Denk-Welten

Astro(nomie)-Trip

Wer sind wir schon wir winzigen Menschlein? Nichts und nichtig, verglichen mit der Unendlichkeit des uns umgebenden Alls! So unbedeutend und zugleich zerbrechlich, sterblich und bedürftig zumal, dass starkes Selbstvertrauen und jedwede (meist verdeckte, versteckte) Form des Narzissmus wie heftigste Realitätsverleugnung daherkommen. Kosmisch gesehen sind wir „Firlefanz“, wie ein Freund kürzlich treffend bemerkte, Tand,  oder aber freundlich-positiv im Gegenteil ausgedrückt: Ornament, Zierde, Singularität – in Größe, Mächtigekeit und degleichen Machokategorien aber sind und bleiben wir die Opfer der kosmischen Hackordnung.

Dennoch, genau deshalb, wegen Einzigartigkeit, Vielfalt, Vergänglichkeit, Veränderlichkeit, Freiheit und Kreativität sind unsere Existenzen wenn auch winzig, zugleich so unglaublich kostbar, ist insbersondere auch Liebe zum Leben, der Eros Freuds, mehr als ein dahingesäuselte Leerformel. Ob diese tiefe Wertschätzung sich selbst, seinen Freunden, der Familie oder gar der Menschheit gilt, ist hierbei höchstens zweitrangig, denn all diese Formen der (potentiellen) Brillanz erhebt uns über jede bloße Quantität. In der Singularität eines jeden Menschenlebens liegt eine der unermesslichsten Qualitäten. Wir sind zudem physisch-psychische Doublette, ein aus elementarem Stoff(-gemisch) zusammengesetzes Ding, das potentiell aus den gleichen Atomen – vertraut man denn dem Model der modernen Physik bis hinuter auf die ontologischen-existenzielle Ebene – besteht wie all die anderen Entitäten der belebten und unbelebten Natur um uns herum: Steine, Sand, selbst die Sonne, zugleich Staphylokokken, Salamander und Sojaschnitzel und so weiter…

Genug geschleimt, jetzt reicht es, schluss mit dem Narzissmus! Schluss also mit der sanften Seelenmassage, zurück zum realistisch-faktenharten Eingangston: Wir sind aus Sternenstaub – ja! So lyrisch schön und zugleich naturwissenschaftlich zutreffend diese Aussage auch sein mag, so ethisch unermesslich, neural komplex und ontologisch hervorragend (intelligentes) Leben auch immer sein mag, wir sind: bloßer Staub. Verglichen mit den abstrakten, unvorstellbar gigantischen Dimensionen dessen, was zuvor die Philosophen noch schwärmerisch und nach ihnen nun auch die modernen Wissenschaftler tendenziell nüchtern-elegant Universum oder Kosmos genannt haben, sind wir aus nur Marginalien, kleine Lichter in einem Meer aus strahlenden Sternen, in einem Ozean aus gleißenden Galaxien und – hier bricht zwangsläufig jeder Hauch von Poesie – in einer Masse an (Super- & Mega-)Haufen.

Trotz aller unbestreitbaren Vorzüge der Erde und der sie bewohnenden Menschheit reicht bereits ein flüchtiger Seitenblick auf die realitve Skalierung unseres eigenen kleinen Planeten im kosmischen Kontext, um uns eine Lehre in Mäßigung und Demut zu erteilen. Zwei Tugenden, sehr alte Tugenden, die dieser Tage etwas aus der Mode gekommen sind, jedoch nur dann schädlich werden können, wenn man es mit ihnen moralisch übertreibt und sie predigt – Stichwort: (Welt-)Religionen. Die Tiefgläubigen unter uns sind deshalb auch gut gewappnet für die anstehende Reise, können einfach die Schönheit der Schöpfung geniesen, entdecken in ihr womöglich das Werk oder die Präsenz ihrer Konfession der Wahl oder des nachgeburtlichen Zufalls. Jeder (naive) Narzisst jedenfalls und/oder anderweitig Selbstwerbeschädigte sei hier vorsorglich sowie ausdrücklich gewarnt: Die tröstende Passage war kalkuliert platziert, von nun an wird wieder hart und heftig desillusioniert.

Zuvor aber noch eine ernsthafte Frage, eine durchaus rhetorische Frage, deren dennoch bemühte Beantwortung für Euch im Laufe dieses Artikels noch frappant bis brisant werden könnte: Wo befindet Ihr euch gerade? Eine simpel scheinende Frage, nicht wahr? Denkt kurz definitotrisch darüber nach und merkt Euch eure Antwort gut, insbesondere die Maße und Relationen, die das „Wo?–>Da!“ begleiten, und die vermutlich im Gros durch die Einheiten Meter und Kilometer oder mal mit Bezügen zur Erde oder sogar Sonne ausgefallen sein dürfen. Haltet Euch daran gedanklich fest.

Los geht’s also – bloß nicht festhalten! Hier und jetzt – wo und wann das bei Euch auch immer sein mag – beginnt der demütige Astro-Trip. Genau über eurem aktuellen Standort, knapp oberhalb unserer alltäglichen Lebenswelt starten wir, hinfort aus dem Alltag streben wir sogleich, weg von der Erde, hinaus in die Weiten des Weltalls (- ein, wie ich finde, guter Anwärter auf den Titel „Schönstes Wort der deutschen Sprache“). Wir verlassen dafür also zunächst rasch den Bereich unserer leiblich-wirklichen Sinnenumwelt – Meter Adé! Beinahe sofort, nach nur wenigen Sekunden Denkweg, landen wir fern der Anschauung bereits im reinen Denken. Dergestalt führt uns die eingeschlagene Reiseroute direkt hinein in und durch die Elfenbeintürme von Astronomie, Physik und Chemie. Eben noch standen/saßen/lagen wir im Arbeitszimmer/Bett/Wohnzimmer und fragten uns, wo wir sind oder was ich eigentlich von Euch will; vielleicht aber stellt Ihr euch auch schon vor, wie es dort droben wohl tatsächlich ist, da draußen in unserem heimischen Sonnensystem, der lieben Heimatgalaxis Milchstraße oder wagt euch noch weiter nach draußen in ein ominöses, unverschämtes und unbekanntes Universum.

Jetzt aber wirklich los und schwupps: Rocketjump! Mental rauschen wir ungehindert nach oben in den Himmel, kurz hinein in die Vogelperspektive, dann aber wird es plötzlich arg transzendent, deshalb lasse ich hier populärwissenschaftliche Grafiken für sich sprechen, deren Fund im letzten Jahr diesen Artikel hier überhaupt erst ausgelöst hat. Denn die Regionen, die wir betreten, in die wir uns wagen wollen, sind wie gesagt bloß noch vermittelt ansatzweise vorstellbar, eine nur durch Darstellung zugängliche Sphäre von Begriffen und Modellen, welche auf Messung, Gesetzen und gelehrten Spekulationen beruhen.

Bis (oder sogar ob jemals) eines Menschen Auge dieses atemberaubende All autonom erblicken wird, kann noch äonenlang leise-hallende, von fern her klingende Zukunftsmusik geduddelt werden. Derweil vergnügen wir uns mit hübschen Bildern plus klaren und erhellenden Grafiken, während wir uns unterdessen davor hüten sollten, diese Dimension wirklich verstehen, fühlen und begreiffen zu wollen. Es sei denn, wir staunen, oder, wie zuvor gespöttelt, wir erkennen in allem Folgenden das Wirken unseres Gottes, unserer Götter – dann nur zu: Euch allen wünsche ich gleichsam „bon voyage“!

1. Etappenziel: Die Grenzen unseres Heimatplaneten = Erde


Andrew Z. Colvin, Earth’s Location in the Universe (4. April, 201
Markus D., Luftschichten der Erde auf www.nfo-wetter-pohlheim.de (Link zur Originaldatei)

2. Etappenziel: Das heimische Planetensystem = Sonnensystem

Andrew Z. Colvin, Earth’s Location in the Universe (4. April, 2012)

3. Etappenziel: Die Nachbarsterne im galaktischen Spiralarm = Orion-Arm

Andrew Z. Colvin, Earth’s Location in the Universe (4. April, 2012)

4. Etappenziel: Unsere spiralarmige Heimatgalaxis = Milchstraße

Andrew Z. Colvin, Earth’s Location in the Universe (4. April, 2012)

5. Etappenziel: Unser angestammter Galaxien-Haufen = Lokale Gruppe

Andrew Z. Colvin, Earth’s Location in the Universe (4. April, 2012)

6. Etappenziel: Der Haufen der Haufen = Virgo-Superhaufen

Andrew Z. Colvin, Earth’s Location in the Universe (4. April, 2012)

7. Etappenziel: Der heimliche (Mega-)Superhaufen = Lanaikea

Andrew Z. Colvin, Earth’s Location in the Universe (4. April, 2012)

8. Etappenziel: Das Ende unserer Reise, die Grenzen der Ausdehnung (oder der Vermittlung)


Andrew Z. Colvin, Earth’s Location in the Universe (4. April, 2012

8. – 1. Die zurückgelegte Reiseroute im schonungslos ungeschönten Rück- und Überblick


http://www.astro.princeton.edu/universe/

Wow, was für ein Trip! Wenn wir, am Ziel angekommen, dann so im Nichts rumstehen, außerhalb des sich angeblich seit dem Urknall ausdehnenden Universums rumlungern, dann könnten wir hochgerechnet 70 Trilliaden (7*10²²=70000000000000000000000) Sterne gleichzeitig im Blick haben und aus selbigem verlieren. So jedenfalls das Paradigma der modernen Naturwissenschaft, keine Rede dort von Unendlichkeit, nur von super, mega, giga gigantisch großen Zahlen und Dimensionen.

Gemäß besagtem Weltbild ist die Geschichte von allem rasch erzählt, in einer exorbitanten Stauchung erzählter Zeit auf kaum eine Minute Lesezeit: Einst war alles in einem Punkt vereint – die sog. Singularität; dann passierte irgendwas seltsames, es wurde schief und krum, Zeit und Raum begannen – der sog. Urknall; in Raum und Zeit expandierte sodann die zuvor im Knall entstandene Materie, formte sich aus, erkaltete und differenzierte sich aus; bildete daraufhin nach und nach neue Formen, wie Sterne und Planeten, aber auch Schwarze Löcher und Dunkle Materie; brachte nunmehr an freundlichen Orten wie Mutter Erde (und womöglich auch dazwischen) allerlei Leben in seinen abgefahrensten Varianten und Variationen hervor; und schließlich evolutionierte alles Leben und das All expandierte glücklich bis ans Ende seiner Tage, wobei die Debatte über das Ende der Geschichte unter uns Erdenkindern derzeit offen bis kontrovers geführt wird.

Wir Sucher jedenfalls mäßigen uns demütig, werden still vor dem Antlitz des Alls und Angesichts unserer zuvor gegeben, nunmehr klein und irrelevant scheinenden Antwort auf die Frage „Wo?“; wir sind in der gefühlten und ungewissen Unendlichkeit gestrandet, sprechen von Myriaden und messen bei weitem nicht mehr in Metern, sondern in abstrakten, namenlosen Maßeinheiten. Die Äonen aber, die Zeit hingegen blieb stumm und wird das auch bleiben; wo doch schon der Raum uns derart überwältigt, würden die Untiefen der Zeit unseren Horizont wohl endgültig sprengen. Trösten wir uns also mit den warmen Worten vom Beginn, versichern uns somit gleichsam unseres Wertes, verbürgt durch unsere ganz persönliche Singularität; oder einfach dadurch, dass das All schlich unt einfach schön ist. Die Vorstellung zuletzt, dass unsagbar viele Lebewesen überall im All sich gleiche und ähnlich Fragen stellen oder nicht stellen, ist ebenfalls relativierend und kompensierend, Anker und Hafen zugleich.

Was auch immer das Weltall und der Rest im Kern auch sein mögen, gilt: Heilig sind die wortlos Staunenden, seelig noch die, die geflissentlich Gewissheit suchen, verflucht jedoch diejenigen, welche kosmische Wahrheit(en) ihr eigen nennen – ob sie Theologen, Astrologen oder Astronomen sein mögen, den Theos, Logos oder Nomos, also Gott, Sinn oder Gesetz gefunden zu haben glauben! Denn auch wenn mir die Gesetzessuche der Astro-Nomie durchaus sympathisch ist, sich zudem sehr viel mehr Mühe bei der Überzeugungsarbeit seiner Gläubigen gibt und sogar Selbstkritik übt und kultiviert, verbleibe ich in kindlichem Staunen über die große weite Welt des Weltalls – Demut und Maß hin oder her!

