Zwei Seelen und viele Laster

Nach einem geschenkten Touri-Urlaub in einer künstlichen, eigentlich menschenfeindlichen Umwelt und einer anschließenden Mangen-Darm-Grippe, die definitiv auch als menschenfeindlich einzustufen ist, bin ich wieder online, wieder schreibwillig.

Zwischenzeitlich habe ich viel gelesen, soviel wie seit langem nicht mehr. Darunter war sogar mal wieder ein Klassiker der Weltliteratur: Robert Louis Balfour Stevensons Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde. Und Dank der Gemeinfreiheit gibt es diese beiden hier: Literatur-Link deutsch & englisch.

Ein Buch, in dessen Zentrum ein Phänomen und ein Motiv stehen, welche die Literatur nicht nur der Moderne umtreiben. Diese atmosphärisch dichte Erzählung beschreibt im Kern nicht einzig den (psychopathologischen) Doppelgänger, sondern vielmehr die Vorstellung einer fragmentierten Persönlichkeit und eines Charakters, der sprunghaft, dynamisch, mit sich selbst uneins ist; zudem stellt sie einfühlsam die Erkenntnis dar, dass Rausch und Hedonismus ohne ein wie auch immer geartetes Korrektiv auf ein schiefe Ebene führen, die heraus aus der bürglichen Mitte hinein in einen Sumpf von Verbrechen und Selbstzerstörung führen. Im Untergrund und der Nebensache werden diese beiden Komplexe noch mit einer technik- bzw. wissenschafteskritischen Haltung verbunden und heraus kommt eine kriminalgeschichtlich angehauchte Novelle von verdientem Weltruhm.

Deshalb lasse ich nun lieber den gelobten Autoren und eine größere Passage aus besagtem Werk für sich sprechen und lese, und lebe weiter meines Offline-Weges, Euer Satorius


Ich wurde im Jahre 18** geboren, von der Natur mit ausgezeichneten Anlagen beschenkt; ich war fleißig und legte Wert auf die Achtung der Klugen und Guten unter meinen Mitmenschen. All das hätte, wie man wohl annehmen konnte, eine Bürgschaft für eine ehrenvolle und glänzende Zukunft geboten. Tatsächlich bestand der schlimmste meiner Fehler in einer gewissen unbezähmbaren Neigung zur Fröhlichkeit, eine Veranlagung, die für viele das Glück bedeutet hätte. Ich aber fand es schwer, diese Neigung mit meinen hochfliegenden Wünschen, mein Haupt stolz zu tragen und in der Öffentlichkeit eine mehr als gewöhnliche feierliche Miene zu zeigen, in Einklang zu bringen. So kam es, daß ich meine Vergnügungen verheimlichte, und als ich die Jahre der Selbstbesinnung erreichte, anfing, mich umzuschauen und mir Rechenschaft über meinen Fortschritt und meine Stellung in der Welt abzulegen, stand ich bereits einer tiefen Zwiespältigkeit in meinem Dasein gegenüber. Manch einer hätte sich wohl sogar noch solcher Regelwidrigkeiten, wie ich sie mir zuschulden kommen ließ, gerühmt, doch bei den hohen Zielen, die ich mir gesteckt hatte, betrachtete und verbarg ich sie mit einem fast krankhaften Gefühl der Scham. Es waren also eher die hohen Forderungen meines Strebens als eine besondere als Erbe eines großen Vermögens Untiefe meiner Fehler, die mich zu dem machten, was ich war; und die Trennungslinie, die in meinem Innern jene Sphären von Gut und Böse schied, die des Menschen Doppelnatur trennen und verbinden, war bei mir sogar noch tiefer gezogen als bei der Mehrzahl der Menschen. Angesichts dieser Lage wurde ich dazu gedrängt, tief und unerbittlich über jenes harte Lebensgesetz nachzudenken, das einerseits die Wurzel der Religion ist, andererseits eine der stärksten Quellen des Elends bildet. Obwohl so im Grunde ein Doppelwesen, war ich doch in keiner Hinsicht ein Heuchler. Beide Seiten meines Wesens waren mir tödlich ernst. Es entsprach nicht weniger meinem wahren Ich, wenn ich alle Hemmungen beiseite warf und mich in Schande tauchte, als wenn ich in der Helle des Tages mich um den Fortschritt der Wissenschaft oder um Milderung von Sorgen und Leiden mühte. Es traf sich, daß die Richtung meiner wissenschaftlichen Forschungen, die ganz auf Mystik und Übersinnliches zielten, diese Erkenntnis des ewigen Kampfes in meinem Innern stärkten und erleuchteten. Mit jedem Tage und von beiden Seiten meiner Geistigkeit, der moralischen und der intellektuellen, näherte ich mich so ständig jener Wahrheit, durch deren teilweise Entdeckung ich zu einem so fürchterlichen Schiffbruch verdammt worden bin: daß der Mensch in Wahrheit nicht eins, sondern wahrlich zwei ist. Ich sage zwei, weil der Status meiner eigenen Erkenntnis nicht über diesen Punkt hinausgeht. Andere werden folgen, andere werden mich auf dieser gleichen Linie überflügeln. Ja, ich wage anzunehmen, daß die Menschheit sich schließlich bewußt werden wird eines ganzen Gemeinwesens vielfältiger, inkongruenter und unabhängiger Existenzen.

 

Robert Louis (Balfour) Stevenson (1850 – 1894), Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde, Kapitel 10 (1886)

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