Fiktionale Kleinode

Lyrische Rück- und Innenschau

Schweigsamkeit und Trägheit im Schlechten, Vaterschaft und Unternehmertum im Guten halten mich derweil offensichtlich davon ab, Quanzland im Besonderen wie dem Schreiben im Allgemeinen Zeit zu widmen. Trotzdem finde ich, nein, nehme ich mir weiterhin die Zeit – raube sie vornehmlich meinem Schalf -, um insbesondere seriesastische und bellestristische Streifzüge zu unternehmen. Was ich dabei jedoch so alles entdecke, genieße ich nunmehr vornehmlich im Stillen.

Dennoch gibt es Ausnahmen, fühle ich mich bisweilen berufen, je und je – wie der werte verehrte Autor sich auszudrücken pflegte – aufgerufen, meine Erfahrungen mitzuteilen also hier und heute farbenfroh mit Euch zu teilen.

Die aktuelle Lektüre eines Meisterwerks von einem Meister seiner Zunft lies mich soeben auf ein lyrisches Tripel stoßen, das mich zutiefst bezaubert hat; womöglich weil ich mich davon betroffen geradezu angesprochen fühle. Ob Zufall oder Schicksal sei dahingestellt, doch die drei Gedichte und insgesamt die Lebensbeschreibung des Magister Ludi Josef Knecht zwingen mich zur Reflexion über meinen eigenen Werdegang, allem voran die Dekade von 20 bis 30, die ich in der pädagogischen Provinz von Philosophie, Psychologie und Politikwissenschaft verbracht habe.

Mittlerweile als Lehrer, also buchstäblicher Magister, in die nächste Stufe emporgestiegen, gereift und gealtert, entdecke ich zugleich mit Freude und Genugtuung die neuen Gestaltungsmöglichkeiten eines zwischenzeitlich ebenfalls gereiften Editors und kann nicht umhin, Euch experimentell mit den neuen Freiheiten der Formatierung zu belästigen.

Im Schwange der Mitteilungslust und mit dem Schwung mitternächtlicher Musen grüßt, Euer Satorius


Klage

Uns ist kein Sein vergönnt. Wir sind nur Strom,
Wir fließen willig allen Formen ein:
Dem Tag, der Nacht, der Höhle und dem Dom,
Wir gehn hindurch, uns treibt der Durst nach Sein.

So füllen Form um Form wir ohne Rast,
Und keine wird zur Heimat uns, zum Glück, zur Not,
Stets sind wir unterwegs, stets sind wir Gast,
Uns ruft nicht Feld noch Pflug, uns wächst kein Brot.

Wir wissen nicht, wie Gott es mit uns meint,
Er spielt mit uns, dem Ton in seiner Hand,
Der stumm und bildsam ist, nicht lacht noch weint,
Der wohl geknetet wird, doch nie gebrannt.

Einmal zu Stein erstarren! Einmal dauern!
Danach ist unsre Sehnsucht ewig rege,
Und bleibt doch ewig nur ein banges Schauern,
Und wird doch nie zur Rast auf unsrem Wege.
Entgegenkommen

Die ewig Unentwegten und Naiven
Ertragen freilich unsre Zweifel nicht.
Flach sei die Welt, erklären sie uns schlicht,
Und Faselei die Sage von den Tiefen.

Denn sollt es wirklich andre Dimensionen
Als die zwei guten, altvertrauten geben,
Wie könnte da ein Mensch noch sicher wohnen,
Wie könnte da ein Mensch noch sorglos leben?
 
Um also einen Frieden zu erreichen,
So laßt uns eine Dimension denn streichen!
 
Denn sind die Unentwegten wirklich ehrlich,
Und ist das Tiefensehen so gefährlich,
Dann ist die dritte Dimension entbehrlich.
Doch heimlich dürsten wir . . .

Anmutig, geistig, arabeskenzart
Scheint unser Leben sich wie das von Feen
In sanften Tänzen um das Nichts zu drehen,
Dem wir geopfert Sein und Gegenwart.
 
Schönheit der Träume, holde Spielerei,
So hingehaucht, so reinlich abgestimmt,
Tief unter deiner heitern Fläche glimmt
Sehnsucht nach Nacht, nach Blut, nach Barbarei.
 
Im Leeren dreht sich, ohne Zwang und Not,
Frei unser Leben, stets zum Spiel bereit,
Doch heimlich dürsten wir nach Wirklichkeit,
Nach Zeugung und Geburt, nach Leid und Tod.

Hermann Karl Hesse (1877 – 1962), Das Glasperlenspiel (1943)

Wider den Menschen

Patient (Sitting in a circle of a group therapy): I tell myself God has a plan for everyone. Maybe I just haven’t seen it yet.

William Delos: God? God’s fucking plan? Do you believe in Santa Claus, too?

Dr. Lang: All right, William. Do you want to share more of your thoughts with us?

Willam Delos: My thoughts? … Okay. I think … humanity is a thin layer of bacteria on a ball of mud hurtling through the void. I think if there was a god, he would’ve given up on us long ago. He gave us a paradise and we used everything up. We dug up every once of energy and burned it. We consume and excrete, use and destroy. Then we sit here on a neat pile of ashes, having squeezed anything of value out of this planet, and we ask ourselves: „Why are we here?“ You wanna know what I think your purpose is? It’s obvious. You’re here along with the rest of us, to speed the entropic death of this planet. To service the chaos. We’re maggots eating a corpse!

(Woman sobbing)

Patient: What the fuck is wrong with you?

William Delos (Chuckling first, then laughting out. Fade out …)

William Delos (Eward Allen Harris), in: Decoherence Westworld (Staffel 3, Episode 6, 6:09 – 8:00)


https://www.youtube.com/watch?v=N3xjGxqKpwM

Spieglein, Spieglein in meiner Hand, wer ist die schlechteste Gattung im ganzen Land? Die Wespen, die Tauben, die Ratten, vielleicht die Mücken, wären hierzu wohl die meistgenannten Antworten, wenn man „100 Leute auf der Straße fragte“, wie es dereinst bei Ruckzuck immer so schön hieß. Bei der Frage nach der besten Spezies wäre im Gegenzug wohl der Mensch unangefochten auf Platz 1, gefolgt von unseren liebsten Haustiere Hund und Katz oder Kandidaten wie Bienen, Delphine oder Pferde. Nach Kriterien für diese Einstufung zu fragen, erspare ich mir und Euch mal gediegen, denn so sachlich bin ich heute einfach nicht aufgelegt.

So sind wir biblisch gesprochen doch Gottes Ebenbilder, die Krone der Schöpfung gar, und deshalb berufen, über die Schöpfung zu wachen. Zugleich sind wir aber auch übermäßig neugierig, ungehorsam, selbstgefällig und solcherart (erb-)sündig, sodass wir kurzhand aus dem Paradies verbannt und auf den Planeten gesetzt wurden. Andere Religionen sind da ebenso ambivalent und trauen uns alles im Spektrum von „heilig“ bis „verdorben“ zu. Anthropologie und Philosophie, Psychologie und Soziologie, Geschichts- und Poltikwissenschaft differenzieren die Menschheit gleichmaßen schonungslos, ob bloß empirisch oder sogar normativ. Die Bilanz bleibt wenigstens durchwachsen, fällt bisweilen tendenziell doch eher pessimistisch aus.

Und trotzdem möchte ich, wie eingangs bereits behauptet, spekulieren, mögen sich die meisten selbst recht gerne, halten unsere Gattung für gut, fortschrittlich, zivilisiert und dergleichen mehr. All diesen Menschen halte ich die obigen Quellen entgegen, fordere sie auf bar jeder Illusion und ohne Euphemismen mit sich und uns ins Gericht zu gehen. Sind wir wirklich gut im breiten Sinne dieses diffusen Wortes?

Mit selbstkritischem Gruße, Euer Satorius

Ihr könnt schauen, was ihr wollt, aber: Dark

An Freiheit des Menschen im philosophischen Sinne glaube ich keineswegs. Jeder handelt nicht nur unter äußerem Zwang, sondern auch gemäß innerer Notwendigkeit. Schopenhauers Spruch: ´Ein Mensch kann zwar tun, was er will, aber nicht wollen, was er will`, hat mich seit meiner Jugend lebendig erfüllt und ist mir beim Anblick und beim Erleiden der Härten des Lebens immer ein Trost gewesen und eine unerschöpfliche Quelle der Toleranz […]. Nach dem Sinn oder Zweck des eigenen Daseins sowie des Daseins der Geschöpfe überhaupt zu fragen, ist mir von einem objektiven Standpunkt aus stets sinnlos erschienen. Und doch hat andererseits jeder Mensch gewisse Ideale, die ihm richtunggebend sind für das Streben und für das Urteilen.

Albert Einstein (1879 – 1955), Mein Weltbild, S. 416.


Sanfter Trommelwirbel, ein zögerlicher Tusch und verhaltener Applaus tönen durch den digitalen Äther – Quanzlands lebt noch, ich lebe noch:

Urspünglich wollte ich Schopenhauers aphoristischen Ausspruch zur Willensfreiheit zitieren, musste dann jedoch rasch feststellen, dass dieses Zitat bloß vermeintlich von dem verehrten Philosophen stammt, sondern nachweislich eine Verdichtung Albert Einsteins ist, der darin Schopenhauers Philosophem, wenn auch treffend, zusammenfasst.

Soviel als Auftakt – aber warum komme ich überhaupt darauf und was zur Hölle, oder für die Gottlosen unter Euch: was zum Geier, war denn in letzter Zeit bei mir und mit Quanzland los? Klar ist, dass dieser Blog heftig brach lag, während ich mich zeitgleich in einem intellektuellen Ödland herumgetrieben und wenig bis keinen Text hervorgebracht habe.

Offen gestanden kann ich bisweilen nicht einmal tun, was ich will, noch gar vermag ich, zu wollen, was ich will. So weit, so abstrakt – konkret hätte ich in den letzten zwei Jahren hier gerne hunderte von Artikeln platziert und unterdessen mindestens einen Roman und obendrauf ein Dutzend kleinere Textprojekte vorangebracht und abgeschlossen. Aber das Leben hat so seine Eigendynamik(en) und der Wille – hehren Idealen, schönen Utopien und schnöden Vorsätzen zum Trotz – ist und bleibt ein diffuses, unstetes und sonderbares Wesen. Da kann man sich, kann ich mir noch so viel vorstellen, es gibt Bedingungen und Bewegungen unter, außer und über meinem kleinen Ich, die überwältigend und unterminierend sein können; wobei sich mir hierzu die geläufige Metapher vom Ich als Schiffbrüchigem, geklammert an eine winzige Planke inmitten eines endlos scheinenden Ozeans, assoziativ aufdrängt, den dort die Wogen des Meeres bisweilen stürmisch umtoben, der von der schwarzen Tiefe, unermesslich und unergründlich, bedroht wird, ständig in Angst vor dem Unbekannten unter ihm, stets in Furcht vor dem Ertrinken und Verhungern.