In agnostisch-atheologischer Neugier, Euer spätnächtlicher Sternenkucker Satorius

#MCE9@Platon, Escher und der Klimawandel …

Maurits Cornelis Escher (1898 – 1972), Order and Chaos (1950; Lithografie)




Weit sind sie gekommen die Freunde der Ordnung. Seit Platons Zeiten sind gute 2,5 Jahrtausende vorübergegangen und der Mensch hat seine Ordnung über den ganzen Globus ausgebreitet. Die Menschheit hat dadurch aber ebenfalls ein nicht zu verleugnendes Maß an Unordnung gestiftet. Zumal ist die Weltordnung (historisch plus ökonomisch, politisch, sozial, usw. usf.) im steten Wandel.

Chaos also allenthalben. Erst ist die Ordnung und dann kommt unweigerlich, obsiegt am Ende doch noch das Chaos – „Order and Chaos …“, not „Chaos and Order …“ -, und sie lebten chaotisch bis ans Ende ihres Textes.

Genau das, den kognitiven Primat und damit menschlichen Narzissmus einer vernünftigen Ordnung als Prinzip des Bewusstseins, das sich aber letztlich reflexiv (und jenseits egalitärer Dialektik) der Unordnung der Wirklichkeit, des Nichtwissens über die Welt bewusst wird und schlussendlich so dem Ultimat des Chaos unterwirft, lese ich in #MCE9 herein. Wird doch das Symbol des europäischen Rationalismus schlechthin, die leicht sphärisch-variierten fünf platonischen Körper, von allerlei Profanem und Banalem aus allen Menscheitszeitaltern bedrängt, förmlich eingekreist und belagert; dadurch wird das ordentliche Objekt im Zentrum ästhetisch wie logisch vom (Bild-)Äußeren her in seiner zählbaren Endlichkeit durch eine chaotische Unendlichkeit überfordert.

Interpretation hin oder her, Fakt ist, dass Wissenschaft und Politik nach Platon auch ohne Philosophenkönige viele Erfolge gegen das Chaos errungen haben, nun aber zivilisatorisch aufs neue heraus- und hoffentlich nicht überfordert werden. Nicht irgendein beliebiges, besonderes Objekt, sei es im Detail noch so einzigartig und damit alles andere als platonisch einfach zu abstrahieren, fordert den Glauben an die vernünftige Ordnung der (menschlichen) Dinge heraus, sondern eine komplexe Relation, die ihrerseits zum Gegen-Symbol der Ordnung geworden ist: das chaotische System namens Klima. Dessen konkrete Realisation – das Wetter – vermag auch schon mal einen, zugegeben nicht eben hellen Präseidenten intellektuell zu überfordern. Die globale politische Lösung der hausgemachten Klimaproblematik hingegen würde vermutlich auch einen Platon und all seine imaginierten Philosophenkönige ordentlich ins Schwitzen bringen.

Was würde Platon, was Escher zum Klimawandel, insbesondere zur sich derzeit abzeichnenden zivilisatorischen Ohnmacht, wohl zu sagen haben, welche Ideen und Lösungsansätze würden sie ersinnen? Der Rest ist Schweigen …!

Das alles kann passieren, wenn man mitnächtlich munter anfängt, Kunst zu interpretieren: Das Denken kommt in Bewegung und nimmt Fahrt auf, windet sich in Spiralen und Serpentinen hinauf, hinab und jedenfalls hinfort vom gegebenen Kunstwerk und dessen materieller (oder in unserem Fall: virtueller) Faktiztität. Die mehr oder minder kreative, mehr oder weniger assoziative Fiktion, die am Ende herauskommt, ist nicht beliebig, jedoch ziemlich chaotisch durch die Person und Situation des Rezipienten kompliziert. Denn was Escher im Sinne hatte, als er „… und Chaos“ nach „Ordnung“ titelte oder als er zufällig mit 15 eine ungerade Anzahl an vermeintlichen Chaos-Exempeln um das platonische Zentrum herum gruppierte, ist trivialerweise unbestimmt; aber ebenso auch irrelevant, wie zudem Platons Antworten; denn wir sind es, die Anworten finden können, verantworten müssen.

Kunst ist und bleibt ein Kalleidoskop des Denkens (und natürlich Fühlens). Deshalb freue ich mich derart über die heutige Wiedererweckung des Formates Lichtrausch, dass ich nicht umhin konnte, entgegen meiner bisherigen Devise der interpretatorischen Zurückhaltung, auch mal wild auf ein Werk ein-zu-interpretieren: von Escher zum Klimawandel – immer wieder illuster, wo so ein Spaziergang auf einem der potentiell unendlichen Denkwege durch das mentale Chaos endet!

Euer lichtberauschter, nächtlicher Mental-Flaneur, Satorius

KGdM feat. Homo Deus: Harari’s History

Vor rund 13,5 Milliarden Jahren entstanden Materie, Energie, Raum und Zeit in einem Ereignis namens Urknall. Die Geschichte dieser grundlegenden Eigenschaften unseres Universums nennen wir Physik.

 

 

Etwa 300000 Jahre später verbanden sich Materie und Energie zu komplexeren Strukturen namens Atome, die sich wiederum zu Molekülen zusammenschlossen. Die Geschichte der Atome, Moleküle und ihrer Reaktionen nennen wir Chemie.

 

 

Vor 3,8 Milliarden Jahren begannen auf einem Planeten namens Erde bestimmte Moleküle, sich zu besonders großen und komplexen Strukturen zu verbinden, die wir als Organismen bezeichnen. Die Geschichte dieser Organismen nennen wir Biologie.

 

 

Und vor gut 70000 Jahren begannen Organismen der Art Homo sapiens mit dem Aufbau von noch komplexeren Strukturen namens Kulturen. Die Entwicklung dieser Kulturen nennen wir Geschichte.

 

 

Die Geschichte der menschlichen Kulturen wurde von drei großen Revolutionen geprägt. Die kognitive Revolution vor etwa 70000 Jahren brachte die Geschichte überhaupt erst in Gang. Die landwirtschaftliche Revolution vor rund 12000 Jahren beschleunigte sie. Und die wissenschaftliche Revolution, die vor knapp 500 Jahren ihren Anfang nahm, könnte das Ende der Geschichte und der Beginn von etwas völlig Neuem sein. Dieses Buch erzählt, welche Konsequenzen diese drei Revolutionen für den Menschen und seine Mitlebewesen hatten und haben.

 

 

Menschen gab es schon lange vor dem Beginn der Geschichte. Die ersten menschenähnlichen Tiere betraten vor etwa 2,5 Millionen Jahren die Bühne. Aber über zahllose Generationen hinweg stachen sie nicht aus der Vielzahl der Tiere heraus, mit denen sie ihren Lebensraum teilten. Wenn wir 2 Millionen Jahre in die Vergangenheit reisen und einen Spaziergang durch Ostafrika unternehmen könnten, würden wir dort vermutlich Gruppen von Menschen begegnen, die äußerlich gewisse Ähnlichkeit mit uns haben. Besorgte Mütter tragen ihre Babys auf dem Arm, Kinder spielen im Matsch. Von irgendwoher dringt das Geräusch von Steinen, die aufeinandergeschlagen werden, und wir sehen einen ernst dreinblickenden jungen Mann, der sich in der Kunst der Werkzeugherstellung übt. Die Technik hat er sich bei zwei Männern abgeschaut, die sich gerade um einen besonders fein gearbeiteten Feuerstein streiten; knurrend und mit gefletschten Zähnen tragen sie eine weitere Runde im Kampf um die Vormachtstellung in der Gruppe aus. Währenddessen zieht sich ein älterer Herr mit weißen Haaren aus dem Trubel zurück und streift allein durch ein nahe gelegenes Waldstück, wo er von einer Horde Schimpansen überrascht wird.

 

 

(Kapitel 1: Ein ziemlich unaffälliges Tier)


 

Vor 70000 Jahren war der Homo sapiens ein unbedeutendes Tier, das in einer abgelegenen Ecke Afrikas seinem Leben nachging. In den folgenden Jahrtausenden stieg es zum Herrscher des gesamten Planeten auf und wurde zum Schrecken des Ökosystems. Heute steht er kurz davor, zum Gott zu werden und nicht nur die ewige Jugend zu gewinnen, sondern auch göttliche Macht über Leben und Tod. Leider hat die Herrschaft des Sapiens bislang wenig hinterlassen, auf das wir uneingeschränkt stolz sein könnten. Wir haben uns die Umwelt untertan gemacht, unsere Nahrungsproduktion gesteigert, Städte gebaut, Weltreiche gegründet und Handelsnetze errichtet. Aber haben wir das Leid in der Welt gelindert? Wieder und wieder bedeuteten die massiven Machtzuwächse der Menschheit keine Verbesserung für die einzelnen Menschen und immenses Leid für andere Lebewesen.

 

 

Trotz unserer erstaunlichen Leistungen haben wir nach wie vor keine Ahnung, wohin wir eigentlich wollen, und sind so unzufrieden wie eh und je. Von Kanus sind wir erst auf Galeeren, dann auf Dampfschiffe und schließlich auf Raumschiffe umgestiegen, doch wir wissen immer noch nicht, wohin die Reise gehen soll. Wir haben größere Macht als je zuvor, aber wir haben noch immer keine Ahnung, was wir damit anfangen wollen. Schlimmer noch, die Menschheit scheint verantwortungsloser denn je. Wir sind Selfmade-Götter, die nur noch den Gesetzen der Physik gehorchen und niemandem Rechenschaft schuldig sind. Und so richten wir unter unseren Mitlebewesen und der Umwelt Chaos und Vernichtung an, interessieren uns nur für unsere eigenen Annehmlichkeiten und unsere Unterhaltung und finden doch nie Zufriedenheit.

 

 

Gibt es etwas Gefährlicheres als unzufriedene und verantwortungslose Götter, die nicht wissen, was sie wollen?

 

 

(Nachwort)

 

 

Yuval Noah Harari (1976 – ), Eine kurz Geschichte der Menschheit (2011), passim


Alles begann vor etwa 70.000 Jahren, als die kognitive Revolution die Sapiens in die Lage versetzte, über Dinge zu sprechen, die nur in ihrer Vorstellungswelt existierten. In den folgenden 60.000 Jahren flochten sie zahlreiche fiktionale Netze, doch diese blieben klein und lokal begrenzt. Der Geist eines verehrten Ahnen, der vom einen Stamm angebetet wurde, war bei den Nachbarn völlig unbekannt, und Muscheln, die an einem Ort wertvoll waren, wurden wertlos, sobald man die nächste Bergkette überquert hatte. Geschichten über die Geister von Ahnen und wertvolle Muscheln verschafften den Sapiens durchaus einen enormen Vorteil, weil sie es Hunderten und mitunter sogar Tausenden von ihnen ermöglichten, effektiv zusammenzuarbeiten, wozu Neandertaler oder Schimpansen nicht in der Lage waren. Doch solange die Sapiens Jäger und Sammler blieben, konnten sie nicht wirklich massenhaft kooperieren, denn es war schlicht unmöglich, eine Stadt oder ein Königreich allein mit Jagen und Sammeln zu ernähren. Folglich waren die Geister, Feen und Dämonen der Steinzeit relativ schwache Wesenheiten.

 

 

Die landwirtschaftliche Revolution, die vor ungefähr 12.000 Jahren begann, lieferte die erforderliche materielle Grundlage, um die intersubjektiven Netzwerke zu vergrößern und zu stärken. Der Ackerbau ermöglichte es, Tausende von Menschen in dicht besiedelten Städten und Tausende von Soldaten in disziplinierten Armeen zu ernähren. Doch dann standen die intersubjektiven Geflechte vor einer neuen Hürde. Um die kollektiven Mythen zu bewahren und massenhafte Kooperation zu organisieren, setzten die frühen Bauern auf die Datenverarbeitungsfähigkeiten des menschlichen Gehirns, und die waren nun einmal recht begrenzt.

 

 

Bauern glaubten an Geschichten über große Götter. Für ihren Lieblingsgott errichteten sie Tempel, zu seinen Ehren hielten sie Feste ab, sie brachten ihm Opfer dar und ließen ihm Land, Getreide und Geschenke zukommen. In den ersten Städten im antiken Sumer, vor rund 6000 Jahren, waren die Tempel nicht nur Zentren der Anbetung, sondern auch die wichtigsten politischen und ökonomischen Knotenpunkte. Die Götter der Sumerer erfüllten eine ähnliche Funktion wie moderne Marken und Unternehmen. Heute sind Unternehmen fiktive juristische Personen, die über Eigentum verfügen, Geld verleihen, Arbeitnehmer beschäftigen und ökonomische Risiken eingehen. In den antiken Städten Uruk, Lagasch und Schuruppak fungierten die Götter als solche Rechtspersonen, die Felder und Sklaven besitzen, Kredite vergeben und aufnehmen, Löhne bezahlen und Dämme sowie Kanäle bauen konnten.

