. Genau darum geht es ihnen, diesen Bastarden dort oben in ihren schicken Villen. Je ein Mal aus jeder Himmelsrichtung haben sich die neuen Sklaven in ihrer ersten Woche zurück zum Lager ihrer Meister durchzukämpfen. Besser denke ich nicht weiter darüber nach, es sind schreckliche Erfahrungen gewesen, die ich am liebsten vergessen würde. Das Geschehen der letzten Minuten nötigt mir jedoch die Erinnerung an meine eigene Vergangenheit, meine damalige Rolle in der gleichen grausigen Inszenierung auf. All das liegt zwar lange hinter mir, aber – leider, denn ich kann daran so Garnichts ändern – noch vier weitere Male vor den armen Teufeln dort drüben.

Mitleid steigt in mir auf, verdrängt jeden Vorbehalt und jede Vorsicht. Ich beschließe impulsiv, doch noch einen zweiten Versuch zu wagen, rufe noch lauter als eben schon: „Hey, ihr vier! Keine Angst – kommt einfach zu uns rüber, wann ihr könnt und wenn ihr wollt. Wir rennen sicher nicht weg und freuen uns über Besuch!“

Das ist schlagfertig gewesen, denke ich stolz: Nett, gleichzeitig ehrlich und witzig, aber mehr als das kann und will ich nicht riskieren – jedenfalls nicht in meiner heutigen Stimmung und dieser Situation. Nach einem scheußlichen Tag voller Strapazen und offener Demütigung während einer zermürbenden Arbeitsschicht von regelmäßig 12 Stunden, geht nur noch wenig. Von vier bis vier geht meine aktuelle Schicht, derzeit am Tag bald aber wieder mit Beginn in der Nacht. Mein kompletter Rücken schmerzte so sehr, dass fast jeder Muskel dort verhärtet sein dürfte. Die meisten Gelenke und besonders die beiden Knie tun mir ebenfalls weh. Auch Kopfschmerzen mischen sich unter die restlichen Leiden, fallen jedoch als normaler Dauerzustand kaum ins Gewicht. Das alles ist kein Wunder, so schwer wie wir Sklaven gefordert werden, ohne dass dabei unsere Gesundheit eine große Rolle spielt – Hauptsache: Man arbeitet. Dadurch werden mir sogar die relativ leichten Aufgaben meines Arbeitsdienstes zur Belastungsprobe. Wenn ich mir im Vergleich dazu vorstellte, wie es in den Minen und Manufakturen zur Sache geht, darf ich mich wirklich nicht beklagen. Was Yang und andere Industriesklaven mir manchmal darüber berichteten, ist widerlich und unmenschlich. Das Gefährlichste, was mir passieren kann, ist eine geile Mira oder eine übellaunige Annabelle, von etwas Muskelschmerzen nach harter Hausarbeit mal abgesehen.

Weiterhin geschieht da draußen nichts, immer noch keine Reaktion auf meine doppelte Ansprache. Aber auch dieses Mal erfolgt keine Strafe, kein Schmerz durchzuckt mich, keine Warnung verkündet die Konsequenzen meiner Regelüberschreitung. Wahrscheinlich sind die vier Asylanten heftig traumatisiert und brauchen ihre Zeit, um wieder klarzukommen. Langeweile, Verdruss und neue Abneigung durchströmen mich, trotz aller aufgebotenen Empathie.

Egal jetzt, scheiß drauf – ich muss einfach noch etwas länger abwarten, nur Geduld. Nur noch einige Atemzüge, denn mein Bruder regt sich, erwacht aus seiner stundenlangen Starre. So hat er schon dagelegen, als ich vorhin zurückgekommen bin, kaum zugänglich und reichlich wortkarg – ganz so, als wäre er drauf, alleine und ohne mich. Egal auch das, ich kann mich nun einfach zurücklehnen, entspannen und gespannt zusehen, was passieren wir. Mal ehrlich, ich habe es ernsthaft versucht, mit hohem Einsatz jedoch ohne Erfolg. Abwarten also und schwesterlich auf den Halbstarken aufpassen, mehr brauch ich von hier an nicht mehr zu tun. Gleich wird es passieren, das spüre ich mit unerklärlicher Gewissheit.

Schon schlägt er seine dunkelbraunen Augen auf, lächelt kurz mit ihnen, indem er synchron seinen linken Mundwinkel hebt, und zwinkert mir vertraut zu. Wortlos steht er auf, streckt sich und geht rüber zum Portal unserer Wohnkuppel, das nur deshalb durchsichtiger ist als die Wand, da es eine bloße Lücke ist – offen, nichtig.

„Ey, ihr Asylanten! Hey – hier drüben, wir sprechen mit euch! Seid ihr schockgefroren, angewurzelt, taubstumm oder ist sonst was Abartiges los mit euch?“

Näher ran, so bringt das doch nichts. Neugierde und Lust treiben mich weiter, auf in den abendlichen Spaß: „Mein süßes Schwesterherz und ich sind zwei krass unterschiedliche Typen, nicht wahr? Aber so dicke, dass wir wirklich fast eins sind, da hat die Kleine schon recht.“

Genug gedöst und nur zugehört, wie Yin sich abmüht, jetzt ist echte Aktion angesagt. Mehr als eine Stunde auf’m Trip und das Soma flasht mich kaum noch, hoffentlich checkt Schwesterchen das nicht. Bob hatte nur eine Dosis, Egoismus voran. Egal, was sie nicht weiß … und jetzt gibt’s ja ein Alternativprogramm: Voll daneben, das Frischfleisch, und total durch mit seiner Umwelt. Eine geile Aufgabe für mich, diese Typen werde ich mal hart aufklären. Scheiß auf die Regeln – Gesetze der sogenannten Herren, pah! – und scheiß drauf, ob die da drüben unsere Sprache sprechen, hier in Gor ist Anpassung gegen den eigenen Willen absolute Devise – also ungeschönt und echt …

„So wie ihr ausseht, checkt ihr gerade zwar eh überhaupt nichts, aber selbst wenn – dann kratzt mich das nicht, ich mach einfach mal munter weiter im Text. Ich helf euch ein wenig auf die Sprünge, vielleicht hilft‘s euch am Ende sogar.“ Lässig an die Wand gelehnt, noch nicht im Schlamm, nicht im Regen, mitten im Eingang, jetzt Ausgang.

„Eins ist von nun an anders und das müsst ihr euch von Anfang an einspeichern: Ihr, wir sind keine Menschen unter Menschen. Wir sind Sklaven unter Herren, unfrei, abhängig, kaum mehr als räudige Streuner. Einen Dreck wert, nicht total wertlos, aber nur eben so viel wie unsere Arbeitskraft. Also integriert das, besser schnell, und fügt euch. Kuscht und buckelt!“

Härter, mehr davon – die werd‘ ich schon weichkochen und wieder zum Leben erwecken. Selbst wenn sie kein Deutsch sprechen, muss meine starke Ansage irgendwie bei ihnen ankommen, sie aufrütteln … wenigstens ein Zwinkern, ein kleines Zucken – kommt schon!

Schreibe einen Kommentar