Gründe für meinen literarischen Verzicht, gute wie schlechte, gibt es Legion: Vaterschaft, Lust- und Disziplinlosigkeit, Selbstständigkeit, (Zerstreuungs-)Sucht, ein kürzlicher Umzug und eine unbegreiffliche und manchmal unkontrollierbare Werkangst. In der Summe blieb also wenig Zeit und Lust zum Schreiben, gab es viele Hemmnisse und Widerstände.

In einer solchen Situation verfängt der Schopenhauersche Determinismus, tendenziell fatalistisch, reflexiv natürlich optimal, macht er uns doch etwas freier von der Last der utopischen Verantwortung. Einer Verantwortung für all das, was wir irgendwie wollen, irgendwie aber auch nicht, weil wir aus welchen Gründen auch immer nicht dazu kommen, verhindert und gehemmt sind. Ich stelle mir etwas Zukünftiges, moralisch positiv und logisch auch negativ gemeint, vor, will etwas erreichen oder unterlassen, aber dann kommt es anders.

Nun aber genug vom zutiefst persönlichen Hinter- und Untergrund, zurück zur Oberfläche des vermeintlichen Schopenhauer- letztlich aber doch Einstein-Zitats und dessen seriastischen Kontext. Denn immerhin passiv-rezeptiv bleibt für mich Fiktionales, Literatur und Film bzw. vor allem Serie, gewiss zeitlebens wichtig und alltagsprägend. Kurzum, ich habe neuerlich abermals viele nahezu ausnahmslos gute Serien „gebinged“: Utopia, Game of Thrones, Altered Carbon, The Expanse, 100, Twin Peaks, Westworld, The Witcher, Lost in Space, Haus des Geldes, (Fear) The Walking Dead, Black Mirror, um die Wesentlichen und neuesten zu nennen, und eben auch und nicht zuletzt Dark, dessen dritte und zugleich letzte Staffel verheißungsvoll mit unserem einschlägigen Fehlzitat eröffnet wird.

Diese Serie, ihres Zeichens die erste deutsche Netflix-Produktion, hat mich unterdessen besonders gefesselt. Nicht nur, weil sie ein furioser Genremix aus Mystery, Science-Fiction, Horror und Drama, gewürzt mit einer wohldosierten Prise Soap-Opera, ist, sondern weil sie atmopspährisch immens dicht und zumindest bis in die dritte Staffel hinein rezeptive wie intellektuell durchaus anspruchsvoll daherkommt. Bisweilen übertrieben, krud und verworren, schauspielerisch nicht immer grandios, hatte ich dennoch immer den Gesamteindruck einer gelungenen Erzählung. Trotz aller Unwirtlichkeit und Unwirklichkeit bin ich in Winden, dem fiktionalen Ort der Geschehnisse, heimisch geworden, habe mich mit den vielen Figuren, gleich ob Protagonist, Antagonist oder Nebenfigur – eine Differenzierung zumal, die hier höchst brisant bis interessant ausfällt -, angefreundet. Folge für Folge dringt man tiefer ein in die anfangs undurchdringlich scheinende Dunkelheit, enträtselt dabei ein spannendes Mysterium, lernt eine kuriose bis groteske Stadt und ihre dementsprechenden Bewohner kennen, insbesondere die vier zentralen Familie Kahnwald, Nielsen, Tiedemann und Doppler, und verstrickt sich in einen komplexen Plot voller Wendungen, Blendungen, Tief- und Höhepunkten. Was soeben beinahe wie allglattes Marketing klingt, formuliere ich authentisch und taktisch zugleich, denn mehr zum Inhalt zu sagen, wäre töricht und unangemessen, will ich Euch hiermit doch ermuntern, die Serie so zu schauen, wie es meines Erachtens ideal ist: neugierig, naiv und nichtsahnend.

Also nur Mut, denn 26 Folgen in drei Staffeln mit einer durchschnittlichen Spielzeit von einer Stunde pro Folge bleibt greiffbar und erschlagen selbst Serienmuffel nicht durch allzu viel epische Quantität. Ich jedenfalls kann mir gut vorstellen, dass Dark nach Akte X die zweite Serie überhaupt werden könnte, die ich ein zweites Mal schauen werde. Sofern nicht mein Wille und meine Vorstellungen in Zukunft verwirklicht werden und ich stattdessen schreibe, schreibe und noch mehr schreibe. Ich jedenfalls bin gespannt darauf, denn man weiß ja nie genau worauf – komme also, was da will.

Gefangen in der Mitte zwischen Determinismus und Willensfreiheit grüßt, Euer Satorius

Mit Lyrik wider den sog. Winter

Mein literarisches Licht leuchtet weniger als leise, beinahe unhörbar und stumm ist es geworden. Quanzland ruhet sanft im tristen Winterschlaf, auch wenn der aktuelle, sogenannte Winter nicht mehr das ist, was er einstmals gewesen ist. Kühl bisweilen, ja, dann wieder lauwarm, nass und unangenehm, nie aber wirklich winterlich: kalt, starr, weiß, klar und rau.

Über den Rest der großen Welt, die wichtigen Neuigkeiten vom Tage, der Wochen und dem Quartal, allessamt abgeschmackt und lau, weniges tragisch und zumeist theatralisch, gelüstet es mich zu schweigen, dies überhaupt zu sagen, ist beinahe zu viel des Richtigen im Falschen. Also unterlasse ich nunmehr desweiteren melancholische Banalitäten und lasse Lyrik meine Stimmung nachzeichnen und aufhellen.

Schreiblahm grüßt, Euer Satorius


Hart stoßen sich die Wände in den Straßen,

Vorn Licht gezerrt, das auf das Pflaster keucht,

Und Kaffeehäuser schweben im Geleucht

Der Scheiben, hoch gefüllt mit wiehernden Grimassen.

Wir sind nach Süden krank, nach Fernen, Wind,

Nach Wäldern, fremd von ungekühlten Lüsten,

Und Wüstengürteln, die voll Sommer sind,

Nach weißen Meeren, brodelnd an besonnte Küsten.

Wir sind nach Frauen krank, nach Fleisch und Poren,

Es müßten Pantherinnen sein, gefährlich zart,

In einem wild gekochten Fieberland geboren.

Wir sind versehnt nach Reizen unbekannter Art.

Wir sind nach Dingen krank, die wir nicht kennen.

Wir sind sehr jung. Und fiebern noch nach Welt.

Wir leuchten leise. – Doch wir könnten brennen.

Wir suchen immer Wind, der uns zu Flammen schwellt.

Ernst Wilhelm Lotz (1890 – 1914), Hart stoßen sich die Wände in den Straßen (1913)

Don Qu. und die Zauberer

Während ein neues Jahrzehnt angebrochen ist, die Welt sich weiter im Kreise dreht – ich wage nicht zu sagen, ob das Rad der Zeit dabei bergauf oder bergab rollt, uns dem Abgrund näher bringt oder dem Gipfel – blicke ich ein wenig reumütig, ein wenig gleichgültig zurück auf eine Schaffenspause von knapp zwei Monaten. Immerhin, so scheint es aufgrund digitaler Stille, habe ich dadurch wenigstens keinen neugierigen Leser enttäuscht und in Ungeduld ob der angekündigten Fortsetzung der Wochenendlektüren gestürzt – wenn doch: ein motivierender Kommentar ist jederzeit erlaubt. Aber letztlich gilt ungebrochen, dass ich für das Schreiben selbst schreibe und mein Werk vertrauensvoll dem Äther übereigne.

Unterdessen bin ich auf den Fährten großer Literaten unterwegs gewesen und folge ihnen weiterhin; wenn ich auch zunehmend dem Hörbuch verfalle, das sich so viel bequemer in den Alltag integrieren lässt: Zu spülen beispielsweise und währenddem Weltliteratur zu genießen, macht aus einer schnöden Sisyphusarbeit eine erträgliche und einträgliche Zeit. Nach Charles Dickens Geschichte aus zwei Städten, die trotz aller anerkannten Meisterschafft hier in Quanzland wohl keinen Niederschlag mehr haben wird, bin ich nunmehr beim berühmtesten Narren der Literaturgeschichte gelandet: Don Qu. dem wahnwitzigen Hidalgo.

In seiner kritischen Parodie auf die Fantastik von Minne und Rittergeschichten antizipiert Cervantes am Beginn der Moderne durch die Figuren des Don Qujiote (respektive Quixote) und des Sancho Pansa weit mehr als die ambivalente Konkretisierung von wahnhafter Schizophrenie/striktem Idealismus bei Ersterem und tumber Habgier/offenherziger Treue bei Zweitem. Jahrhunderte vor dem Entstehen von Psychatrie und Differenzphilosophie entwirft er in einer literarischen Metaphorik ein originelles Modell menschlicher Subjektivität, das nicht nur zum Schreien komisch sondern auch zum Staunen weise daherkommt. Quasi nebenher dekonstruiert er Formen, Formate und Fabeln menschlicher Welt- und Selbstvergewisserung und er tut das in einer genialen Leichtigkeit und Vieldeutigkeit, die ihresgleichen sucht.

Genug gelobt und (an-)gedeutet, lest selbst und wundert Euch über das illustere Zwiegespräch zwischen Herr und Diener, die bisweilen die Rollen tauschen und dabei beide auf ihre eigene Art prototypisch vor Augen führen, was Ideologie und Idealismus, Wunsch und Wahn zu bewirken, ja, zu bezaubern im Stande sind.