 

 

(Kapitel 4: Geschichtenerzähler)

 

 

[…]

 

 

Vor 70.000 Jahren veränderte die kognitive Revolution des Geist des Sapiens und machte damit aus einem unbedeutenden afrikanischen Affen den Herrscher der Welt. Der verbesserte Geist des Sapiens hatte plötzlich Zugang zum riesigen Bereich des Intersubjektiven, was uns in die Lage versetzte, Götter und Unternehmen zu schaffen, Städte und Imperien zu errichten, die Schrift und das Geld zu erfinden und schließlich das Atom zu spalten und zum Mond zu fliegen. Soweit wir wissen, resultierte diese weltbewegende Revolution aus ein paar kleinen Veränderungen in der DNA des Sapiens und einer geringfügigen Neuverdrahtung im Gehirn. Wenn das so ist, so der Techno-Humanismus, reichen ein paar weitere Veränderungen in unserem Genom und eine weitere Neuverschaltung unseres Gehirns aus, um eine zweite kognitive Revolution ins Werk zu setzen. Die geistigen Neuerungen der ersten kognitiven Revolution verschafften Homo sapiens Zugang zum Bereich des Intersubjektiven und machten uns zu Herrschern über den Planeten. Eine zweite kognitive Revolution könnte Homo deus Zugang zu unvorstellbaren neuen Sphären verschaffen und uns zu Herren der Galaxie erheben.

 

 

Diese Idee ist eine aktualisierte Variante der alten Träume des evolutionären Humanismus, der schon vor einem Jahrhundert die Schaffung von Übermenschen forderte. Doch während Hitler und sein Gefolge solche Übermenschen mit Hilfe von Zuchtwahl und ethnischer Säuberung produzieren wollten, hofft der Techno-Humanismus des 21. Jahrhunderts, dieses Ziel weitaus friedlicher zu erreichen, nämlich mit Hilfe von Gentechnik, Nanotechnologie und Schnittstellen zwischen Gehirn und Computer.

 

 

(Kapitel 10: Der Ozean des Bewusstseins)

 

 

[…]

 

 

Kombiniert man die praktische Fähigkeit, den Geist zu manipulieren, mit unserer Unkenntnis des mentalen Spektrums und den eng gefassten Interessen von Regierungen, Armeen und Unternehmen, sind Probleme vorprogrammiert. Es könnte gut sein, dass wir unsere Körper und unsere Gehirne erfolgreich optimieren, dabei aber unseren Geist verlieren. Tatsächlich könnte der Techno-Humanismus die Menschen am Ende «downgraden». Denn das System dürfte zurückgestufte Menschen bevorzugen, nicht weil sie über irgendeinen übermenschlichen Knacks verfügen, sondern weil es ihnen an einigen wirklich störenden menschlichen Eigenschaften fehlen würde, die das System behindern und es verlangsamen. Wie jeder Bauer weiß, sorgt üblicherweise die schlauste Ziege für die größten Probleme, weshalb zur landwirtschaftlichen Revolution auch gehörte, die mentalen Fähigkeiten der Tiere zu beschneiden. Die zweite kognitive Revolution, von der Techno-Humanisten träumen, könnte das Gleiche mit uns machen, indem sie menschliche Verwandte produziert, die effektiver als je zuvor kommunizieren und Daten verarbeiten, aber nicht wirklich achtsam sein, träumen oder zweifeln können. Über Millionen von Jahren waren wir Schimpansen in verbesserter Ausführung. In Zukunft könnten wir zu Ameisen in Übergröße werden.

 

 

(Ich rieche Angst)

 

 

[…]

 

 

Die normalen Wähler spüren allmählich, dass ihnen der demokratische Mechanismus keine Macht mehr verschafft. Die Welt rings um sie herum verändert sich, und sie verstehen nicht, wie und warum das alles geschieht. Die Macht verschiebt sich weg von ihnen, aber sie können nicht sagen, wohin sie verschwunden ist. In Großbritannien glauben sie, die Macht sei an die EU übergegangen, und so stimmen sie für den Brexit. In den USA bilden sich die Wähler ein, das «Establishment» habe alle Macht an sich gerissen, und so unterstützen sie Anti-Establishment-Kandidaten wie Bernie Sanders und Donald Trump. Die traurige Wahrheit ist, dass niemand weiß, wo all die Macht hin ist. Fest steht nur: Sie wird nicht zu den gewöhnlichen Wählern zurückkehren, wenn Großbritannien aus der EU austritt oder Donald Trump ins Weiße Haus einzieht.

 

 

Das heißt nicht, dass wir in Diktaturen im Stile des 20. Jahrhunderts zurückfallen werden. Autoritäre Regime scheinen vom Tempo der technologischen Entwicklung und der Geschwindigkeit sowie der Menge des Datenflusses gleichermaßen überfordert zu sein. Im 20. Jahrhundert hatten Diktatoren große Zukunftsvisionen. Kommunisten und Faschisten waren gleichermaßen bestrebt, die alte Welt vollständig zu zerstören und an ihrer Stelle eine neue Welt zu errichten. Was immer man von Lenin, Hitler oder Mao halten mag, einen Mangel an Vision kann man ihnen nicht vorwerfen. Heute, so scheint es, hätten Politiker eigentlich die Möglichkeit, noch größere Visionen zu verfolgen. Während die Kommunisten und die Nationalsozialisten mit Hilfe von Dampf- und Schreibmaschinen eine neue Gesellschaft und einen neuen Menschen zu schaffen versuchten, könnten die heutigen Propheten mit Biotechnologie und Supercomputern arbeiten.

 

 

In Science-Fiction-Filmen bedienen sich hitlereske, rücksichtslose Politiker nur zu gerne solch neuer Technologien und stellen sie in den Dienst dieses oder jenes größenwahnsinnigen politischen Ideals. Doch Politiker aus Fleisch und Blut haben zu Beginn des 21. Jahrhunderts selbst in autoritären Ländern wie Russland, Iran oder Nordkorea nichts mit ihren Hollywoodverwandten gemein. Sie scheinen keine schöne neue Welt zu planen. Die kühnsten Träume von Kim Jong-un und Ali Khamenei reichen im Grunde nicht über Atombomben und Langstreckenraketen hinaus – das wirkt wie bei 1945 stehen geblieben. Putins Bestrebungen bleiben offenkundig darauf beschränkt, die alte Sowjetunion oder das noch ältere Zarenreich wiederzuerrichten. In den USA werfen paranoide Republikaner derweil Barack Obama vor, er sei ein rücksichtsloser Despot, der Verschwörungen aushecke, um die Grundlagen der amerikanischen Gesellschaft zerstören – doch in acht Jahren Präsidentschaft brachte er gerade einmal eine bescheidene Gesundheitsreform zustande. Neue Welten und neue Menschen zu schaffen liegt weit abseits seiner Agenda.

 

 

Gerade weil sich die Technologie heute so schnell entwickelt und Parlamente wie Diktatoren durch Daten, die sie nicht schnell genug verarbeiten können, förmlich erschlagen werden, denken heutige Politiker in viel kleineren Dimensionen als ihre Vorgänger vor 100 Jahren. Der Politik fehlt es Anfang des 21. Jahrhunderts folglich an großen Visionen. Regieren ist zu bloßer Administration geworden.

 

 

Man verwaltet das Land, führt es aber nicht mehr. Die Regierung sorgt dafür, dass Lehrer pünktlich bezahlt werden und die Abwasserkanäle nicht überlaufen, aber sie hat keine Ahnung, wo das Land in 20 Jahren sein wird.

 

 

In mancher Hinsicht ist das durchaus eine gute Sache. Wenn man bedenkt, dass einige der großen politischen Visionen des 20. Jahrhunderts uns nach Auschwitz, nach Hiroshima und zum «Großen Sprung nach vorn» führten, sind wir in den Händen kleingeistiger Bürokraten heute möglicherweise besser aufgehoben. Die Verbindung aus gottgleicher Technologie mit größenwahnsinniger Politik würde der Katastrophe Tür und Tor öffnen. Viele neoliberale Ökonomen und Politikwissenschaftler behaupten, am besten sollte man alle wichtigen Entscheidungen dem freien Markt überlassen. Damit liefern sie Politikern die perfekte Entschuldigung für Nichthandeln und Nichtwissen, die als tiefreichende Klugheit uminterpretiert werden. Politiker glauben nur zu gerne, dass sie die Welt deshalb nicht verstehen, weil sie sie nicht verstehen müssen.

 

 

Doch auch die Verbindung von gottgleicher Technologie mit einer Politik, die auf kurze Sicht fährt, hat ihre Schattenseiten. Ein Mangel an Visionen ist nicht immer ein Segen, und nicht alle Visionen sind zwangsläufig schlecht. Im 20. Jahrhundert zerfiel die historische Vision der Nationalsozialisten nicht von selbst. Sie wurde von den gleichermaßen groß angelegten Visionen des Sozialismus und des Liberalismus besiegt. Unsere Zukunft den Kräften des Marktes zu überlassen ist gefährlich, denn diese Kräfte tun, was gut für den Markt ist, und nicht, was gut für die Menschheit oder für die Welt ist. Die Hand des Marktes ist ebenso blind wie unsichtbar, und wenn man sie sich selbst überlässt, wird sie gegen die Bedrohung durch den Klimawandel oder das gefährliche Potenzial künstlicher Intelligenz nichts tun.

 

 

Manche Leute glauben, dass trotzdem jemand verantwortlich ist. Nicht demokratische Politiker oder autokratische Despoten, sondern eine kleine Clique von Milliardären, die insgeheim die Welt regieren. Aber solche Verschwörungstheorien funktionieren nie, weil sie die Komplexität des Systems unterschätzen. Ein paar Milliardäre, die in irgendeinem Hinterzimmer Zigarren rauchen und Whisky trinken, können nicht alles verstehen, was auf der Welt passiert, und es schon gar nicht kontrollieren. Rücksichtslose Milliardäre und kleine Interessengruppen florieren in der chaotischen Welt von heute nicht deshalb, weil sie die Karte besser lesen können als alle anderen, sondern weil sie sehr eng gesteckte Ziele haben. In einem chaotischen System ist der Tunnelblick immer von Vorteil, und die Macht der Milliardäre entspricht genau ihren Zielen. Wollte der reichste Mensch der Welt eine weitere Milliarde US-Dollar verdienen, könnte er das System problemlos manipulieren, um sein Ziel zu erreichen. Wollte er jedoch die weltweite Ungleichheit verringern oder den globalen Klimawandel stoppen, wird nicht einmal ihm das gelingen, weil das System viel zu komplex ist.

 

 

(Wo ist all die Macht geblieben?)

 

 

[…]

 

 

Wenn es dem Dataismus gelingt, die Welt zu erobern, was wird dann mit uns Menschen geschehen? Anfangs wird es wahrscheinlich das menschliche Streben nach Gesundheit, Glück und Macht beschleunigen. Der Dataismus breitet sich gerade deshalb aus, weil er diese menschlichen Sehnsüchte zu stillen verspricht. Um Unsterblichkeit, Glück und göttliche Schöpfungskraft zu erlangen, müssen wir ungeheure Datenmengen verarbeiten, welche die Kapazitäten des menschlichen Gehirns weit überschreiten. Also werden die Algorithmen das für uns erledigen. Doch sobald die Macht von den Menschen auf die Algorithmen übergeht, könnten die humanistischen Projekte irrelevant werden. Sobald wir die homozentrische Weltsicht zugunsten eines datazentrischen Weltbilds aufgeben, könnten Gesundheit und Glück der Menschen immer weiter an Bedeutung einbüßen. Denn warum sollte man sich um obsolete Datenverarbeitungsmaschinen kümmern, wenn es bereits deutlich bessere Modelle gibt? Wir streben danach, das «Internet aller Dinge» zu entwickeln, weil wir hoffen, dass es uns gesund, glücklich und mächtig macht. Doch sobald das «Internet aller Dinge» existiert und funktioniert, könnten wir von Entwicklern zu Mikrochips und dann zu Daten schrumpfen und uns am Ende im Datenstrom auflösen wie ein Klumpen Erde in einem reißenden Fluss.

 

 

Der Dataismus droht somit, Homo sapiens das anzutun, was Homo sapiens allen anderen Tieren angetan hat. Im Verlauf der Geschichte haben die Menschen ein globales Netzwerk geschaffen und alles nach seiner Funktion in diesem Netzwerk bewertet. Jahrtausendelang nährte das den menschlichen Stolz und menschliche Vorurteile. Da wir Menschen die wichtigsten Funktionen in diesem Netzwerk erfüllten, war es ein Leichtes für uns, uns selbst die Errungenschaften des Netzwerks anzurechnen und uns als Krone der Schöpfung zu betrachten. Das Leben und die Erfahrungen aller anderen Tiere galten als minderwertig, weil sie weit weniger wichtige Funktionen erfüllten, und wenn ein Tier gar keine Funktion mehr hatte, wurde es ausgerottet. Doch sobald die Menschen ihre funktionale Bedeutung für das Netzwerk verlieren, werden sie erkennen, dass sie gar nicht die Krone der Schöpfung sind. Die Maßstäbe, die wir selbst entwickelt haben, werden uns dazu verdammen, den Mammuts und den chinesischen Flussdelphinen ins Vergessen zu folgen. Rückblickend betrachtet, wird die Menschheit nichts weiter gewesen sein als ein leichtes Kräuseln im großen kosmischen Datenstrom.

 

 

Wir können die Zukunft nicht wirklich vorhersagen. All die hier in diesem Buch entworfenen Szenarien sollten als Möglichkeiten und weniger als Prognosen verstanden werden. Wenn wir über die Zukunft nachdenken, sind unsere Horizonte üblicherweise durch gegenwärtige Ideologien und Gesellschaftssysteme beschränkt. Die Demokratie ermuntert uns dazu, an eine demokratische Zukunft zu glauben. Der Kapitalismus erlaubt es uns nicht, uns eine nicht-kapitalistische Alternative vorzustellen. Und der Humanismus macht es uns schwer, über eine posthumane Bestimmung nachzudenken. Bestenfalls recyceln wir mitunter vergangene Ereignisse und betrachten sie als alternative Zukünfte. So dienen beispielsweise der Nationalsozialismus und der Kommunismus des 20. Jahrhunderts als Blaupause für viele Dystopien, und Science-Fiction-Autoren bedienen sich des Vermächtnisses von Mittelalter und Antike, um sich Jedi-Ritter und galaktische Kaiser vorzustellen, die mit Raumschiffen und Laserwaffen gegeneinander kämpfen.

 

 

Dieses Buch spürt den Ursprüngen unserer gegenwärtigen Konditionierung nach, um ihren Griff zu lockern und uns in die Lage zu versetzen, weit fantasievoller als bisher über unsere Zukunft nachzudenken. Statt unsere Horizonte durch die Prophezeiung eines einzigen definitiven Szenarios einzuengen, will dieses Buch sie erweitern und uns vor Augen führen, dass es ein viel breiteres Spektrum an Möglichkeiten gibt. Wie ich mehrfach betont habe, weiß niemand wirklich, wie der Arbeitsmarkt, die Familie oder die Ökologie im Jahr 2050 aussehen und welche Religionen, Wirtschaftssysteme oder politischen Strukturen die Welt beherrschen werden.

 

 

Doch eine Horizonterweiterung kann sich auch als Bumerang erweisen, wenn wir danach verwirrter und tatenloser sind als zuvor. Worauf sollten wir angesichts so vieler Szenarien und Möglichkeiten unsere Aufmerksamkeit richten? Die Welt verändert sich schneller als je zuvor, wir werden von unglaublichen Mengen an Daten, Ideen, Versprechungen und Bedrohungen überschwemmt. Die Menschen überlassen nicht zuletzt deshalb, weil sie mit der Datenflut nicht mehr zurechtkommen, die Macht dem freien Markt, der Weisheit der Crowd und externen Algorithmen. In der Vergangenheit funktionierte Zensur dadurch, dass der Informationsfluss blockiert wurde. Im 21. Jahrhundert bedeutet Zensur, die Menschen mit irrelevanten Informationen zu überschwemmen. Die Menschen wissen einfach nicht, worauf sie achten sollen, und vergeuden ihre Zeit oft damit, sich mit Nebenaspekten zu beschäftigen. In früheren Zeiten bedeutete Macht, Zugang zu Daten zu haben. Heute bedeutet Macht zu wissen, was man ignorieren kann. Worauf von all dem, was in unserer chaotischen Welt geschieht, sollten wir uns also konzentrieren?

 

 

Wenn wir in Monaten denken, sollten wir unser Augenmerk vermutlich auf unmittelbare Probleme wie die Wirren im Nahen Osten, die Flüchtlingskrise in Europa und die Abschwächung der chinesischen Wirtschaft richten. Wenn wir in Jahrzehnten denken, spielen der Klimawandel, die wachsende Ungleichheit und der Zusammenbruch des Arbeitsmarkts eine zentrale Rolle. Wenn wir aber das Leben im Großen und Ganzen in den Blick nehmen, werden alle anderen Probleme und Entwicklungen von drei miteinander verknüpften Prozessen überschattet:

 

 

  1. Die Wissenschaft konvertiert zu einem allumfassenden Dogma, das behauptet, Organismen seien Algorithmen und Leben sei Datenverarbeitung.
  2. Intelligenz koppelt sich vom Bewusstsein ab.
  3. Nicht-bewusste, aber hochintelligente Algorithmen könnten uns schon bald besser kennen als wir uns selbst.

 

 

Diese drei Prozesse werfen drei Schlüsselfragen auf, die Sie, so hoffe ich, noch lange nach der Lektüre dieses Buches beschäftigen werden:

 

 

  1. Sind Organismen wirklich nur Algorithmen, und ist Leben wirklich nur Datenverarbeitung?
  2. Was ist wertvoller – Intelligenz oder Bewusstsein?
  3. Was wird aus unserer Gesellschaft, unserer Politik und unserem Alltagsleben, wenn nichtbewusste, aber hochintelligente Algorithmen uns besser kennen als wir uns selbst?

 

 

(Ein Kräuseln im Datenfluss)

 

 

Yuval Noah Harari (1976 – ), Homo Deus. Eine Geschichte von Morgen (2015), passim


Das nenne ich mal einen ordentlichen Klopps an Text, der macht ordentlich satt und zugleich ziemlich voll. Deshalb habe ich mir entgegen des zuletzt beschriebenen Leseplans zunächst und zuvor die beiden oben zitierten Schinken o(h)ral als leidlich gut gelesenes Hör-Buch gegönnt und dadurch in ihrer nötigen Schwere moderat abgemildert. Ich konnte also doch nicht umhin, nach dem reizvollen Lektürebeginn der dritten populär(-wissenschaftlich-)en Monographie aus dem letzten Blog-Artikel zuerst die beiden älteren Bücher in einem zwanghaften Anflug von Werkschronologitis zu konsumieren.

Immehrin und insgesamt will Herr Harari („Danke!“ für diesen lautmalerisch-alliterierenden Namen) darin einiges an Gehalten auftischen: nichts weniger als die gesamte Geschichte der Menschheit, im großen Abriss ebenso wie in der kleinen Alltagsimpression. Derart vielsichichtig wird dieser buchstäblich epische Gegenstand umsichtig beschrieben und klar analysiert, zudem obendrauf noch fleißig kommentiert und reflektiert sowie zuletzt auch politisiert und polemisiert.

Schon an der Grenze zwischen Text-Fast-Food und Text-Slow-Food gelegen, zitiere ich hier tatsächlich querbeet über gut 1100 Druckseiten hinweg und versuche unterdessen ganz unambitioniert, das sog. Wesentliche von sowohl Inhalt (Argument, Beschreibung, etc.) als auch Form und Stil (Erzählung, Wortwahl, Stilistik, usw.) schlimmstenfalls nur anzudeuten oder bestenfalls sogar zu treffen. Bei diesem qualitativ also spannenden und quantitativ eindeutigen Verhältnis von Original zu Abbild kann ich mithin nur von „TFF“ sprechen, auch, weil ich mir zudem erlaube, kurzerhand zwei Werke zitierend in einem Artikel zu kombinieren: Ein kurze Geschichte der Menschheit feat. Homo Deus – namensgeben und eben nicht umgekehrt.

„Feat.“ also und deshalb auch klarer Zitatevorteil für Homo Deus! Denn in Summe lese ich die KGdM als Overtüre zu Homo Deus, weil der Geschichtswissenschaftler von der ersten Seite an förmlich danach drängt, den Bogen, den er nacherzählend zuvor historisch aufgespannt hat, praktisch anzubinden, sprich prognostisch fortzuführen, politisch zu problematisieren und bisweilen prophetisch weiterzuspinnen. Nach der Vergangenheit, die Gegenwart aus besagter und zuvor beschriebener dritten Monografie elegant überspringend, folgt also die Bruch-Landung irgendwo und irgendwann in möglichen Zukünften des Homo sapiens als Selfmade-Gott. Dessen und deren Entwurf sowie Kritik bedarf notwendig und wiederkehrend der Rückbindung an die Geschichte über die Geschichte und nunmehr endlich auch die bisher weithin ausgesparte Gegenwart; und macht zusammengenommen den intellektuell spannenderen Teil des Werkes aus, insbesondere da er auch praktisch-politisch von höhrer Relevanz ist, im Gegensatz zum theoretisch-deskriptiven Anspruch der bloßen Geschichtswissenschaft typischen Schlages, die Harari weit hinter sich zurücklässt.

Der bündige Blick auf 13.500.070.000 (In einem Wort: „Dreizehnmilliardenfünfhundermillionenundsiebzigtausend“) Jahre ist nichtsdestotrotz bewundernswert kompakt gehalten und dabei dennoch so anschaulich erzählt, dass Historie teilweise erlebar wird, in sie so plastisch wie humorvoll nachvollziehbar gemacht wird, wie das noch eben wünschenswert sein dürfte. Stereotypen treffen deshalb bisweilen auf Allgemeinplätzen aufeinander, was jedoch angesichts von Ironie und der zusätzlich brisanten Poly- und Ambivalenz von „Geschichte beschreiben“ und „Geschichten schreiben“ durchaus als Kompliment gemeint sein soll. Abstrakte Geschichte, die konkretes Geschehen für ihre Theoriarbeit zuvor vereinfacht hat, wird nachträglich wieder konkretisiert, indem ihr Farbe, Form und Gefühl zurückgegeben werden. Dadurch widerlegt der Schriftsteller Harari schon sehr früh das im letzten Artikel vorschnell gemachte Vorurteil von stilistischer Karg- und Nüchternheit. Er schreibt einfach und effektiv, was im Blick auf seine offenkundige Intention, (be-)schreibend insbesondere einen historisch aufgeklärten Einfluss auf den Zukunftsdiskurs der Menschheit zu üben, absolut stimmig ist.

Ebenso stimmig ist sein Portrait des Menschen als seßhaft und verkopft gewordenem ehemaligen Wildbeuter, der auf eine evolutionäre bewegte Vorgeschichte zurückblickt und dessen Geschichte unter eingängigen Schlagworten strukturiert und rekonstruiert wird: Auf die „Kognitive Revolution,“ in der wir fiktiv und abstrakt Denken und sozial interagieren gelernt haben, folgte die „Landwirtschaftliche Revolution“, die uns domestizierte und die ersten Hochzivilisationen hervorbrachte, worafhin sich zuletzt die „Wissenschaftliche Revolution“ ereignete, durch die wir technisiert und globalisiert wurden und dabei derart mächtig geworden seien, dass wir nunmehr gottgleich „Krieg, Hunger und Tod“ besiegen könnten oder gar schon hätten. Mit diesem unschuldig-beiläufigen Kippen in den Konjunktiv vollzieht sich bei Harari auch der im Text immer wieder angedeutete Übergang von der Beschreibung des Gewesenen in die Besprechung des Werdenden. Sein Ausblick auf das Zukommende ist dabei neugierig und bisweilen sorgenvoll und wendet sich unbestimmt auf die nähere und moderat fernere Zukunft im von mir grob geschätzten, von ihm nicht explizierten Intervall von 30 bis 100 Jahren.

Der globalisierte Humanismus, plausibel in seine liberale, evolutionäre und sozialistische Traditionslinie differenziert, könnte auf tragische Weise vielfach in die Krise geraten. Nachdem der Mensch sich zum Meister der Erde emporgearbeitet hat, indem er bei seiner Expansion ganze Ökosysteme samt Tieren, Pflanzen und Lebensraum schlicht zerstört oder funktional unterjocht hat, beherrscht er den Planeten zur Gänze. Die technologische Machtfülle hat jedoch massive Kosten verursacht und bringt ebensolche Konsequenzen mit sich: Während die Ressourcen rar werden und die natürlichen Puffer für fast jeden Umweltstressor gefühlt zur Neige gehen, das Klima sich jedenfalls zu unseren Unbilden wandelt, drängen zukünftige Gefahrenpotentiale auf uns ein und uns zu einer gestalterischen Proaktivität in Politik und Wirtschaft.

Nach Harari bedroht insbesondere der sog. „Dataismus“ den in sich spannungsvoll aufgespaltenen Humanismus und profitiert dabei, so lese ich seine Darstellung, von den offensichtlichen Widersprüche zwischen dessen libraler, sozial(-istisch-)er und evolutionärer Prägung. Um diesen drei Begriffen spontan ein griffigeres Bild zu geben: liberal wäre beispielsweise der in die Jahre gekommene „American Dream“, sozial bis sozialistisch der nie verwirklichte, vollendete „Kommunismus“ und evolutionär ein zumal noch biotechnologisch aufgerüsteter „Neo-Faschismus“; überall steht eine Idee, ein Ideal des Menschen im Zentrum, wohingegen Umwelt, Götter, Tiere überall, wenn überhaupt, eine untergeordnete Rolle spielen. Wie also mit der Bedrohung durch den Dataismus, d.h. der potentiellen Allmacht der Datenströme – der KI’s, Algorithmen und sonstigen neuen technologischen Unwesen – umgehen? So ungefähr lautet einer der wichtigsten Fragekomplexe, die Harari an den Anwärter auf den Göttertitel Homo Deus heranträgt.