Euer alltagsabsorbierter Gelegenheitsblogger, Satorius


Aber sage mir, Sancho, verwahrst du auch den Helm Mambrins sorgfältig? Ich sah, wie du ihn vom Boden aufhobst, als ihn jener Undankbare zerschmettern wollte und es ihm nicht gelang, woraus man eben die Trefflichkeit seines Metalls ermessen kann.«
Auf dieses antwortete Sancho: »Bei Gott, Herr Ritter von der traurigen Gestalt, alles kann ich nicht ausstehen und in Geduld anhören, was Ihr sagt, und dadurch komme ich manchmal auf den Gedanken, daß alles, was Ihr mir von Ritterschaft vorsprecht und von Königreiche und Kaisertümer gewinnen und Inseln verschenken, und andre Gnaden und Herrlichkeiten auszuteilen, wie es die irrenden Ritter in der Art haben sollen, daß alles das nur Windbeutelei und Lügen sind und alles nur Luftklöße oder Luftschlösser, wie es heißen mag; denn wenn ich Euch sagen höre, daß ein Barbierbecken ein Helm Mambrins sei, und daß Ihr länger als vier Tage in diesem Irrtum beharrt, was soll ich wohl anders denken, als daß dem, der so etwas glaubt und behauptet, im Kopfe etwas losgegangen ist? Das Becken, das voller Beulen ist, habe ich im Beutel hier, bei mir zu Hause will ich’s mir zurechtmachen lassen und mich darin barbieren, wenn Gott mir so gnädig ist, daß ich noch einmal meine Frau und Kinder wiedersehe.«
»Wahrlich, Sancho, bei demselben Gotte, bei dem du vorher geschworen hast«, antwortete Don Quixote, »du hast den allerdümmsten Verstand, den nur jemals noch ein Stallmeister in der ganzen Welt hat oder gehabt hat. Wie ist es möglich, daß du, der du schon so lange in meiner Gesellschaft bist, nicht einsiehst, wie alles, was die irrenden Ritter angeht, nur wie Hirngespinst, Narrheit und Unsinn aussieht und alles verkehrt und wunderlich scheint? Nicht deswegen, weil es sich also befindet, sondern weil immer ein ganzes Regiment von Zauberern hinter uns herläuft, die alle unsere Dinge verändern und verwandeln und sie nach ihrem Gefallen auswechseln, je nachdem sie uns beschützen oder verfolgen, und so scheint, was dir wie ein Barbierbecken aussieht, mir der Helm Mambrins, und ein anderer wird es wieder für etwas anderes ansehen; auch war es eine herrliche Vorsicht des Weisen, der auf meiner Seite ist, es so einzurichten, daß allen das ein Bartbecken scheint, was doch wahrhaftig und in der Tat der Helm Mambrins ist, denn da er von so unermeßlichem Werte ist, würde mich die ganze Welt verfolgen, um ihn nur zu besitzen; da sie ihn aber nur für ein Barbierbecken ansehen, kümmern sie sich nicht sonderlich darum, wie es sich auch bei jenem auswies, der ihn zerbrechen wollte und ihn dann mit Verachtung auf dem Boden liegenließ, wo er ihn wahrlich nicht um alle Welt gelassen hätte, wenn er seine Preislichkeit gekannt. Hebe ihn gut auf, Freund Sancho, denn jetzt brauche ich ihn nicht, sondern ich will im Gegenteile alle diese Waffenstücke ablegen, damit ich so nackt sei, wie ich von Mutterleibe kam, wenn es mir einfällt, in meiner Buße mehr dem Roland als dem Amadis nachzuahmen.«

Miguel de Cervantes Saavedra (1547 – 1616), Leben und Taten des scharfsinnigen Edlen Don Quixote von la Mancha, S. 329f. (1605/15, 1852/53 übersetzt von Ludwig Tieck)

Wochenendlektüren Nr.10 – YY1: S.11-14/~35 [Version 1.2]

Wieder ist eine Woche ins (Quanz-)Land gegangen und ich habe eine neue Portion TSF für die Originale zubereitet. Nachdem ich letzte Woche der Marotte gefrönt habe, meinen eigenen Texten einen interpretatorischen Beipackzettel hinzuzufügen, unterlasse ich das dieses Mal und komme ohne viel Brimborium zum eigentlichen Anlass dieses Artikels: Die nächsten drei Seiten des ersten Kapitels bringen heute gegen Ende den ersten Neuauftritt von Yang mit sich, der nunmehr stilistisch selbstständiger und damit von Yin unterscheidbarer, nämlich bewusstseinsstromlinienförmig umgeschrieben dargestellt wird.

Mit allerbesten Wünschen fürs Lesen und fürs Restwochenende, Euer Satorius


1. Zugang YY – Gor(e)

Trotzdem gibt es einen mehr als kosmetischen Unterschied zwischen den beiden Gruppen: Als Beute haben sie von Anfang an gewusst, was hier gespielt wird, und mussten den letzten Marsch quer durch die tödliche Wildnis schon in der Gewissheit zurücklegen, Eigentum geworden zu sein. Denn sie waren selbstverständlich zuvor schon mit einfachen Implantaten ausgestattet worden und standen seither unter Kontrolle. Mitten durch den Albtraum der Todeszone ging es dann für die neuen Sklaven, hin zu ihren neuen Herren. Die hiesigen Rituale sind nicht nur in dieser Hinsicht ausgewiesen unmenschlich, aber so sieht es die Initiation in Gor Thaunus für Beutemenschen eben vor. Sein Asyl in dieser Stadt und den damit verbundenen Schutz muss man sich zuerst symbolisch verdienen, durch Bereitschaft zum Leiden. Auf diesem ersten Weg im neuen Lebensabschnitt sieht man die rettende Zuflucht beinahe die ganze Strecke über schon in der Ferne liegen, lichterloh strahlen und locken mit ihrem fatal falschen Leuchtturm, dem Thallum Gor. Trotz allem, was zuvor schon passiert sein mochte, sehnt man die Ankunft herbei. Am Ende des Marsches, wenn alles gut gegangen und man es hoffentlich soeben noch im Hellen hierher geschafft hat, ist man regelrecht froh, in seinem zukünftigen Gefängnis angekommen zu sein – pervers, aber wahr. Am Anfang steht der Überfall, mitsamt Gefangennahme und Enteignung, dann die Drohung, mittellos, ohne Waffen und Nahrung, in der Todeszone krepieren zu müssen, nach einer wirkungsvoll langen Bedenkpause zuletzt das ach so großzügige Angebot, kaum eine Wahl zu nennen, und dann der schmerzhafte Eingriff, mit dem die technische Versklavung beginnt: Sicherheit auf Kosten aller Freiheit, unfreies Leben statt sicherem Tod. So ungefähr läuft eine Versklavung in Gor ab, eine ziemlich bittere Angelegenheit. Und nicht nur das, dieses Elend ist nur der einschneidende erste Level eines widerwärtigen Spiels, ist nur der Beginn eines andauerenden Parcours an Überwachung, Disziplinierung, Gehirnwäsche, gelegentlicher Quälerei und alltäglicher Schinderei.

Einzig in dieser Hinsicht geht es also den zunächst noch freiwilligen Flüchtlingen besser, gleich ob sie aus purer Hoffnung oder schierer Verzweiflung Zuflucht hinter den mächtigen Mauern dieser Siedlung suchen: Für sie beginnt das Grauen hier drin nach dem Terror dort draußen etwas später, insgesamt etwas schleichender und angeblich auch nicht immer zwangsläufig. Denn gerüchtehalber kann man, sofern vorhanden, durch Besitz oder Talent bei der Einreise Vorteile für sich sichern, angeblich sogar als Freier in der Berggasse loslegen. Das klingt für mich glaubhaft, denn Gleichheit ist hier nur ein Fremdwort unter vielen anderen vergessenen Idealen, die ich allesamt dank meiner knapp vier Jahre Lebenszeit in wohlbehüteter Freiheit kennengelernt hatte. Hier in Gor Thaunus, als enteignete Sklavin, wird mir dieses Wissen tagtäglich zum Fluch – ich weiß wie es war und wie es sein könnte.

Uns war es schlechter ergangen, denn Yang und ich haben leider die Tortur der Initiation und der ersten Wochen hinter uns gebracht, vielmehr bringen müssen. Wir waren damals vor gut zwei Jahren nicht als Flüchtende hierher gekommen, sondern als Geraubte. Also mussten wir den Ritus der vier Himmel durchmachen, nachdem wie zuvor schon ein Mal durch die Wildnis marschieren mussten. Für diese Fortsetzung der Initiation waren wir nach der Ankunft noch vier weitere Male in der Todeszone ausgesetzt. Daraufhin mussten wir, Gor und den zentralen Turm ständig als einzige verlässliche Orientierung am Horizont, in einem Tagesmarsch unseren Weg zurückfinden. Während dieser schlimmen Tage sind wir zu anderen Menschen geworden, zu gebrochenen, willenlosen Opfern. Beim ersten Mal war es schon hart genug, aber mit jedem weiteren Mal wurde es schlimmer, denn man wusste nun, was einem alles dort draußen drohte, hatte das Leid gesehen und mehrfach gespürt. Kaum eine der Gewaltmärsche durch die Todeszone geht ohne Tote und Verletzte unter uns Sklaven ab. Die dauernde Todesangst sorgt, zumal man ohne Nahrung und Wasser ausgesetzt wird, für unangenehmeste Grenzerfahrungen. Danach weiß man kaum noch, wer man vorher gewesen ist. Genau darum geht es ihnen, diesen Bastarden dort oben in ihren schicken Villen. Je ein Mal aus jeder Himmelsrichtung haben sich die neuen Sklaven in ihrer ersten Woche zurück zum Lager ihrer Meister durchzukämpfen. Besser denke ich nicht weiter darüber nach, es sind schreckliche Erfahrungen gewesen, die ich am liebsten vergessen würde. Das Geschehen der letzten Minuten nötigt mir jedoch die Erinnerung an meine eigene Vergangenheit, meine damalige Rolle in der gleichen grausigen Inszenierung auf. All das liegt zwar lange hinter mir, aber – leider, denn ich kann daran so Garnichts ändern – noch vier weitere Male vor den armen Teufeln dort drüben.