Dass hier nebenbei eine gänzlich neue Phänomenklasse an Entitäten entsteht, interessiert wohl nur die wenigen Ontologen unter den wenigen Philosophen; der praktische Rest an Konsequenzen sollte aber definitiv jeden angehen. Denn jeder ist – Stichworte: Facebook, Amazon und Google – bereits betroffen und wird das zukünftig womöglich in noch stärkerem Maße sein. Je nach dem, wo man auf unserem Planeten zukünftig zufällig geboren wird, wird man womöglich von autonom fahrenden Autos befördert, in virtuellen Schulen E-unterrichtet, an jeder Ecke von künstlichen Intelligenzen bedient und beraten, sogar von ihnen operiert und stimuliert, bezahlt und gefeuert oder schlussendlich sogar politisch beherrscht. Dieser Klimax wird freilich mehr oder weniger, hier oder dort der Fall sein, aber die Herrschaft der Daten dämmert definitiv.

Ebenso dämmert die Nacht und mir zugleich, dass ich trotz vieler Aknüpfungspunkte und Ideen hier und jetzt einen schließenden Punkt machen sollte, um mich nicht von Hararis Universalitätsgebahren anstecken zu lassen: Er überzeugt in beiden Büchern durch seine lockere Art und die Fähigkeit, schwierige Sachverhalte einprägsam zu illustrieren, klar zu strukturiere, zugleich durch die selbstkritische Schonungslosigkeit seiner Analyse und die trotz versuchter Offenheit und Neutralität immer wieder durchscheinde strikt rationale Grundüberzeugung und einen zustiefst humanen Wertkanon. Deshalb gibt es eine klar Leseempfehlung von mir für Euch!

Gute Nacht und glückliches Gelingen im geschichtlichen Geschehen, Euer Satorius

Auf ein Neues: Hallo Gutenberg, hallo Gegenwart!

Was ist denn hier passiert, frage ich mich als müde gewordener, bisweilen verzagter Blogaspirant nach einer trägen Phase? Gutenberg bringt mich auf Trab, macht nicht nur alles anders, sondern auch vieles neu bei uns in Quanzland! Beispielsweise und konkret ist die ehemalige Formatierung von Text-Fast-Food im Detail unmöglich geworden und vermutlich auch die Form vieler anderer Formate. Deshalb heißt nun die Devise: Nicht zwanghaft am Alten kleben, lieber frei heraus das Neue erschaffen.

Block für Block entsteht hier und heute aus Anlass eines gelesenen Textes, der zuvor gefunden und für relevant oder wenigstens witzig befunden wurde, die neue Konvention für zukünftiges TFF. Mal sehen und abwarten, was hier in wenigen Sekunden erzählter Erzählzeit erscheint und wie lange die wirkliche Arbeitszeit auf dem Weg aus dem soliden Hardcover in meinen Händen heraus hinein in die hiesige Blogsphäre braucht.


Der Philosophie, der Religion und der Wissenschaft läuft die Zeit davon. Die Menschen diskutieren seit Jahrtausenden über den Sinn des Lebens. Wir können diese Debatte nicht endlos fortsetzen. Die sich anbahnende ökologische Krise, die wachsende Bedrohung durch Massenvernichtungswaffen und das Aufkommen neuer, disruptiver Technologien werden das nicht erlauben. Wichtiger noch: Künstliche Intelligenz und Biotechnologie verschaffen der Menschheit die Macht das Leben zu verändern und zu manipulieren. Schon sehr bald wird irgendjemand entscheiden müssen, wie wir diese Macht nutzen – und zwar auf der Basis irgendeiner impliziten oder expliziten Erzählung über den Sinn des Lebens. Philosophen sind sehr geduldige Menschen, doch Ingenieure sind weit weniger geduldig, und am allerwenigsten Geduld haben Investoren. Wenn wir nicht wissen, was wir mit der Macht, Leben zu manipulieren, anfangen sollen, werden die Marktkräfte nicht ein Jahrtausend lang warten, bis wir eine Antwort darauf gefunden haben. Die unsichtbare Hand des Marktes wird uns ihre eigene, blinde Antwort aufzwingen.

Yuval Noah Harari (1976 – ), 21 Lektionen für das 21. Jahrhundert, S. 17 (Einleitung)


Et voilà – ohne die Minuten tatsächlich gezählt zu haben, ist es zwischenzeitlich passiert: Das neue Gewand für den schnellen Texthappen von Heute und Morgen ist fertig geschneidert. Vor allem aber ist ein Bann gebrochen, bin ich wieder frei von Lese-/Schreibunlust und lustig auf Lese-/Schreibgenuss. Auf den Regress folgt nun wieder der Progress – so und soweit zumindest das aktuelle Credo!

Damit zurück zum Wesentlichen: Dem Text und dem Text über den Text, was nicht zufällig an Derridas Bild der Spur der Spur bei simultanem Verlöschen der Spur gemahnt. Hararis Spuren zu folgen, wie sie sich im Staub der Geschichte abzeichnen und durch den Sand der fließenden Zeit winden, immer mit Blick auf das Zukommende orientiert, erfüllt mich mit Vorfreude. Denn schon nach nur kurzer Aufwärm-Recherche, wenigen Seiten der Einleitung und der ursprünglich durch persönliches Gespräch geweckten Neugierde auf diesen Autoren, verspüre ich eine Sympathie für Hararis Denkstil und Werte. Wenn auch der literarische Stil bisher eher karg und nüchtern ausgefallen ist, so tut das der Relevanz der Themen und vermuteten Brillanz des Historikers keinen Abbruch.

Er unternimmt Großes, will vieles auf einmal und wagt große Schritte und Würfe. In seiner dritten Monographie nach Eine kurze Geschichte der Menschheit (2011) und Homo Deus. Eine Geschichte von Morgen (2015) setzt er sich dennoch bisweilen demütig das ambitionierte Ziel, die wichtigsten Entwicklungsstränge der Gegenwart zu entwirren. Nach der Schnellvariante der Menschheitsgeschichte, also aus der beruflichen Domäne heraus mit Blick auf die Vergangenheit, gefolgt von dem inspirierenden Exkurs in die Zukunft, wagt er sich nun also an das Zeitgeschehen und nimmt die Gegenwart in den Fokus seiner Betrachtung. Es geht ihm damit ausdrücklich um den undenkbar schmalen Grat namens Präsens, das zwischen den beiden (Un-)Endlichkeiten Futur und Präteritum fristet, eingekeilt, flüchtig dahineilt, noch keine Erinnerung, kein Dokument, nicht mehr Erwartung, fern der Prognose, stattdessen ereignet sich bloßes, nacktes Geschehen – feucht, heiß, glitschig und mysteriös.

Ob es dem Historiker auf dem Weg durch gefährlichste der drei Zeitebenen abermals gelingt, klare, kritische und konstruktive Begriffe zu entwerfen, um die jüngsten Entwicklungen und Ereignisse stattlich einzukleiden und so gesellschaftsfähig, also verständlich und zumutbar zu machen, bleibt abzuwarten. Die nächsten Wochen werden mich jedenfalls durch die 21 Lektionen führen, soweit ich eben bereit bin, mich belehren zu lassen und gelehrig zu bleiben. Der Lehrer hinterlässt bei mir allenfalls und zunächst einen guten ersten Eindruck – mach‘ was daraus, Yuval!

Euer optimistischer Denk-/Lese- und Schreib-Re­ha­bi­li­tand, Satorius

Poets on drugs?!

Alles neu macht Gutenberg, der neue Editor von WordPress. Einiges wurde damit besser, einiges jedoch auch schlechter. Deshalb werde ich von nun an auf die über Jahre hinweg beinahe schon klassisch gewordene Formatierung für TFF und dergleichen Zitationen verzichten, denn sonst müsste wie auch beim Blocktyp Überschrift gänzlich auf Farbe und weitere Formatoptionen verzichten. Da ich das nicht will, Verzicht in dieser Hinsicht keine Optiondarstellt, behelfe ich mir mit einem stark veränderten Absatz-Block und versuche mich ansonsten nicht über die Steuerung von Zeilen und Absätzen aufzuregen.

Dergestalt pflege ich mit dem heutigen Artikel zugleich mit Lyrik-Alarm ein Fomat und mit Bilderfolgen ein Thema, die zwar nicht vom Aussterben bedroht, aber doch selten sind. Gemischt wird das ganze thematisch noch mit Fiktionalen Kleinoden und Denk-Welten und fertig ist der Blogbeitrag:


An den Mond

Füllest wieder Busch und Tal
Still mit Nebelglanz,
Lösest endlich auch einmal
Meine Seele ganz;

Breitest über mein Gefild
Lindernd deinen Blick,
Wie des Freundes Auge mild
Über mein Geschick.

Jeden Nachklang fühlt mein Herz
Froh- und trüber Zeit,
Wandle zwischen Freud‘ und Schmerz
In der Einsamkeit.

Fließe, fließe, lieber Fluß!
Nimmer werd‘ ich froh;
So verrauschte Scherz und Kuß
Und die Treue so.

Ich besaß es doch einmal,
was so köstlich ist!
Daß man doch zu seiner Qual
Nimmer es vergißt!

Rausche, Fluß, das Tal entlang,
Ohne Rast und Ruh,
Rausche, flüstre meinem Sang
Melodien zu!

Wenn du in der Winternacht
Wütend überschwillst
Oder um die Frühlingspracht
Junger Knospen quillst.

Selig, wer sich vor der Welt
Ohne Haß verschließt,
Einen Freund am Busen hält
Und mit dem genießt,

Was, von Menschen nicht gewußt
Oder nicht bedacht,
Durch das Labyrinth der Brust
Wandelt in der Nacht.

   

Johann Wolfgang von Goethe (1749 – 1832), An den Mond (1777)


Liebliches

Was doch Buntes dort verbindet

Mir den Himmel mit der Höhe?

Morgennebelung verblindet

Mir des Blickes scharfe Sehe.

     

Sind es Zelte des Wesires, 

Die er lieben Frauen baute?

Sind es Teppiche des Festes,

Weil er sich der Liebsten traute?

     

Rot und weiß, gemischt, gesprenkelt

Wüßt ich Schönres nicht zu schauen.

Doch wie, Hafis, kommt dein Schiras

Auf des Nordens trübe Gauen?

       

Ja, es sind die bunten Mohne,                                                                                

Die sich nachbarlich erstrecken

Und dem Kriegesgott zu Hohne

Felder streifweis freundlich decken.

    

Möge stets so der Gescheute                                                                          

Nutzend Blumenzierde pflegen

Und ein Sonnenschein wie heute

Klären sie auf meinen Wegen!

     

Johann Wolfgang von Goethe (1743 – 1832), Liebliches (1819; in: West-östlicher Divan – Buch des Sängers)


SONNET 76

Why is my verse so barren of new pride?
So far from variation or quick change?
Why with the time do I not glance aside
To new-found methods and to compounds strange?
Why write I still all one, ever the same,
And keep invention in a noted weed,
That every word doth almost tell my name,
Showing their birth and where they did proceed?
O, know, sweet love, I always write of you,
And you and love are still my argument;
So all my best is dressing old words new,
Spending again what is already spent:
For as the sun is daily new and old,
So is my love still telling what is told.


Was bleiben allen neuen Reizen fern, Eintönig, ohne Wechsel meine Sänge? Und warum schiel‘ ich nicht, wie es modern, Nach neuer Form und seltnem Wortgepränge? Was Schreib‘ ich immer gleich und eines nur Und kleide meinen Sang nach alter Art, Daß jede Silbe weist auf meine Spur Und ihren Stamm und Herkunft offenbart? Muß, Liebster, ich von dir doch immer singen! Du und die Liebe bist mein ganzer Sang, Mein Bestes ist, in neue Form zu bringen Die alte Weise, die schon oft erklang. Alt ist die Sonne, und doch täglich neu, So bleibt mein Herz dem alten Liede treu.

William Shakespeare (1564 – 1616), SONNET 76 (Entstanden: 1592 – 1598; Veröffentlichung: 1609)

Weitere Übersetzungen und Lyrik bis zum Morgengrauen: http://www.deutsche-liebeslyrik.de/europaische_liebeslyrik/shakespeare/shakespeare_76.htm


SONNET 118

Like as, to make our appetites more keen,
With eager compounds we our palate urge,
As, to prevent our maladies unseen,
We sicken to shun sickness, when we purge,
Even so, being tuff of your ne’er-cloying sweetness,
To bitter sauces did I frame my feeding,
And, sick of welfare, found a kind of meetness
To be diseas’d, ere that there was true needing.
Thus policy in love, to anticipate
The ills that were not, grew to faults assured,
And brought to medicine a healthful state,
Which, rank of goodness, would by ill be cured:
   But thence I learn, and find the lesson true,
   Drugs poison him that so fell sick of you.