Mitleid steigt in mir auf, verdrängt jeden Vorbehalt und jede Vorsicht. Ich beschließe impulsiv, doch noch einen zweiten Versuch zu wagen, rufe noch lauter als eben schon: „Hey, ihr vier! Keine Angst – kommt einfach zu uns rüber, wann ihr könnt und wenn ihr wollt. Wir rennen sicher nicht weg und freuen uns über Besuch!“

Das ist schlagfertig gewesen, denke ich stolz: Nett, gleichzeitig ehrlich und witzig, aber mehr als das kann und will ich nicht riskieren – jedenfalls nicht in meiner heutigen Stimmung und dieser Situation. Nach einem scheußlichen Tag voller Strapazen und offener Demütigung während einer zermürbenden Arbeitsschicht von regelmäßig 12 Stunden, geht nur noch wenig. Von vier bis vier geht meine aktuelle Schicht, derzeit am Tag bald aber wieder mit Beginn in der Nacht. Mein kompletter Rücken schmerzte so sehr, dass fast jeder Muskel dort verhärtet sein dürfte. Die meisten Gelenke und besonders die beiden Knie tun mir ebenfalls weh. Auch Kopfschmerzen mischen sich unter die restlichen Leiden, fallen jedoch als normaler Dauerzustand kaum ins Gewicht. Das alles ist kein Wunder, so schwer wie wir Sklaven gefordert werden, ohne dass dabei unsere Gesundheit eine große Rolle spielt – Hauptsache: Man arbeitet. Dadurch werden mir sogar die relativ leichten Aufgaben meines Arbeitsdienstes zur Belastungsprobe. Wenn ich mir im Vergleich dazu vorstellte, wie es in den Minen und Manufakturen zur Sache geht, darf ich mich wirklich nicht beklagen. Was Yang und andere Industriesklaven mir manchmal darüber berichteten, ist widerlich und unmenschlich. Das Gefährlichste, was mir passieren kann, ist eine geile Mira oder eine übellaunige Annabelle, von etwas Muskelschmerzen nach harter Hausarbeit mal abgesehen.

Weiterhin geschieht da draußen nichts, immer noch keine Reaktion auf meine doppelte Ansprache. Aber auch dieses Mal erfolgt keine Strafe, kein Schmerz durchzuckt mich, keine Warnung verkündet die Konsequenzen meiner Regelüberschreitung. Wahrscheinlich sind die vier Asylanten heftig traumatisiert und brauchen ihre Zeit, um wieder klarzukommen. Langeweile, Verdruss und neue Abneigung durchströmen mich, trotz aller aufgebotenen Empathie.

Egal jetzt, scheiß drauf – ich muss einfach noch etwas länger abwarten, nur Geduld. Nur noch einige Atemzüge, denn mein Bruder regt sich, erwacht aus seiner stundenlangen Starre. So hat er schon dagelegen, als ich vorhin zurückgekommen bin, kaum zugänglich und reichlich wortkarg – ganz so, als wäre er drauf, alleine und ohne mich. Egal auch das, ich kann mich nun einfach zurücklehnen, entspannen und gespannt zusehen, was passieren wir. Mal ehrlich, ich habe es ernsthaft versucht, mit hohem Einsatz jedoch ohne Erfolg. Abwarten also und schwesterlich auf den Halbstarken aufpassen, mehr brauch ich von hier an nicht mehr zu tun. Gleich wird es passieren, das spüre ich mit unerklärlicher Gewissheit.

Schon schlägt er seine dunkelbraunen Augen auf, lächelt kurz mit ihnen, indem er synchron seinen linken Mundwinkel hebt, und zwinkert mir vertraut zu. Wortlos steht er auf, streckt sich und geht rüber zum Portal unserer Wohnkuppel, das nur deshalb durchsichtiger ist als die Wand, da es eine bloße Lücke ist – offen, nichtig.

„Ey, ihr Asylanten! Hey – hier drüben, wir sprechen mit euch! Seid ihr schockgefroren, angewurzelt, taubstumm oder ist sonst was Abartiges los mit euch?“

Näher ran, so bringt das doch nichts. Neugierde und Lust treiben mich weiter, auf in den abendlichen Spaß: „Mein süßes Schwesterherz und ich sind zwei krass unterschiedliche Typen, nicht wahr? Aber so dicke, dass wir wirklich fast eins sind, da hat die Kleine schon recht.“

Genug gedöst und nur zugehört, wie Yin sich abmüht, jetzt ist echte Aktion angesagt. Mehr als eine Stunde auf’m Trip und das Soma flasht mich kaum noch, hoffentlich checkt Schwesterchen das nicht. Bob hatte nur eine Dosis, Egoismus voran. Egal, was sie nicht weiß … und jetzt gibt’s ja ein Alternativprogramm: Voll daneben, das Frischfleisch, und total durch mit seiner Umwelt. Eine geile Aufgabe für mich, diese Typen werde ich mal hart aufklären. Scheiß auf die Regeln – Gesetze der sogenannten Herren, pah! – und scheiß drauf, ob die da drüben unsere Sprache sprechen, hier in Gor ist Anpassung gegen den eigenen Willen absolute Devise – also ungeschönt und echt …

„So wie ihr ausseht, checkt ihr gerade zwar eh überhaupt nichts, aber selbst wenn – dann kratzt mich das nicht, ich mach einfach mal munter weiter im Text. Ich helf euch ein wenig auf die Sprünge, vielleicht hilft‘s euch am Ende sogar.“ Lässig an die Wand gelehnt, noch nicht im Schlamm, nicht im Regen, mitten im Eingang, jetzt Ausgang.

„Eins ist von nun an anders und das müsst ihr euch von Anfang an einspeichern: Ihr, wir sind keine Menschen unter Menschen. Wir sind Sklaven unter Herren, unfrei, abhängig, kaum mehr als räudige Streuner. Einen Dreck wert, nicht total wertlos, aber nur eben so viel wie unsere Arbeitskraft. Also integriert das, besser schnell, und fügt euch. Kuscht und buckelt!“

Härter, mehr davon – die werd‘ ich schon weichkochen und wieder zum Leben erwecken. Selbst wenn sie kein Deutsch sprechen, muss meine starke Ansage irgendwie bei ihnen ankommen, sie aufrütteln … wenigstens ein Zwinkern, ein kleines Zucken – kommt schon!

Wochenendlektüren Nr.9 – YY1: S. 8-11/~35 [Version 1.2]

Ein weiteres Wochenende bringt eine weitere Passage final überarbeiteten Text mit sich. Wir erfahren darin mehr über Yin und ihr Leben in der dystopischen Gemeinschaft, die ihre Existenz und Subsistenz einzig durch Sklaverei zu sichern vermag. Zwar bietet Gor Thaunus respektive seine noch farblosen Gründer ihren Bewohnern Schutz vor der menschenfeindlichen Umwelt und ein gesteigertes Maß an Zivilisation in einer verwüsteten Welt, dennoch zahlt die Mehrheit der Sklaven mit ihrer Freiheit und Arbeitskraft den Preis für diese Vorzüge. Mag sein, dass am Ende alle zusammen mehr Wohlstand haben – Stichwort: Trickle-down-Theorie -, aber wird dadurch eine drastische Ungleichheit zugusten der reichen Minderheit und zulasten der arbeiteten Mehrheit legitimiert? Welches Maß an Luxus ist im Angesicht der Armut noch erträglich? Wie viel sind die Hochkultur und der Fortschritt vor diesem Hintergrund noch wert?

Anklänge an die antiken Poleis mit ihrem Sklavenheer sind also ebenso kalkuliert, wie obiger Fragekomplex in die Lektüre inkorporiert und Assoziationen an eine ungleiche Verteilung von Wohlstand und Belastung in unserer globalisierten Lebenswelt inspiriert werden soll. Hiermit will ich – Autorenschaft hin oder her – jedoch weder Interpretationshoheit beanspruchen, noch verhindern, dass jeder Leser seine ganz individuellen Bedeutungen herein- und herauslesen wird. Wie auch, ist doch dieser wie jeder andere Text, und sei es der funktionalste Gebrauchstext, ab dem Moment semantisches Freiwild, in dem er den Geist seines Verfasser verlässt und sich in unserer Welt manifestiert.

Dennoch erlaube ich mir gelegentlich, auf das hinzuweisen, was ich neben Zertreuung und Schreibtraining auszudrücken beabsichtige und was eben nicht: So ist der Themenkomplex Flucht und Gastfreundschaft, mag er auch in der Eröffnungsphase offen anklingen, übrigens bestenfalls sekundär und wird rasch fallengelassen. Dieses zeitgenössische Thema in diesem fiktional-zukünftigen Kontext zu reflektieren ist m.E. nicht nötig. Eventuell hilft solcherart positive wie negative Erläuterung demjenigen, der sich fragt: Was soll das komische Geschreibsel denn eigentlich?!

Mit der doppelten Einladung, Eure Lektüreefrahrungen zu teilen und über unsere Rolle in der Welt zu reflektieren, Euer hoffentlich nicht zu pädagogisch-aufdringlicher Satorius