Wie man, um seine Essenslust zu mehren,
Den Gaumen reizt durch scharfe Arzenein
Und, sich verborgner Leiden zu erwehren,
Aus Furcht vor Krankheit impft die Krankheit ein:
So würzte ich, der ich mich übernommen
An deiner Süße, bitter meinen Trank,
Der Schmerz war als Erholung mir willkommen
Nach zu viel Lust, von Wohlergehen krank.
So dachte Liebe schlau vorauszueilen
Der künft’gen Not und kam zu sicherm Leid;
Die Krankheit sollte den Gesunden heilen,
Der, krank am Guten, suchte Bitterkeit.
Doch lernt‘ ich dies, daß Arzenei wie Gift
Für den ist, den durch dich die Krankheit trifft!

William Shakespeare (1564 – 1616), SONNET 118 (Entstanden: 1592 – 1598; Veröffentlichung: 1609)


Schrieb Shakesspear auf Dope und ergözte sich Goethe am tiefen Opiumschlummer? Zwei Titanen der Literaturgeschichte, fließige und geehrte Männer, sollen solch liederlichen Lastern gefrönt haben, wie man sie höchsten bei Hippie-Poeten, exzentrischen Rockstars und insgesamt bei  zeitgenössischen Stars erwartet und duldet: Dorgen, Rausch und womöglich sogar am Ende auch noch Sucht!

In der aktuellen, durchaus sehr sehenswerten Folge von Terra X, die unter dem Untertitel DrogenEine Weltgeschichte thematisch einschlägig firmiert, werden archäologisch bis literaturgeschichtliche These zu beiden Autoren artikuliert: Von Francis Thackeray werden drogentechnisch positiv getestete Pfeifen präsentiert, nachdem er in den zwei sicherlich gelesenen Gedichten untrügliche Hinweise auf Cannabis gefunden haben wollte – das „Weed“ und die Ode an den anonymen Appetitanreger; vager und weniger empirisch schlagend fällt die an- und die Sendung abschließende Bezichtigung unseres lieben Volksdichters aus, der West und Ost in seiner Biografie vereinend, wohl ein Freund des Mohns und seines wertvollen Saftes gewesen sein soll. Daneben findet ein farbenfroh illustrieter Roadtrip durch die Menschheitsgeschichte statt, währenddessen ein nüchtern-anerkennender Umgang mit dem sooft tabuisierten Grundmotiv des Lebens gepflegt und viel Wissenswertes erzählt wird. Soviel sei angedeutet, denn die Mediathek lockt leichterhand zum Ansehen der eigentliche Quelle: Drogen – Eine Weltgeschichte (1/2). Zwischen Rausch und Nahrung

Ich persönlich lese ja den Mond als starkes und subtiles Symbol, als poetischen Platzhalter für das Objekt der Sehnsucht; wobei ich den Romatikern trotz aller Freakigkeit eher langweilig eine Sucht nach Liebe, eine Begierde nach der sexuellen Lust mitunter, unterstelle. Wein, Weib und Gesang sind zwar die klassischen Genüsse, aber mit dem Begriff des Fetisch wird alles zum potentiellen Objekt des libidinösen Willens. Der Baum am Wegesrand, die Schuhe der galanten Nike, womöglich sogar eine Virtualität wie Warcraft oder perverserweise Tote, Kind und Kegel, alles taugt für den Exzess mit Anhaftungsabo. Ohne Ethos, sei es stoisch strikt oder epikuräisch elegant, droht immer der Wunsch nach und die Wirklichkeit der Wiederholung. Den Psychonauten locken Baudrillards künstliche Paradiese, geschockt durchlebt er Dantes Inferno und verwirrt verlässt er unterdessen Carolls Wunderland ebenso wie Baums Oz und trennt sich von Rabelais Riesen. Was ich damit abschließend und explizit behaupten möchte, wer Trip sucht, der findet ihn überall in der Literatur, denn Fantasie und Rausch, Wonne und Kreativität sind gute alte Freunde.

Euer bilderfolgender und lyrik-alarmierter Gelegenheitsblogger, Satorius

Gretchenfrage 2.0: Und wann killst du Mutter Erde dieses Jahr?


Liste weiterführender Links zum Themenkomlpex:


Von nun an prellen wir die Zeche – und wir tun dies zudem höchst unsolidarisch, also kaum auf unsere eigene Rechnung, sondern wir schreiben die Kosten auf den Deckel anderer Regionen und zukünftiger Genetationen! Denn der Tag, an dem der globalen Durchschnittsmenschen die Erde dieses Jahr „abgeschossen“ hat, oder genauer und weniger heftig formuliert: ihre Ressourcen und Regeneration „überlastet“ hat, liegt jetzt bereits hinter uns. Deutschlands Durchschnitt fällt dabei noch schlechter aus: Wir Bundesbürger haben Mutter Erde bereits Anfang Mai gekillt und bedürfen zum Erhalt unseres aktuellen Lebensstandards ganze drei Erden. Den Rest unseres Jahres leben wir nun nach dem Motto „Nach uns die Sintflut“ oder, um die Redewendungen letztlich auf die Spitze zu treiben, werden wir dem Mutterschiff Erde zu den sprichwörtlichen Ratten, die das Schiff (wenigstens durch Unterlassung) versenken. 

Mein Zugang mag etwas morbid im Abgang wirken, aber die Drastik der Darstellung dient eindeutig pädagogischen Zwecken, wie insgesamt das zu Grunde liegende Konzept des ökologischen Fußabdrucks. Dabei hat dieser Sachverhalt auch etwas zutiefst Tröstliches, gibt er  uns doch die Verantwortung zurück und erhöht damit unseren Einfluss: Es liegt an uns; wir handeln und unterlassen; jeder einzelne Mensch ist alltäglich gefragt. Ökonomie, Ökologie und insbesondere Politik werden praktisch und konkret, finden bei uns zuhause statt, sind nicht mehr nur theoretisch und abstrakt.

Der Preis dessen, wenn man diese Sache (mit oder ohne den Selbsttest des eigenen Fußabdrucks) denn überhaupt ernst nimmt, ist vermutlich ein gerüttelt Maß an kognitiver Dissonanz, also dem unangenehmen Gefühl und der entsprechenden (verdrängten) Erkenntnis, dass das eigene Handeln und Denken, unser Leben und unsere Werte im Spannungsverhältnis, womöglich sogar im Widerspruch zueinander stehen. Was an dieser Stelle bleibt, ist psychologisch gesehen recht einfach: Umdeutung oder Leugnung der Fakten, Anpassung durch Umgewöhnung des Verhaltens oder eine teuer erkaufte Ignoranz bei fortschreitendem Missverhältnis. Zwei dieser Wege führen in oder an den Abgrund heran, die goldene Mitte ist das Ideal, aber wie die meisten echten Lösungen mit Anstrengung und Verzicht verbunden: Wer will schon radfahren oder laufen, Bus- oder Bahnfahren, statt sich mit dem Auto fortzubewegen; Urlaub in der Nähe, Deutschland oder Europa, machen, statt die weite Welt zu entdecken; globalen Burger, Steak, Käse und Wurst für regionales Gemüse, Obst, Nuss und Brot eintauschen; statt des Filmabends mit Smartphone-Intermezzo bei hellstem Lampenschein und optimalem Klima, einfach nur dasitzen und ohne Strom Spaß haben; zuletzt die luxuriöse Higtech-Stadtvilla in bester Lage räumen und in die spartanische Blockhütte im Wald ziehen?

Nur der Anwärter zum totalen Gutmenschen bejaht hier weitreichend und zweifelsfrei, aber das ist auch nicht der Punkt, denn es geht nicht bloß ums gute Gewissen, sondern um eine ernsthafte Reflexion über das eigene Verhalten. Was und wie weit man seinen Alltag dann verändert, ist überhaupt erst der zweite Schritt nach dem ersten. Spieglein, Spieglein an der Wand, was tue ich und was könnte ich tun, wollte ich besser leben, steht ganz am Anfang und ist mein bescheidenes Artikel-Ziel. Denn nur, wer sich der Möglichkeit von mentalen Misstönen, der besagten „Kognitiven Dissonanz“, öffnet, kann sich selbst überzeugen oder von anderen überzeugt werden. Überreden also, bloßes Erlassen und Verordnen zumal, mag manchem als Mittel demokratisch-liberaler Politik erscheinen, ich jedoch begnüge mich mit diesem Diskursangebot und vertraue den Rest Euch selbst an. Ob daraufhin persönliche Klugheit, kalkulierendes Selbstinteresse, Moralität und was dergleichen mehr ist, letztendlich nur zu Denk- oder gar zu Verhaltensänderung führen, bleibt jedem Selbst überlassen. Wir Westler leben, (fast) wie wir wollen und können wählen – glücklicherweise!

Hoffen und Handlen darf und werde ich. Jedenfalls mir gefiel das Bild nicht, das ich zu sehen bekam, als ich mich zuerst vor den Spiegel stellte, um mich selbstkritisch zu betrachten. Und es geht mir weiterhin noch so, wenn auch nur (noch) relativ, verbrauche ich doch angeblich derzeit nur 1.1 Erden pro Jahr und werde erst ab dem 29.11.2018 zum Täter. Dass meine Opfer namen-, ort- und zeitlos sind, macht die Tat zwar leichter und bequemer, ändert aber nichts an meinem Spiegelbild und bringt die existenzielle Kakophonie zwischen meinen Ohren nicht zum Verstummen. Vielleicht sollte ich alternativ ganz laut „Fake News!“ schreien, mich konsumierend Zestreuen oder schlicht und einfach ganz und gar Betäuben? Eher nicht, wenn ich mir die Tendenz anschaue und eine Prognose auch nur vage vorstelle:

Euer immer-ambivalenter Adept zwischen Gut- und Schlechtmenschentum, Satorius

Russels Gute-Nacht-Geschichte: Mit vier Stunden ins Glück

Wenn auf Erden niemand mehr gezwungen wäre, mehr als vier Stunden täglich zu arbeiten, würde jeder Wissbegierige seinen wissenschaftlichen Neigungen nachgehen können und jeder Maler könnte malen, ohne dabei zu verhungern, und wenn seine Bilder noch so gut wären. Junge Schriftsteller brauchten nicht durch sensationelle Reißer auf sich aufmerksam zu machen, um wirtschaftlich so unabhängig zu werden, dass sie die monumentalen Werke schaffen können, für die sie heute, wenn sie so weit gekommen sind, gar keinen Sinn und keine Kraft mehr haben. Menschen, die sich als Fachleute für eine besondere wirtschafts- oder staatspolitische Phase interessieren, werden ihre Ideen entwickeln können, ohne dabei im luftleeren akademischen Raum zu schweben, was der Arbeit der Volkswirtschaftler an den Universitäten so häufig einen wirklichkeitsfremden Anstrich gibt. Die Ärzte werden Zeit haben, sich mit den Fortschritten auf medizinischem Gebiet vertraut zu machen, die Lehrer werden sich nicht mehr erbittert bemühen müssen, mit routinemäßigen Methoden Dinge zu lehren, die sie in ihrer Jugend gelernt und die sich in der Zwischenzeit vielleicht als falsch erwiesen haben.

 

Vor allem aber wird es wieder Glück und Lebensfreude geben, statt der nervösen Gereiztheit, Übermüdung und schlechten Verdauung. Man wird genug arbeiten, um die Muse genießen zu können, und doch nicht bis zur Erschöpfung arbeiten müssen. Wenn die Menschen nicht mehr müde in ihre Freizeit hineingehen, dann wird es sie auch bald nicht mehr nach passiver und geistloser Unterhaltung verlangen.

 

Bertrand Russell (1872 – 1970), Lob des Müßiggangs, S.30f (1957)


All human activity is prompted by desire.

[…]

The desires that are politically important may be divided into a primary and a secondary group. In the primary group come the necessities of life: food and shelter and clothing.

[…]

But other desires kept them [@Satorius: „the humans“ as a spices are driven by those „infinite“, secondary desires, and are moreover led by passions like excitement, hate and fear] active: four in particular, which we can label acquisitiveness, rivalry, vanity, and love of power.

[…]

I think every big town should contain artificial waterfalls that people could descend in very fragile canoes, and they should contain bathing pools full of mechanical sharks. Any person found advocating a preventive war should be condemned to two hours a day with these ingenious monsters. More seriously, pains should be taken to provide constructive outlets for the love of excitement. Nothing in the world is more exciting than a moment of sudden discovery or invention, and many more people are capable of experiencing such moments than is sometimes thought.

 

Interwoven with many other political motives are two closely related passions to which human beings are regrettably prone: I mean fear and hate.

[…]

You might regard Mother Nature in general as your enemy, and envisage human life as a struggle to get the better of Mother Nature. If men viewed life in this way, cooperation of the whole human race would become easy. But schools are out to teach patriotism; newspapers are out to stir up excitement; and politicians are out to get re-elected. None of the three, therefore, can do anything towards saving the human race from reciprocal suicide.