1. Zugang YY – Gor(e)

Ich stehe ganz oben, sogar weit über Hohenherz. Mir schwindelt und der Wind pfeift heftig. Ich bin auf Soma – Teufelswerk und Ambrosia –, und zwar derb. Wellen aus purer Wonne fluten durch Körper und Geist. Der Grund für beides heißt Mira Zorathule. Die jüngste Tochter der jüngst verstorbenen Helena Zorathule, die wohl die mächtigste Frau in Gor gewesen sein dürfte, hat mich direkt an meinem ersten Arbeitstag bei der Gründerfamilie mit hinauf auf den Thallum Gor genommen, vielmehr dorthin befohlen – ein Privileg, das nur den Eigentümern zusteht, bei mir aber nicht nötig gewesen wäre. Der Trip und der Ausblick trösten mich über alles andere hinweg, versöhnen mich für einen kurzen Augenblick mit der beschissenen Welt dort unten zu meinen Füßen, in der ich tagtäglich überleben muss. Die Siedlung interessiert mich nicht, ich ignoriere sie und blicke in die Ferne. Weit im Westen, auf halbem Weg zum Horizont, erstreckt sich ein ausgedehnter Dschungel. Ein bis hierhin sichtlich bunt gefleckter Pflanzenteppich windet sich dort bergauf durch das raue Hügelland. Sogar einige der unglaublichen Baumriesen sind zu sehen, ragen tausende Meter in die Höhe, bis hinauf in die Wolken und vielleicht sogar darüber hinaus. Unten in den Niederungen der Glasstadt und bei den wenigen Aufenthalten in der Berggasse habe ich nie so weit blicken können. Ich bin verzaubert, obwohl ich genau weiß, um was es sich dabei handelt: Es ist kein märchenhafter Zauberhain, sondern Ergebnis nüchternen Biotechnologie, eine ehemalige Naturlunge – funktional doch wunderschön. Damals und jetzt träume ich davon, wie ich, Simsalabim, aus Gor entkomme und, Abrakadabra, die Todeszone unbeschadet hinter mir lasse, um schließlich noch vor Sonnenuntergang dort anzukommen. Überall um mich herum ist Leben, allerlei Pflanzen und Tiere. Ich begebe mich schnurstracks zu einem der Riesenbäume, beginne mutig und kraftvoll, an seiner borkigen Rinde hinauf bis in die Wolkendecke hinein zu klettern. Dunkelheit und klamme, feuchte Luft umfangen mich und nach dem wundersamen Aufstieg komme ich erleichtert und nur leicht erschöpft mit den orangeroten Strahlen der wärmenden Sonne oberhalb der Wolkendecke an. Eine schier unendliche Wolkenlandschaft, Berge, Ebenen und Schluchten in Weiß, Grau und Schwarz erstrecken sich in alle Himmelsrichtungen. Die Krone des Baums beginnt bald über mir, wirft einen gigantischen Schatten nach Osten. Dort kann ich auf ausladenden Ästen seitwärts wie weiter aufwärts gehen. Voll Freude und mit Zuversicht suche ich nach einer günstigen Stelle, finde sie und blicke ich mich hier oben um, sauge den himmlischen Anblick, der sich mir bietet, tief in mich auf. Ich habe soeben eine überirdische Zauberwelt betreten, sehe nicht nur die anderen Baumkronen, die aus den Wolken ragen, sie überragen und teilweise ineinander übergehen, sondern nun auch glitzernde Luftschlösser, die überall in nah und fern sanft dahingleiten. Voll Freude und mit Zuversicht suche ich nach einer günstigen Stelle, finde sie und blicke ich mich hier oben um, sauge den himmlischen Anblick, der sich mir bietet, tief in mich auf. Ich habe soeben eine überirdische Zauberwelt betreten, sehe nicht nur die anderen Baumkronen, die ineinander übergehen, sondern nun auch glitzernde Luftschlösser überall in nah und fern. Sogar einige Orbitalkanäle winden sich im Hintergrund der Szenerie empor. Auch wenn ich zugleich um deren Existenz und die der Atmosphärenhabitate weiß, kann ich mich der Magie dieses Anblicks nicht entziehen. Ich atme die frische und reine Höhenluft ein, staune und schweige beeindruckt. Die glänzende Schönheit dieser sonnendurchfluteten Zwischenwelt, weit über der festen Erde, jedoch unterhalb der Orbitalstätten im Weltraum gelegen, erfüllt mich. Ich spüre deutlich, hier oben über den Wolken, wartet ein neues, besseres Leben auf mich. Ein Hauch von Frieden und Reichtum, Glück und Gerechtigkeit umgibt die sanft dahingleitenden Wolkenstädte, allesamt dahinhingestreut wie schimmernde Edelsteine in den Farben des Regenbogens. Ich streife auf den Pfaden, welche die meterdicken Äste der Bäume mir bieten, stundenlang umher, nähere mich erst dieser, dann jener Stätte. Währenddessen geht die Sonne unter, der Himmel lodert dabei in gleißendem Feuerschein und sein Azurblau dunkelt langsam auf das satte Schwarzblau des Weltalls ab. Einzig die Orbitalbauten darüber und dazwischen, die wenigen sichtbaren, vom Erdboden aus hinaufführenden Kanäle ebenso wie das erdumspannende Netzwerk an deren Ende, unterbrechen das traumhafte Panorama. Sie sind in kunstloser, metallen-schwarzer Einfachheit gehalten und ihre Positionslichter leuchten sporadisch auf. Die Baustile der vielen fliegenden Städte sind im Gegensatz dazu so vielfältig wie einzigartig, so schön wie sympathisch. All ihre farbenfroh glänzenden Oberflächen und die bunt gemischten Bewohner in ihren Straßen erwachen für mich zum Leben, bezaubern mich. Jede dieser atmosphärischen Heimstätte ist anders, aber alle gleichen sie sich, sind so behaglich, so sauber, so nett und freundlich wie die anderen. Auf paradiesische Art sind sie unwirklich – ich fühle mich im Inneren so, wie damals während und nach den tolldreisten Märchen, die unsere Eltern uns früher einmal zum Einschlafen vorgelesen haben. Abenteuer treffen auf Geborgenheit, Weite und Nähe fallen zusammen, eine Vereinigung von Gegensätzen findet statt – träumend erfasst mich ein Gefühl der Heimat, ja, es erfüllt mich.

Und schon falle ich jäh aus meinem Traumland, mein Wegträumen endet in Wehmut und Verzweiflung: Das waren bessere Zeiten, damals in unserem früheren Leben, in einer unwiederbringlich verlorenen Vergangenheit. So angenehm und tröstlich die damit verwobenen Erinnerungen und dazugehörenden Traumbilder auch sind, so falsch und unwirklich sind sie heute, so dumm und naiv bin ich, wenn ich sie mir vorstelle. Es gibt dort oben über den Wolken in Wirklichkeit genauso wenig Gutes zu finden wie überall da draußen in den Todeszonen. Nur Leid und Tod warten dort, der Rest ist Vergangenheit und bloße Vorstellung. Hinter und über mir liegen Schmerz und Trauer – und vor mir? Was wird wohl alles auf mich zukommen: Eine steile Karriere als Edelsklavin, vielleicht der fast unmögliche Aufstieg, ja Ausstieg, in die Freiheit, erworben durch herausragende Leistungen und Treue im Dienst für Gor Thaunus? Wohl kaum, alberne Vorstellungen spinne ich mir da zurecht, nicht einmal des Träumens wert. Hier unten im Schlamm der Außenstadt, gefangen im Glaskäfig sind Anfang und Ende gleich, ist ein für alle Mal Schluss. Der Höhepunkt, nein, das Ende meines Lebenswegs als Unfreie scheint mit der Anstellung im Haus der Zorathules endgültig erreicht – einmal Sklavin, immer Sklavin.

Diese Gedanken an die verlorene Vergangenheit, die raue Wirklichkeit und die festgelegte Zukunft holen mich unsanft zurück in die Außenwelt. Es regnet ununterbrochen und der allgegenwärtige Schlamm wird dabei zu knöcheltiefem Matsch, stinkt zudem noch abscheulicher als sonst und macht aus jedem Schritt einen Kampf. Der Schlick ist kriechender Vorbote der aggressiven Natur da draußen, die selbst die dicken Schutzwälle nicht aufhalten können, was sie hier bei uns wohl auch gar nicht tun sollen. In den weiter innen und weiter oben liegenden Stadtbezirken ist nichts mehr von all dem zu sehen. Außer an mir und den anderen dort beschäftigten Sklaven gibt es näher zum Zentrum der Stadt kaum noch echten Dreck. Hier jedoch sind alle schmutzig, selbst wenn sie sich um Sauberkeit bemühen. Kaum ist der Schlamm getrocknet und ausgebürstet, kommt ein neuer Arbeitstag und alles beginnt von vorne.

Bevor ich nun ernsthaft damit anfange, mich über meinen Arbeitsdienst zu beschweren, oder mich am Ende sogar noch über die neue Stelle zu freuen, will ich mich doch lieber wieder mit den Gegebenheiten um mich herum beschäftigen: Die vier Wanderer dort draußen müssen sich zuvor mühsam durch die hiesige Todeszone mit ihren Tonnen an Dreck und Horden von Ungeziefer geschlagen haben – vom tödlichen Rest ganz zu schweigen –, da bin ich mir absolut sicher, auch wenn ich seit Jahren nicht mehr hinter dem Wall gewesen bin. Unterwegs müssen sie sich ständig gefürchtet haben, von irgendetwas angegriffen und verletzt, wenn nicht sogar getötet zu werden. Alles andere wäre Verdrängung oder Dummheit gewesen, denn niemand bei klarem Verstand unterschätzt die Gefahren dort draußen. Vielleicht hatten sie Glück, sind gute durchgekommen, das aber ändert nichts an der instinktiven Angst vor der Todeszone, die ihren Namen verdient hat.

Ob diese abgerissenen Figuren frische Jagdbeute oder verzweifelte Flüchtlinge sind, weiß ich nicht, am Ende ist das im Ergebnis sowieso gleich. Alle sind sie Opfer und verlieren spätestens in dem Moment ihre Freiheit und ihre Würde endgültig, in dem sie ihren Fuß in diese verfluchte Stadt setzen und dann nichts weiter anzubieten haben als ihr nacktes Leben, ihre wertlosen Hoffnungen und Träume.

Wochenendlektüren Nr.8 – YY1: S. 5-8/~34 [Version 1.2]

Wohl erholt zurück aus dem einzigen offiziellen Jahresurlaub bin ich so frei und präsentiere das nächste Häppchen von YY1 als TSF ganz unumwunden, jedoch eingleitet mit diesem Monster-Satz, der für sich so inhaltsleer ist, dass ich ihn mir an sich hätte sparen können, was mir aber erst jetzt auffällt und zugleich so schwerfällt, dass ich ihn sein lasse, wie er geworden ist.

Seht es mir freundlich nach und wendet Euch dem nachfolgenden freudig zu, Euer Satorius


1. Zugang YY – Gor(e)

Während das Krachen des schweren Panzertors noch dumpf aus der Ferne widerhallt, rücken die beruhigenden Geräusche des prasselnden Regens von Neuem in den Vordergrund meiner Wahrnehmung: rhythmisch, wohltuend, beruhigend und angenehm einschläfernd. All die düsteren Gedanken an Kontamination, Revolution und die ganze Scheiße hier in Gor verstummen. Neugierde unterliegt unterdessen Müdigkeit und der wohlverdienten Unlust, mich noch ernsthaft mit der beschissenen Außenwelt zu beschäftigen. Vor allem dann, wenn sie sich so widrig gibt, so widerwärtig ist wie das Flüchtlingspack da drüben, das mich ignoriert und trotzdem interessiert. Dabei habe ich sie doch nur gebührend hier bei uns begrüßen wollen. Nach dem Fegefeuer der Todeszone sind sie nun im äußersten Kreis der Hölle angekommen – wow, erst Marxisten, nun Katholiken, es ist wohl mein Tag der Nostalgie. Neben den alten Sprachen kehren aktuell auch die alten Religionen und diverse obskure Weltbilder zurück, so auch das Christentum. Aber ich bin gefeit gegen solche Märchen. Wie dankbar bin ich in diesen Moment mal wieder dafür, vor all dem hier klassisch und kritisch von meinen Eltern ausgebildeten worden zu sein. Sonst erginge es mir wie den meisten anderen hier unten im Schlamm, sei er auch noch so nanohygienisch rein, und ich wäre wie sie blind, taub und verschlossen gegen die wirklichen Zustände im Sonnensystem. Würde mich vielleicht sogar in ideologische Illusionen flüchten. Dabei muss ich meinen Bruder leider mit einschließen, der intellektuell nie so viel Lust und Talent gezeigt hat wie ich und deshalb jetzt die eine oder andere recht eigenwillige Ansicht über unsere Lebenswelt vertritt. Zum Glück hat er für meine Erklärungen und Einflüsterungen meistens ein offenes Ohr, wenn auch ein stures Gedächtnis, das schnell vergisst.