[…]

You may have been feeling that I have allowed only for bad motives, or, at best, such as are ethically neutral. I am afraid they are, as a rule, more powerful than more altruistic motives, but I do not deny that altruistic motives exist, and may, on occasion, be effective.

[…]

I would say, in conclusion, that if what I have said is right, the main thing needed to make the world happy is intelligence. And this, after all, is an optimistic conclusion, because intelligence is a thing that can be fostered by known methods of education.

 

Bertrand Russell (1872 – 1970), Nobel Lecture – What Desires Are Politically Important? (Stockholm: 11.12.1950; Link zum Volltext)



Hört, hört – gut gebrüllt Herr Philosoph!

Diesen beiden klaren wie bissigen Analysen eines weisen wie spöttischen Mannes möchte ich sofort schlicht und unkritisch zustimmen. Das aber scheitert ebenso rasch und so frage ich mich unweigerlich, beinahe noch reflexartig: Ja, aber…?! Warum kann etwas so Offensichtliches so offen und unverblümt ignoriert werden? Wie kann man, können wir als arbeitende Bürger, also zugleich als potentielles Opfer und potentieller Überwinder, derart demütig einen zivilisatorischen Zustand erdulden oder zumindest versiert verdrängen, vielleicht sogar selbstverleugnend gutheißen? Ist nicht die Wirklichkeit unserer (wirtschaftlichen) Welt weit komplexer, nicht so simpel zu abstrahieren und zu kritisieren, die Lösung damit doch nicht so trivial – 4 Stunden? Oder vielleicht – flüstert ungefragt die zischende Stimme des fatalistischen Verschwörungstheoretikers suggestiv fragend aus den dunklen Regionen des Großhirns – sind SIE so mächtig, kompetent und effizient, dass diese zählbaren Wenigen leichterhand die unzähligen Vielen manipulieren und letztlich kontrollieren können?

Stop! – genug wild und gefährlich gefragt und überhaupt: SIE?! Zudem kann jede echte Antwort, insbesondere eine, die als gelebte Konsequenz nicht weniger als echten Mut darstellt, mit spitzfindigen bis stumpfen Fragenkaskaden aus dem existenziellen Off heraus besudelt werden. Dabei steckt in Russells zwei ausdrücklichen Antworten politisches Potential für unsere (zukünftige) Zeit, zeugen seine beiden betrachteten Texte zudem zugleich von Klar-, Weit- und Hellsicht. Er beschreibt geradezu prophetisch die Tendenzen, die den persönlichen Alltag vermutlich vieler und die politische Praxis sicherlich fast aller Bürger in (kapitalistischen Post-)Demokratien auch im 21. Jahrhundert noch immer prägen: Multiple Vertrauenskrise, insbesondere gegenüber Politiker, Journalist, Lehrer und Wissenschaftler (Priester sind immerhin raus; Bänker/Manager bisweilen drin; aber man ist ja so vergesslich dieser Tage), die Liebe zur Macht, heftige Ökonomisierung, Rivalität, (Selbst-)Ausbeutung, Entfremdung, Habgier, Zerstreuung(s-Sucht), Furcht (nunmehr vor Terrorismus und etwas weniger vor verfeindeten Ideologien) sowie Hass und Eitelkeit. Diesem durchaus biblisch klingenden Heer aus Dämonen gesellen sich einige für Russell notwendig unbekannte Bonus-Monster (bspw. Populismus und Renationalisierung, Klimawandel und Ressourcenpeaks, Globalisierung und Konsumismus) hinzu und gemeinsam trotzt das Pack den bereits erkämpften zivilisatorischen Errungenschaften; vereint attackieren diese Teufel all die unschätzbar wertvollen Annehmlichkeiten unserer Lebenswelt, von denen regulierte Arbeit, politische Teilhabe, Kultur und Kommunikation sowie weitreichende Selbstbestimmung und (innere wie äußere) Sicherheit nur die im Zitat thematischen Güter einer langen Liste an historischen Errungenschaft sind.

Aber vor allem untersucht Bertrand Russell in seiner Rede und in seinem Werk auf einer breiten Basis von (Geistes-)Wissenschaften (Psychologie, Soziologie, Politik und Pädagogik, meine ich gewittert zu haben, wobei Mathematik, Philosophie und Logik sicher unterstützen) die positiven Möglichkeiten, der dunklen Seite der Geschichte entgegenzuwirken, ist also tatsächlich mutig und wagt den politischen Entwurf: In der Tradition von Humanismus und Aufklärung stehend und vom Sozialismus verführt, psychologisiert Russell zunächst wie gelesen und kommt dabei letztlich zu dem Schluss, dass Erziehung und Bildung sowie eine daraufhin ausgerichtete Neuorientierung von Schule, (medialer) Öffentlichkeit und Politik den weiteren Weg der (Post-)Moderne anleiten sollen.

Dass dabei die Ökonomie bestenfalls zweitrangig ist und somit im Bruch mit Marx eine ökonomische Politik angenommen wird, werte ich mal als inhaltlichen Kompromiss zwischen Idealismus und Pragmatismus; zumal die Folgerungen ähnlich, wenn auch gewaltloser ausfallen als noch bei Marx: Reform vs. Revolution – der ewige Zwist. Wie dem auch sei, auch in einer Welt des Diktats durch Kapitalien bleibt Bezugspunkt jeder konkreten Utopie notwendig der Mensch, mithin also das Dilemma von Menschheit und Mensch, Kollektiv und Individuum, Phylogenese und Ontogenese. In diesem Hinblick sieht Russell den Fortgang der Menschheit dann gewährleistet, wenn die Entwicklung des Menschen durch Erziehung und Sozialisation über (Schul-)Bildung hin zu adulter Autonomie führt und schließlich im (utopischen) Ziel der Russellschen Argumentation kulminiert: Intelligenz!

Ergo setzt er mit seiner Strategie dort an, wo ernstliche Widerstände der hurtigen Herausbildung von Intelligenz im Wege stehen und fordert deshalb, den (beruflichen) Alltag so umzugestalten, dass wir allesamt wieder Lust an intrinsisch motivierter Selbstvervollkommnung bekommen, überhaupt nur wieder bekommen können. Denn nur wer lustvoll lernt statt kunstvoll zu konsumieren oder angestrengend zu arbeiten, schult seine Intelligenz – kontinuierliches Denken macht halt (leider) einzig klug. Indem wir höchst hypothetisch mit nur noch vier Stunden entschieden weniger arbeiten und damit mehr Freizeit haben, kann ein jeder diesseits und jenseits von Schulen und Universitäten seine Talente entdecken und entwickeln – spielerisch, ohne Hast, Druck und Stress. In Teilzeit, satt und zufrieden wird der befreite Mensch auch nicht mehr so sehr vom Bedürfnis nach Rausch und Zerstreuung geplagt – so zumindest Russell, wohingegen ich da anderer Ansicht bin.

Eingerahmt und bewirkt wird die simple Maßnahme, die Arbeitszeit generell auf vier (oder weniger) Stunden zu begrenzen, was wohl nicht nur zufällig mit den von Marx seinerzeit errechneten vier Stunden an notwendiger Arbeit gepaart wurde, von einer ganz besonderen Politik. Denn die von Russell präferierten Maßnahmen und Konzepte erzeugen bei mir eine recht kunterbunte Liste an Attributen: Humanistisch, aufklärerischen, sozialistischen, liberal, demokratisch, Politik und einem sicherheitspolitischen Geflecht aus Institutionen, deren Wirken den analysierten (Grund-)Bedürfnissen, Motiven und Leidenschaften des Mängel- und Gängelwesens Mensch Rechnung trägt. Heißt so viel wie: Wir verkappten Jäger können uns austoben, Sex haben, kämpfen, tanzen und was wir sonst so wollen, wobei uns gemäß Russell Wissenschaft und Technik schon effektiv weiterhelfen und gewähren dem Naturwesen qua sozial reibungsfreiem Triebleben sozialen und globalen Frieden.

All diese Schritte führen laut Russell letztlich beim befriedigten sowie hochgebildeten Individuum zu einer erwarteten Einsicht, die übrigens seinerzeit zu seinem Leidwesen von den sog. Moralisten als eigennützig („selfish“) gebrandmarkt wurde, dass es rational betrachtet am vernünftigsten ist, jenseits von partiellen Gruppendynamiken immer auf die größtmögliche Gruppe und sein Handeln auf ihre Interessen auszurichten. Denke also nicht an deinen kleinen Klan, sondern an die ganze Gattung und ihre Probleme, was konkret bedeutet: die Menschheit und insbesondere ihren globalen Kampf mit der Natur. Dieser gemeinsame Kampf, Kooperation insgesamt speist sich ihrerseits aus positiven, im Text nur relativ kurz angesprochenen Aspekten psychologischer Anthropologie: Altruismus, Mitleid und die zentrale Intelligenz. Wenn die Menschen also nur glücklich sind, alle Bedürfnisse von Staat und Wirtschaft befriedigt werden und ihrem naturgegeben Schatten politisch Rechnung getragen wird, dann herrschen Solidarität, Kooperation, Frieden und bringen Arbeit, Kultur, Wissenschaft zum erblühen. Am Ende der hier höchstens angedeuteten Utopielogik steht dann ein ideales „Parlament der gebildeten Egoisten“, das die Welt der Menschheit im allgemeinen und den Menschen, also sich selbst, im besonderen verwaltet und regiert. Diese demokratische bis republikanische Herrschaftsform steht unter einer angenommen, aber unangenehm unklaren, irgendwie monistisch imaginierten Perspektive von Gemeinwohl und vervollkommnet die Geschichte auf europäische Art – well done, Bingo, et voilà!

Utilitarismus und Liberalismus, Demokratie und Sozialismus mal eben szientifisch grundiert und flux vereint, schön harmonisch konvergiert, fast ohne alle die Dialektiken und Widersprüche. Das funktioniert so leicht, weil nämlich das Naturwesen Mensch technologisch und bildnerisch absolut in sich versöhnt wird und sich selbstbestimmt wie sozialverträglich perfektioniert. Der Rest ist unsere Geschichte geworden und von heutiger Warte hat sich einiges positiv in Richtung der Russellschen Ideale entwickelt; ebenso sind aber einige seiner dystopischen Negationen weiterhin wahr und überdies selbstverständlich auch vieles Singuläres, Unerwartetes passiert. Netterweise will ich hiermit nur grob zusammenfassend und vage angedeutet Kritik an der Russellschen Position üben, die in Hinblick auf ihren naiven Positivismus, ihre Vagheit (ist womöglich dem Medium geschuldet), die massiver Unterschätzung von Ökonomie und der (für ihn unvorhersehbar sogar digital und viral gewordenen) Kapital-Globalisierung einige offene Flanken böte.

Zurück also zum Positiven, nunmehr zu den Gelegenheiten der Gegenwart, denn wie eingangs betont, stimme ich der Tendenz nach Russells zu: Bestmögliche Bildung macht notwendig den Anfang und der Rest kommt dann später schon ganz von selbst. Wohlwissen um die chronologische Paradoxie von Henne und Ei und eingedenk der idealistischen General-Abstraktion finde ich hierbei insbesondere eine Idee persönlich sehr reizvoll, nämlich Alltag und Beruf so auszurichten, dass diese den eigenen Bedürfnissen und Fähigkeiten sowie deren steter Befriedigung und Entwicklung dienen. Einen solchen zivilisatorischen Luxus können sich heutzutage viele von uns durchaus eher gönnen als zu Russells Lebzeit.

Dennoch, selbst ein verhaltenes Dankeschön in Richtung unserer global betrachtet recht eigennützigen Version von liberalem Kapitalismus kommt mir im Angesicht der globalen Zustände nicht so recht über die Finger in die Tasten auf den Schirm. So stehen wir mit unserer post-industriell avancierten Digitalwirtschaft wohl, wenn zugegeben weltweit auch nur punktuell, national bis regional, historisch an dem bedeutsamen Punkt, an dem vielleicht erstmals in der Weltgeschichte ein unfassbares Ausmaß menschlichen Potentials fern von reproduktiven und damit repetitiven Tätigkeiten freigesetzt worden ist und (~exponentiell) zunehmend noch freigesetzte werden wird. Automatisierung und Produktivitätssteigerung machen die Menschen frei zu gehobener Arbeit, befähigen ihn zu allerlei kulturellen und intellektuellen Aktivitäten. Diese Transformation spüren wir heute umso stärker, was wohl auch keiner der viele Verwalter, Künstler, Forscher, Lehrer, und Coaches anzweifeln; all die geistig dienstleistenden Arbeitnehmer, lange geschult und breit gebildet, bringen täglich ihre Intelligenz auf Touren und damit in die Gesellschaft. Die Tertiarisierung der Wirtschaft sollte ein unbestreitbarer Beleg für die Existenz einer avancierten (Wissens-)Wirtschaft und damit das Vorliegen einer wichtigen Prämisse von Russells utopischer Argumentation sein, wie eine Vollendung von Industrie und Technologie auch bei Marx‘ und vielen anderen zur utopischen Pforte stilisiert wird.