Ach was solls, der Funke Neugier reicht doch dafür aus, mich wieder nach außen zu wenden. Regen und Nebel, das typische Scheißwetter bei uns eben, verhindern eine gute Sicht raus der Kuppel rüber zu den Fremden. Ich stehe also auf und gehe soweit zum Ausgang vor, dass ich nicht nass werde, und schaue genauer hin: Die vier dreckigen, kleingewachsenen Gestalten lungern still und unbewegt auf dem ebenfalls dreckigen, über und über mit Schlamm bedeckten Boden des Platzes direkt vor dem rostig-grünen Südosttor herum. Es sind lebendige Menschen, trotzdem wirken sie wie versteinert. Meine Gefühle ihnen gegenüber sind gemischt, immerhin, bin ich doch dank meiner Eltern als Humanistin erzogen worden und habe mir Reste dessen selbst hier erhalten können. Aber die Gesamtsituation des Sklavendaseins und die fortgesetzt dummdreiste Arglosigkeit der sogenannten Wachen gehen mir an die überreizten Nerven. Ich habe echt Angst vor dem, was wirklich da draußen hinter den Mauern lauert, und von dort kommen sie. Idealerweise sollte ich die Neuen, wie vorhin versucht, offen und freundlich begrüßen. Sollte sie keinesfalls grundsätzlich fürchten, mir besser selbst ein Bild von ihnen machen. Dabei sollte ich nicht auf die Absicherung durch Wachen und Waffen hoffen. Aber ich werde tatsächlich zunehmend unruhiger – nicht, dass die Gerüchte doch wahr und wir in Gor nun auch an der Reihe sind. Denn dann wäre es doppelt dämlich und selbstmörderisch, jetzt offenherzig und neugierig dort rüberzugehen, „Hallo“ zu sagen und auf gute Miene zu machen. Ach was, ich spinne schon wieder rum, werde wohl selbst langsam hysterisch. Es hat hier in den letzten Jahren kaum Zwischenfälle gegeben, ein paar gestörte Psychos, ja, aber die wurden schnell zur Vernunft gebracht oder wieder ausgesondert. Mehr Sicherheitsrisiken sind nicht von dort draußen zu uns hereingedrungen. Alles andere sind hausgemachte Probleme gewesen.

Dennoch das ist eh egal, jetzt dort raus und näher ranzugehen, traue ich mich nicht. Mein notorischer Drogenkonsum, all das elendige Soma, das verschnittene Amphetamin und der primitive Alkohol, sind relativ geduldete Regelverstöße. Sie bringen mir vermutlich einen Strich in irgendeiner langen Liste ein und führen ganz selten zu einem strafenden Schmerzreiz – wann genau und warum so selten versteht keiner von den vielen Junkies unter uns Sklaven. Das also ist eine Sache, aber ein direkter Kontakt zu Flüchtlingen ist ein ganz anderes Level! Außerdem bin ich gerade schon mutig genug gewesen, bin beim Regelsurfen ein ernstes Risiko eingegangen, als ich die Neuankömmlinge frei heraus angesprochen habe. Bevor die Wachen nicht ihre Sicherheitsshow abgezogen haben, ist uns sogar das Sprechen mit Heimatlosen untersagt, mit Freien oder Herren übrigens sowieso. Keine dieser vielen Regeln ist irgendwo aufgeschrieben, alles ungewiss. Wir lernen sie zufällig voneinander und nachträglich durch Bestrafung, seltener durch Nicht-Belohnung oder eine direkte Weisung von oben. Es gibt hierzu entsprechend viele Theorien und noch mehr Gerüchte, aber die wichtigsten Alltagsregeln sind noch jedem früher oder später schmerzlich klar geworden. Nach meinem Wagnis von eben, zumal es vermeintlich ungestraft bleibt, sollte ich mich nun wohl besser zurückhalten. Ich will heute sicher keinen mittelgradigen Regelbruch mehr riskieren. Yang könnte jetzt ruhig mal stolz auf mich sein, wo er mich ständig als ängstliches Hühnchen betitelt, wenn der Penner denn überhaupt mal seine Augen auf und seine Zähne auseinanderbekäme. Ich habe jedenfalls vorerst genug, genug provoziert und getan – und überhaupt, so heftig wie Yang genieße ich das Adrenalin beim Surfen dann auch nicht.

Wenn ich doch nur irgendwas zum Flashen hätte, wäre alles leichter – aber nein, es herrscht seit Tagen Flaute auf dem Schwarzmarkt. Bald reichts mir, dann trinke ich allen Ernstes wohl mal wieder den verfluchten Schnaps, den man, Nebenwirkungen hin oder her, leicht und sogar legal bekommen kann. Heute müsste ich, wenn ich mich vorhin nicht doch sträflich versurft habe, wieder eine Dosis von dem Dreckszeug zugeteilt bekommen. Irgendwann in den Abendstunden könnte das passieren, aber wann genau und ob überhaupt liegt nicht in meiner Hand, nur der Ort ist gewiss: Beim Lebensmarkt 5. Zwischenzeitlich kehre ich die wenigen Schritte vom Eingang zurück und wir ruhen wieder beide in den aktuell zu Sitzsäcken umfunktionierten Allzweckmöbeln in unserer transparenten Wohnkuppel mit der neongelben Nummer 423 über ihrem Eingangsportal.

Wie zu erwarten ist keine der Wachen aufmerksam geworden und da eine direkte Bestrafung auch ausgeblieben ist, lasse ich meinen Gedanken nun freien Lauf und sie laufen wie meist sehr weit weg von hier. Hier in der tristen Wirklichkeit des Sklavenlagers gibt es halt nicht viel Gutes zu holen, daher bekommt man rasch Übung im Weg-Denken. Und sowieso, was auch immer passieren will, wird auchff9200 ohne mich passieren, wie es eben geschehen wird, will oder soll oder womöglich sogar muss – ach, was weiß ich kleine Sklavin schon vom Schicksal und dem Lauf der Dinge, noch über den Gang der Zeit und die Zukunft!

Eines aber weiß ich ganz sicher: Ich will hier weg, raus aus dem Schlamm der Glasstadt, am besten ganz weg aus Gor oder doch wenigstens nach oben in die besseren Stadtteile. Ich habe lange gehofft, dass ich mich an das Sklavendasein gewöhnen könnte, dass mich der kleine Aufstieg, der uns möglich ist und den ich begonnen habe, vertrösten könnte. Aber ehrlicherweise halte ich die Scheiße des Alltags nur einigermaßen aus, wenn ich irgendwie flüchte, irgendwie verdränge. Solange ich nicht auf Droge sein kann, ist meine Phantasie der einzige Ausweg, ein geheimer Schlüssel zum Reich der Freiheit. Meine Vorstellungsgabe ist ein verborgener Pfad aus der Stadt heraus in die weite Welt hinaus. Der wirkliche Fernblick über die umliegende Todeszone in Richtung Horizont taugt kaum zum Tagträumen, ist aber der Anfang jedes mentalen Trips. Könnte man jetzt über die Streuner hinweg und durch den äußersten, sieben Meter hohen Schutzwall hindurchschauen, könnte man vor allem jenseits aber auch innerhalb der Ruinenfelder versteckt sehenswerte Plätze entdecken, wildromantische Kulissen, einer Hyperschnulze, wie sie Mama einst geliebt hat, würdig. Aber besonders die Erinnerungen an früher liefern mir den Stoff, meine Phantasie macht dann den Rest. So weiß ich mich perfekt zu erinnern, denn man prägt sich die schönen Dinge, die es im hässlichen Lagerleben kaum noch gibt, am besten gründlich und ganz tief ein. Ohne solche unschätzbar wertvollen Erinnerungen fehlen einem Rückzugsorte für Geist und Seele, ohne solche Schatzkammern des Glücks bleiben einem halt nur Drogen, legale wie illegale. Oder man ergeht sich eben in teils bedenklichen Hobbys wie dem Regelsurfing. Ansonsten verliert man schnell die Lust am Leben, am zermürbenden Alltag des 24/7-Sklavendaseins und am Ende versucht man lange und zunächst häufig erfolglos, sich das Leben zu nehmen. Denn trotz der diversen hochtechnologischen Sicherheitsvorkehrungen sterben die meisten Sklaven letztlich doch durch Freitod, nicht durch Krankheit, Unfall oder mordlüsterne Dritte. Nichts für mich, ich will wenigstens geistig gesund bleiben und da keine ordentlichen Drogen zu Hand sind, lehne ich mich nun komplett zurück, räkel mich bequem in den weichen Kunststoff unter mir und schließe meine Augen endgültig fest. Ich ergehe mich in einer längst überfälligen Tagträumerei, einer der wenigen Episoden, deren Ursprung nach meiner Enteignung liegt. Dieses Erlebnis ist noch frisch, ist kaum eine Woche vergangen:

Wochenendlektüren Nr. 7 – Das System: S. 1 – 11/11 [Version 1.0]

Heute möchte ich Euch ohne allzu viele begleitende Worte ein frisches TSF servieren. Inspiriert wurde die Kurzgeschichte durch ein wirkliches Erlebnis, also getreu und gemäß dem Motto: Das Leben schreibt die besten Geschichten schon selbst. Als Chronist habe ich mir erlaubt, das kuriose Vorkommnis stilistisch ein wenig zuzuspitzen und der Diskretion zuliebe moderat zu verfremden.

Viele Vergnügen beim Lesen und möge das System Euch mit dererlei Quereln verschonen, Euer (nicht immer stoischer) Satorius


Das System

Zuerst war er verblüfft, dann neugierig, zuletzt verärgert. Der Grund dafür war nicht der erwartete Brief seiner Krankenkasse, die ihn letzte Woche erst überrascht und sodann verärgert hatte, sondern ein Brief der Gerichtskasse in Gießen.

Seine Freundin hatte beide Schreiben von ihrem morgendlichen Spaziergang mit der gemeinsamen Tochter – nicht einmal ein Jahr alt, wild und zuckersüß, liebenswert und nervenaufreibend: ein furioser Wirbelwind – mit in die gemeinsame Wohnung im Erdgeschoss gebracht. Zuvor hatte das begeisterte Sturmklingeln der Kleinen den Großen entgeistert aufschrecken lassen. Er war nämlich ein ausgewiesener Langschläfer, bisweilen Morgenmuffel und wurde mit der allmorgendlichen Rückkehr seiner Lieben meistens zum zweiten Mal wach, nachdem er zu einer Uhrzeit, einer Unzeit zwischen sieben und acht Uhr morgens, zunächst mit seinen beiden Damen erstmals erwachte.

Es war der 23. September, Tag und Nacht lagen im Gleichgewicht und die Witterung stellte sich während seines noch schlaftrunkenen Kontrollblicks über den Balkon, durch das dort aufgespannte Katzennetz hindurch, als neutral im schlechtesten Sinne heraus: Die monotonen Wolkenschleier dort draußen waren tiefgrau, kein Fetzen blauen Himmels zu sehen, ein Wetter ohne Eigenschaften, das seine zerknitterte Stimmung schonmal nicht aufhellte. Dennoch schien der Rest der kleinen Familie den Spaziergang genossen zu haben, wenn er auch ohne den erhofften, erholsamen Schlaf für den Fratz geblieben war. Er begrüßte, nunmehr bereits milderer Stimmung, Frau und Kind – eine Wortwahl, die er nur ironisch verwendete, war ihm im Gegensatz zu ihr das Sakrament der Ehe ein Gräuel – kurz mit je einem Kuss, nahm besagte Post entgegen und ging voran ins Wohnzimmer, wo er die beiden Briefe mit seinen blassblauen Augen musterte.

Er wollte sie nacheinander öffnen. Zuerst die schlechte Nachricht, dachte er: Da ihm der Inhalt des anderen Schreibens vorab klar war, griff er also zunächst zu demjenigen mit dem unheilvollen Absender Gerichtskasse Gießen. Hatte er falsch geparkt, war er geblitzt worden, ohne es zu merken, was hatte es damit wohl auf sich? Gespannt riss er den Umschlag auf, warf das Papier achtlos auf den dunkelbraunen Tisch zwischen all das Chaos, das hier und auch sonst überall in der kleinen Wohnung die Oberhand gewonnen hatte, seitdem sie zu dritt waren, und begann zu lesen: Grundbuchsache lautete der Betreff, eine vage Ahnung über den Anlass der Mitteilung war gestiftet, allerdings stand rechts daneben, ebenfalls fettgedruckt und in gleicher Schriftgröße gesetzt, Mahnung. Von 20,90 € war die Rede, wobei es die zusätzlichen 5,00 € Mahngebühr waren, gefolgt von der Androhung einer Pfändung von Konten und Arbeitseinkommen durch einen Gerichtsvollzieher, die ihn erst irritierte und darauf schrittweise sprachlos, dann ärgerlich und zuletzt rasend machte. Dieser Vorgang vollzog sich in Minutenfrist, ungesehen, ungehört und erreichte die anderen erst mit dem der Tochter zuliebe immerhin mäßig unterdrückten Fluch: „Habt ihr sie nicht alle? Was soll denn dieser Scheiß – bitteschön!“

Während die Tochter lustig gluckste und rasch in seine Richtung krabbelte, steckte seine Gefährtin – eine Bezeichnung wiederum, die er liebte, und gänzlich unironisch vor dem Aussterben bewahren wollte – ihren rotblonden Kopf in den Raum und fragte mit tadelnder, trotzdem leicht amüsierter Miene: „Na! Nanu, was ist denn los?“

„Ich so allen Ernstes 5,00 € Mahngebühr für eine Rechnung zahlen, die ich nie bekommen habe. Vermutlich für diesen elendig-lästigen Erbschaftsdriss, der mich schon seit zwei Jahren heimsucht. Eigentlich sollte das beendet sein, ach, ich kann dazu nur eines sagen: Scheißverein!“, erwiderte er schon etwas beruhigter im Bauch, aber nunmehr vom Kopf her sauer, geladen in gerechtem Zorn – es ging ihm ums berühmt-berüchtigte Prinzip.

Dann schaute er nach unten, wo die Kleine sich an seinem Bein hinaufzog, lächelte zunächst bemüht, sodann doch von Herzen und nahm seine Tochter auf den Arm. Die Große lächelte ebenfalls, besänftigend, stimmte seinem Verdruss jedoch unumwunden, wenn auch fluchfrei zu.

Er beschloss daraufhin, es war jedoch bereits kurz vor Mittag, bei der verantwortlichen Behörde anzurufen, um seinem Ärger Luft und die Mahnung ungeschehen zu machen. Mit einer forschen, aber zutreffenden Eröffnung wollte er das Gespräch beginnen, eilig nicht bedenkend, dass er lediglich in einer Telefonzentrale landen würde. Gewählt, von einem Herrn Günnert matt und geschäftsmäßig desinteressiert begrüßt und plangemäß, vermeintlich rhetorisch spitz gefragt: „Ist es in ihrem Hause üblich, Mahnungen zu versenden, ohne zuvor eine Rechnung gestellt zu haben – denn genau das ist mir heute passiert?!“

„Ja … Das kommt schon mal öfter vor“, wurde ihm sofort und gänzlich unerwartet jeder Druck aus seinem Angriff genommen.

Humor und neuer Ärger rangen in ihm, vermischten sich und brachten ihn sogleich wieder in Rage: „Insbesondere dann sehe ich keinesfalls ein, die geforderte Mahngebühr zu bezahlen, und verlange eine ordentliche Rechnung, die ich ordentlich bezahlen kann. Wenn dieser Fall – wie Sie dreist zugeben – öfter eintritt, sollte immerhin das unproblematisch sein.“

„Moment, ich leite Sie an die zuständige Sachbearbeiterin weiter. Wie war nochgleich ihr Nachname?“

Quartz!“

Q also, dann verbinde ich Sie nun mit Frau Franjo …“, sagte der Telefonist und wurde abrupt von einem Amt ersetzt.

Nicht, dass er sich hätte verabschieden oder gar bedanken wollen, wartete er erneut, nunmehr ernüchtert von der anonymen Behördensachlichkeit, namentliche Begrüßung hin oder her. Und er wartete noch immer, mittlerweile war es 11:48, als das Amt zum zehnten Mal ertönte, woraufhin er abermals von der drögen Stimme angesprochen wurde: „Frau Franjo ist nicht in ihrem Büro erreichbar – wohl schon zu Tisch. Rufen Sie später nochmal an, ich gebe ihnen dafür ihre direkte Durchwahl: 2342.“

„Allerbesten Dank und auf nimmer Wiederhören“, verabschiedete er sich barsch, legte auf und pfefferte das Telefon in die Sofakissen.

Jetzt musste er sich tatsächlich noch länger mit dieser bereits stark vorbelasteten Angelegenheit befassen, als hätten zwei Jahre Scherereien nicht vollkommen ausgereicht: Denn er war sich nun ziemlich sicher, dass sich die ominöse Rechnung auf das Umschreiben des unsäglichen Waldgrundstücks bezog. Er hätte davon vor sechsunddreißig Jahren ein Zwölftel geerbt – genauer und aktuell genommen zusammen mit zwei weiteren Miterben aus dem erweiterten Familienkreis exakt ein Sechsunddreißigstel –, wenn dieses wirtschaftlich irrelevante, weil nicht einmal einen Hektar große Grundstück seinerzeit nicht vergessen worden wäre. Aber seine Großeltern hatten es schlicht versäumt, dieses Stückchen Gemeinschaftswald bei der vertraglichen Überschreibung des sonstigen Eigentums an ihn zu erwähnen. Er war also, kaum auf der Welt, bereits Großgrundbesitzer geworden, da sein Vater wenige Monate vor der Geburt des eigenen Sohnes tragisch an Tuberkulose verstorben war. Deshalb war der Familienbesitz direkt vom Großvater, der wiederum kurz nach der Geburt des Enkels, somit nur wenige Monate nach seinem eigenen Sohn, verstorben war, an das Kind gegangen. Die Frauen der Familie waren hierbei zeittypisch relativ ignoriert worden, hatten immerhin Wohnrecht im Wohnhaus erhalten. Alles schien geregelt, bis auf den kleinen Gemeinschaftswald, der mehr oder minder allen Urfamilien des kleinen Dorfes in der osthessischen Provinz anteilig gehörte.

Nachdem dieses vermeintlich unbedeutende Versäumnis vor gut zwei Jahren bei der Inventur des Grundbuches einer fleißigen bis penetranten Beamtin – Frau Silberhorn – aufgefallen war, wurde er, gleichsam mit der Androhung eines Zwangsgeldes motiviert, dazu aufgefordert, eine Bereinigung des Grundbuches zu ermöglichen. Dazu sollte er entweder Testamente oder Erbscheine seiner Großeltern vorlegen. Die gab es jedoch nicht, woraufhin eine behördlich-juristische Odyssee ihren Anfang genommen hatte. In ihrem Verlauf waren viele Telefonate, etliche Besuche auf Amtsgerichten sowie Dutzende, teilweise kostspielige Urkunden nötig geworden und unterdessen hatten sich eine erstaunlich unerbauliche Menge an Missverständnissen, Fehlinformationen und Unzuverlässigkeiten von Seiten der Behörden, aber auch durch die Miterben ereignet. Am Ende war ein Notar zur Unterstützung engagiert worden und nach der fünften Fristverlängerung wähnte er den Vorgang mit der Überschreibung und Eintragung des Grundstückes auf ihn seit gut einem Monat endgültig abgeschlossen. Das Grundbuch war nun wieder konsistent und er um eine Reihe unerfreulicher Erfahrungen, nutzloses Wissen sowie letztlich ein enormes Zwölftel Land reicher.

Behörden und Bürokratien waren ihm seit jeher fremd, Beamte und insbesondere Polizisten suspekt gewesen und dieses Vorurteil hatte sich in der letzten Zeit derart bekräftigt, dass es drohte, sich in ein lebenslanges Urteil zu verfestigten. Er wusste zwar, wie wichtig derartige Berufe und ihre Institutionen für eine funktionierende Gesellschaft waren. Seine Erfahrungen in diesem Kontext waren beschränkt und womöglich nur zufällig miserabel ausgefallen, mit Anarchismus, Marxismus und anderen systemfeindlichen Ideologien hatte er nur in adoleszenter Schwärmerei geliebäugelt und auch das nur intellektuell, nie praktisch – dennoch er war zutiefst entnervt. Mehr als das, er empfand Abscheu vor diesen Strukturen, dem System als solchem, drohte in Zynismus oder gar Aggression abzurutschen.