Diesem Trend entspricht im Bereich der (Aus-)Bildung, eine immer höhere weltweite Alphabetisierung und sukzessive Akademisierung der Bevölkerung. Wissenschaft und Forschung, inklusive der angeschlossenen angewandten Technologie (Heckler & Koch, Google, JPMorgen Chase und kapitalistische Konsorten), erzielen in jeder Hinsicht heftigste Wachstumsraten und repräsentieren damit gegenüber klassischeren Wertquellen wie Kraft, Geschicklichkeit und Rhetorik einen überproportional großen Anteil der globalen Wertschöpfung. Exponentiell gedacht, wird es zukünftig zunehmend rascher vorangehen in dieser Richtung. Roboter und künstliche Intelligenzen entfesseln und potenzieren nunmehr nicht mehr nur in der Fantasie die menschliche Arbeitskraft; wovon Generationen in ihren Büchern und später Filmen träumten, umgibt uns wie selbstverständlich im Alltag und gibt uns historisch gesehen an Magie grenzende Fähigkeiten. Aber nicht nur das, auch die Basis stimmt, denn dank Arbeitsteilung und Produktivitätssteigerung werden potentiell genug Lebensmittel hergestellt, dass niemand mehr Hunger leiden müsste. Aktuell kann ich den nötigen altruistischen Willen und alles zu dessen Verwirklichung nötige, wie eine ideale Logistik, den notwendigen radikalen Technologie- und Kapitaltransfer, die Befriedung sozialer wie militärischer Konflikte sowie eine Heilung psychischer wie physischer Krankheiten, nur hier in meinem Text und auch nur für wenige Zeilen voraussetzten. Deswegen begnüge ich mich mit dem faktischen und verlasse das fiktionale: Subsistenz-Arbeit bindet nur noch einen Bruchteil der Arbeitleistung und in unseren Breiten ist die Versorgung mit Lebensmittel so gut, wie es sich Russell nur hätte wünschen können.

Wobei ich den moralischen Gedankenabschluss nicht unterdrücken kann, dass Marketing und weitere professionelle Verwerflichkeiten die Menschen zur guten alten Völlerei verleiten: Erst der Flatrate-Fressflash bei McDonalds oder beim x-ten all-you-can-eat/all-inclusive Ereignis, dann die Gegenmaßnahmen wie Magenschlingen, Diätpillen, dazu passende Diät-Programme, Light-Produkte (man beachte die womöglich systematisch bedingte hohe Anglizismen-Quote) und einige der neusten Ess-Ideologien. Solcherart pervertiert könnte das Subsistenz-Ideal kippen und in ein Dekadenz-Real stürzen. Dennoch will ich meine Russellsche Utopielaune nicht trüben und positiv mit seiner liebenswerten Position umgehen.

Kulturbudgets und die Quantität an kreativen Erzeugnissen, um noch eine weiter erfreuliche Facette kurz und zuletzt zu schneiden, erzielen seit Jahrzehnten riesige absolute wie relative Zuwächse und haben dabei hohe Wachstumsraten, wenn sie auch nicht vergleichbar zu den hartexponentiellen Raten von (Digital-)Wirtschaft und Wissenschaft sein dürften. Die Qualität der Produkte in Kunst und Kultur bleibt, grobschlächtig und unparteiisch gedacht, ebenso außen vor wie die schlechterdings freche und damit unzulässige Frage, ob das bisher entwickelte objektive Fakten oder subjektive Fiktionen sind.

„Eigentlich würde ich ja gerne mal A (Yoga machen) oder B (Arabisch & Französisch lernen), aber mit meinem (Vollzeit-)Job, der Familie und meinen Steckenpferden: X (Vivarium),Y (Fahrrad) und Z (Lesen/Schreiben) bin ich voll ausgelastet. Das kostet mir leider zuviel, vor allem zuviel von meiner Lebenszeit!“, ist ein sicherlich nicht ganz und gar ungewohnter Gedanken. Für alle, die mit ihm sympathisieren, klingt der Slogan Russels (und meine notwendige Ergänzung) sicher gut an: „Nur 4 Stunden Arbeit (und das bei vollem Lohnausgleich)!“ Voller Nutzen, wenig Kosten bringen den homo oeconomicus in uns zum Jubeln. Denn der Mangel sitzt ihm immer im Nacken, treibt ihn vor sich hin und kerkert ihn ein. Da sitzt er nun in seinem dunklen kleinen Kabinett und zählt und kalkuliert und eruiert. Dabei scheut er je nach Temperament mehr oder weniger die Investition von Energie, Geld und Zeit. Solcherart limitiert erwirbt sich der gediegene Haushälter des Lebens kaum neues Inventar für sein Oberstübchen, zumal er ohne ein ordentliches extrinsisches Motiv in einer grauen und leidenschaftslosen Welt schon mal garnicht darüber nachdenkt loszulegen. Da zerstreut er sich doch lieber wie gewöhnlich und konsumiert unterdessen brav allerlei Produkte; dafür hat er ja immerhin 8+ geschuftet, damit er es sich so richtig gut gehen lassen kann!

Polemisch bis in die Satzzeichen, zugegeben, aber der argumentative Kern bleibt klar und plausibel: Solange die öffentlich-private Doublette aus Konsumismus und Erwerbsarbeit, katalysiert durch Unmengen an freiem Kapital und ausgestattet mit den nötigen Produktionsmitteln, einen Gutteil der Bevölkerung in Schach halten darf, herrscht gemäß Russell politischer Handlungsbedarf. Das ist definitiv der Fall, in welchem Maße mag ich nicht quantifizieren, qualifizieren kann ich es hingegen ausreichend. Der Lohndruck lockt und lethargiert zugleich. Was also tun?

Aller Voraussicht zum Trotz bleibt ein wichtiger Faktor in Russells Gleichung außerhalb seines Definitionsbereichs und der Wert der Gleichung stimmt deshalb vielleicht derzeit in seinem prognostizierten Betrag, von Intelligenz, Arbeitskraft, Kreativität und dergleichen mehr, nicht jedoch im erwarteten Vorzeichen; obwohl er doch durch Marx sensibilisiert gewesen sein dürfe, unterschätzen die Texte (Ironie mal ignoriert) die strukturelle und damit überindividuelle Kraft des Kapitals. Zumal es im digitalen Zeitalter mächtige Alliierte, eine zusätzlich künstliche Dimension und Repräsentanz in Hard-, Soft- und Wetware erhalten hat. Die Myriaden an Maschinen und Millionen von Programme dienen dabei deterministisch, einflussreiche bis gewöhnliche Mensch aus fraglicheren Gründen. Hier jedenfalls verfängt das Bildungsideal als Lösungsstrategie nicht, denn das Kapital absorbiert alles hocheffizient, setzt dabei aus Widerständen und Spannungen sogar Energie frei, die es kurzerhand kommerzialisiert. Bedenkt man zudem noch das institutionelle Gerippe, das sich der Kapitalismus gleich einem schützenden Exoskelett zu- und angelegt hat und attestiert überdies, dass Bildung zunehmend warenförmiger und berufsbezogener wird, könnte man rebellisch werden. Vollbeschäftigungsdogmatik, Wettbewerbsideologie, Wachstumslogik, Leistungslust und Exportüberschüsse tun ihr übriges und schon war Russells Traum eine Geschichte unter vielen und alles andere als Geschichte, vergangen, verflogen, dahin.

Eine entscheidende Frage ist und bleibt schlussendlich unbeantwortet: Wie beginnen und sodann den Übergang gestalten? Solange Bildung nicht notwendig und hinreichend zu multipler, insbesondere emotionaler Intelligenz einer kritischen Masse an poltischen Akteuren führt, heilt und versöhnt sie gleichsam keineswegs. Bei seinem idealistischen Wahlprogramm, angenommen es würde denn überhaupt ernstgenommen und glaubhaft gegenfinanziert, würden wohl viele Menschen Russels Partei für neue, gerechtere Lebenspraxis in das UN-Parlament entsenden, wenn es sie denn beide eines Tages gäbe und man dann nicht gerade besseres, spannenderes und schöneres zu tun hätte. Bevor ich jetzt also der Verführung erliege, zu resignieren oder zu theoretisieren, also nicht mehr nur einem verblichenen Utopiker möglichst nett zu huldigen und seine Aktualität abzuklopfen, sondern womöglich noch missmutig oder übermütig beginne, zu verunglimpfen und zu schimpfen, gar eigene Utopien zu entwickeln, mich somit zwischen Reform und Revolution entscheiden müsste – lass ich es lieber und überlasse die Geschichte(n) sich selbst!

In neuer, ungeahnter Schreibwut, Euer Satorius

 

Ambivalenzen von Wort und Mensch

Es gibt zwei Arten von Propaganda – vernünftige Propaganda für Handlungen, welche mit dem aufgeklärten Eigennutz derjenigen, die sie machen, und derjenigen, an die sie gerichtet ist, übereinstimmen, und unvernünftige Propaganda, welche mit niemands aufgeklärtem Eigennutz übereinstimmt, sondern von Leidenschaften, blinden Regungen, unbewussten Begierden oder Befürchtungen diktiert wird und sich an alle diese wendet. Wo es sich um die Handlungen von Individuen dreht, gibt es höhere Beweggründe als aufgeklärten Eigennutz. Wo aber auf den Gebieten der Politik und Wirtschaft kollektiv gehandelt werden muss, ist aufgeklärtes Selbstinteresse wahrscheinlich der höchste aller wirksamen Beweggründe. Wenn Politiker und ihre Wähler immer so handelten, dass sie auf lange Sicht ihr oder ihres Landes Interesse förderten, wäre unsre Welt das Paradies auf Erden. Tatsächlich aber handeln sie oft gegen ihr eigenes Interesse, bloß um ihren am wenigsten rühmlichen Leidenschaften zu frönen; folglich ist die Welt eine Stätte des Elends. Propaganda für solche Handlungen, die sich mit aufgeklärtem Eigennutz vertragen, wendet sich an die Vernunft mittels logischer Argumente, welche auf das beste verfügbare, voll und ehrlich dargelegte Beweismaterial gegründet sind. Propaganda für solche Handlungen, die von niedrigeren Impulsen als aufgeklärtem Eigennutz diktiert sind, bietet falsches, verfälschtes oder unvollständiges Beweismaterial, meidet logische Argumente und sucht ihre Opfer durch bloße Wiederholung von Schlagworten zu beeinflussen, durch wütende Anprangerung fremder oder heimischer Sündenböcke und durch listige Verquickung der niedrigsten Leidenschaften mit den höchsten Idealen, so dass Gräuel im Namen Gottes verübt werden und die zynischste Art von Realpolitik zu einer Sache religiöser Grundsätze und patriotischer Pflicht wird.

 

Mit John Deweys Worten: »Eine Erneuerung des Glaubens an die gemeinsame menschliche Natur und ihre Möglichkeiten im allgemeinen und an ihre Fähigkeit, auf Vernunft und Wahrheit anzusprechen im besonderen, ist ein sichereres Bollwerk gegen Totalitarismus, als eine Schaustellung materiellen Erfolgs oder eine devote Verehrung besonderer rechtlicher und politischer Formen.« Die Fähigkeit, auf Vernunft und Wahrheit anzusprechen, ist in uns allen vorhanden. Vorhanden ist aber leider auch der Hang, auf Unvernunft und Unwahrheit anzusprechen – besonders in denjenigen Fällen, in denen die Unwahrheit ein Lustgefühl hervorruft oder der Appell an die Unvernunft eine antwortende Saite in den primitiven, untermenschlichen Tiefen unsres Wesens zum Erklingen bringt.

 

Aldous Huxley (1894 – 1963), Dreißig Jahre danach oder Wiedersehen mit der „Wackeren neuen Welt“, S. 21f. (1960)

16 Jahre danach oder Rückkehr zur verehrtesten Schullektüre

Des Witzes Seele kann zur leibhaftigen Unwahrheit werden. So elegant und einprägsam
Kürze auch sein mag, kann sie naturgemäß nie allen Tatsachen eines vielfältigen
Sachverhalts gerecht werden. Über einen solchen vermag man sich nur mittels Weglassens
und Vereinfachens kurz zu fassen. Weglassungen und Vereinfachungen helfen uns,
zu verstehen – aber in vielen Fällen das Falsche; denn was wir erfassen, sind vielleicht
nur die säuberlich formulierten Vorstellungen des Vereinfachers, nicht die ungeheure,
vielverzweigte Wirklichkeit, von der diese Vorstellungen ein so willkürlicher Auszug
sind.

 

Aldous Huxley (1894 – 1963), Dreißig Jahre danach oder Wiedersehen mit der „Wackeren neuen Welt“, S. 3 (Vorwort; 1960)