Nun also schon wieder, nochmal – er musste es abermals mit ihm, dem System, mit ihnen, seinen Repräsentanten, aufnehmen, musste abermals zu Felde ziehen und musste dabei statt romantisch gegen monströse Windmühlen prosaisch gegen bedrucktes Papier, geltendes Recht und bürokratische Gesinnung ankämpfen. Er hielt sich trotzdem noch immer für einen Pazifisten, doch Situationen und Emotionen, wie gerade erlebt, ließen ihn ernsthaft an sich zweifeln. Frau Franjo hieß also heute seine erste Gegnerin, aber die war – Mahlzeit! – mutmaßlich verfrüht zu Tisch gegangen und er selbst wollte in einer Stunde arbeiten gehen, würde daraufhin nicht vor dem frühen Abend zurückkommen. Wider der Vermutung versuchte er es gleich nochmals, nahm den Hörer zur Hand und tippte die Durchwahl.

Nachdem es 13 Mal geklingelt hatte und während er mit jedem Amt gereizter wurde, fand er sich schließlich damit ab, erst morgen loszulegen. Er kehrte in seine alltäglichen Routinen zurück: Fütterte seine Tochter, bereitete seine Unterrichte als Hauslehrer vor, verabschiedete sich von seinen Damen und machte sich daraufhin mit seinem Fahrrad auf den Weg zum ersten Schüler des Tages.

Am Abend des Tages, die Tochter war gegen Acht, die Gefährtin gegen Elf zu Bett gegangen, hatte er, der er sich je nach Selbstdisziplin zwischen ein und drei Uhr anschließen pflegte, einen weiteren Zusammenstoß mit dem System, genauer einem Subsystem ganz ohne Beteiligung von genuinen Beamten: Er musste, wiederum aufbrausend, feststellen, dass der Freischaltcode für das Online-Portal seiner Krankenkasse, welcher ihn am Mittag im zweiten Brief erreicht hatte, nicht funktionierte. Es war schon sonderbar genug gewesen, als er letzte Woche nach Jahren der sporadischen, aber erfolgreichen Nutzung des Zugangs nach der Eingabe von Benutzer und Passwort unvermittelt aufgefordert wurde, jenen ominösen Freischaltcode einzugeben. Ohne, dass man das Phänomen hätte aufklären können, war ihm die Zusendung der Zahlenfolge als Lösung vorgeschlagen und sodann veranlasst worden. Nun also abermals in einer systemischen Sackgasse zu stecken, war schlicht obskur. Der trotz nächtlicher Stunde erfolgte Anruf bei der sogenannten 24/7-Hotline ergab die Auskunft, man sei zwar immer erreichbar, sein Anliegen könne jedoch nur durch den technischen Support bearbeitet werden und dieser sei selbstverständlich mitten in der Nacht nicht verfügbar. Solcherart abgefertigt, versuchte er noch rasch etwas anderes: Er gab den Code in ein zweites, vermeintlich identisches Textfeld ein, das er über einen im Schreiben erwähnten Link erreichte und welches ebenfalls nach einem Freischaltcode verlangte, und siehe da, es funktionierte. In einem insgesamt zwanzigminütigen Verlauf von Erwartung zu Überraschung, hinein in Ärger, welcher übergangslos in Zorn mündete, und nach dem Erfolg in zynischem Amüsement gipfelte, hatte er die Erkenntnis gewonnen, dass die gleich Aufforderung, das gleiche Wort in der Praxis eines anonymen, technischen Systems eben nicht gleichwertig war. Die angeblich wichtige Nachricht, die ihn laut letztwöchiger E-Mail in seinem persönlich Servicebereich erwartete und derentwegen er überhaupt so folgenreich versucht hatte, sich anzumelden, stellte sich als bloßer Hinweis heraus: Man habe die Funktionalität und Sicherheit der Online-Geschäftsstelle verbessert und wolle dies nun offiziell kundtun – woraufhin ihm nach Mitternacht die emotionale Energie versiegte, um weiterhin noch irgendetwas zu empfinden. Nach diesem Tage war er leer, legte sich taub und stumm ins Bett, jedoch nicht, ohne noch kurz an den morgendlichen Kampf gegen die ungerechte Mahnung zu denken. Wie immer und trotz allem schlief er in wenigen Minuten ein und träumte intensiv, aber unbeschreiblich seltsam.

Morgens erwachte er mit nebulösen Fragmenten im Kopf, konnte vor deren endgültigem Entschwinden noch eben entziffern und verständlich erinnern, dass er davon geträumt hatte, seinen Personalausweis samt Smartphone und Router hinter dem Haus in einem wider die Hausordnung entzündeten Freudenfeuer rituell verbrannt zu haben. Er spürte der wohl empfundenen, befreienden Genugtuung begierig nach, gleich einer Spur, vermochte allerdings nur noch die Spur des Verlöschens jener Spur zu erahnen. Dann war seine Tochter heran und überfiel ihn spielerisch-schroff mit ihrer frühmorgendlichen Energie, die jeden Morgenmuffel Fürchten und Staunen gleichermaßen lehren musste. Es war 6:42 und nach knapp 45 Minuten, die Mutter war unterdessen aufgestanden, hatte sich frisch und alles für den Tagesstart fertig gemacht, schlief er nochmals ein, um gegen zehn Uhr und damit heute tatsächlich vor dem späteren Klingelsturm aufzustehen. Leider hatte er den unterbrochenen Traum nicht fortsetzen können, so viel wusste er negativ, obwohl er sonst nichts Positives über seinen gewiss traumreichen REM-Schlaf zu fassen vermochte.

Morgentoilette und Familienidyll lagen bereits hinter ihm, als er neuerlich und leidlich gelassen mit der Durchwahl bei der Gerichtskasse anklingelte. Heute ging Frau Franjo ans Telefon und er schilderte ihr, ohne offene Provokation und schlagfertige Eröffnung schlicht sein Anliegen und wiederholte seine Forderung nach Gerechtigkeit.

Nachdem er geendet hatte, erwiderte sie mit lebendiger Stimme und offener Ungläubigkeit, damit ganz im Gegensatz zu ihrem Kollegen aus der Telefonzentrale vom Vortag: „So, Sie wollen also keine Rechnung erhalten haben und sehen deshalb nicht ein, die Mahngebühren zu bezahlen. Das kann ja jeder behaupten …“, stoppte sie, fuhr aber, bevor er scharf etwas erwidern konnte, fort: „Aber ich kann da sowieso erstmal nicht viel für Sie tun, denn wir sind nur die ausführende Gerichtskasse. Wenden Sie sich an das zuständige Amtsgericht, von dem die Rechnung ursprünglich veranlasst wurde. Dort klären Sie die Angelegenheit, fordern eine zweite Ausfertigung der Rechnung an, bezahlen diese und dann sehen wir beide weiter. Vorher werde ich die Mahngebühr nicht zurücknehmen.“

„Uff! Sie mahnen mich an, sind aber nicht im Stande … sind nicht verantwortlich dafür, ihren Fehler zu korrigieren? Denn ich habe definitiv nichts falsch gemacht und will das Problem einfach nur schnell gelöst sehen. Also gut, dann muss ich wohl woanders weitermachen. Ich rufe also selbst in Alsfeld an, bitten dort um eine Zweirechnung und wende mich dann wieder an Sie … habe ich das so richtig verstanden?“

„Genau! Wenn Sie das getan haben und von dort grünes Licht kommt, kann ich wieder aktiv werden. Auch wenn ich mir wahrlich nicht erklären kann, wie die Rechnung verlorengegangen sein soll“, zweifelte sie abermals, was seine Angriffslust nochmals anfachte.

„Das muss ich ihnen nicht erklären, noch gar beweisen, weil ich ehrlich bin und wohl kaum wegen fünf Euro mit einer dreisten Lüge hausieren gehe. Außerdem wurde die Rechnung sicherlich nicht als Einschreiben verschickt und solange gilt bei uns wohl noch immer der Grundsatz: Im Zweifel für den Angeklagten.“

„Als würde irgendjemand Rechnungen als Einschreiben verschicken, aber gut, wie dem auch sei – wenden Sie sich an Alsfeld und fragen dort nach.“

„Muss ich dann wohl und danke für ihr Bemühen. Auf Wiederhören!“, schloss er, wurde seinerseits verabschiedet und beendete das Gespräch wiederum höchst unzufrieden.

Nach einem neuerlichen Wurf des Telefons in die Sofakissen, der einen kleinen Wutanfall eröffnete, tobte er kurz verbal, fing sich mäßig und berichtete seiner zwischenzeitlich vom Spaziergang heimgekehrten Partnerin von dem unerquicklichen Telefonat. Diese suchte kurz und fand keine versöhnlichen Worte, teilte tröstlich und verständnisvoll seinen Verdruss. Die Kleine war wie immer unweit, kam heran und vermochte, ihn schnell abzulenken, und so kam er bald wieder zu sich, schickte sich sodann an, den nächsten Schritt auf dem lästigen Weg auf sich zu nehmen.

Er rief also gegen halb zwölf auf dem so verhassten Amtsgericht an, das ihn zwei Jahre lang wegen des nichtigen Erbes auf Trap gehalten hatte, vermied aber kalkuliert bis konfliktscheu, Frau Silberhorn direkt zu kontaktieren. Hoffend, dass er um ein Gespräch mit seiner bürokratischen Nemesis herumkommen möge, wählte er erstmal die Nummer der Zentrale.

Eine müde, unfreundliche und mundartlich plumpe Frauenstimme, an die er sich von zuvor noch vage erinnerte und die ihn Wort für Wort, ja Silbe für Silbe mehr strapazierte, empfing ihn:

Amtsgericht Alsfeld, Moog am Abbarad … bidde?!“

Er beherrschte sich, gab zum dritten Mal eine Kurzfassung seiner Situation zum besten Schlechten und wurde im gleichen Ton – angestrengt, lustlos, zermürbend unwillig – aufgefordert, das Aktenzeichen anzugeben.

Er hatte es befürchtet: „Dafür is‘ Frau Silberhorn zuständisch. Ich stelle’se dursch …“, schloss der Telefontrampel grußlos und sprach damit genau das aus, was er nicht hatte hören wollen. Nicht schon wieder die, seufzte er und fluchte innerlich. Auch wenn er in den zwei Jahren zuvor nur wenige Male direkt und zwischenmenschlich keineswegs übermäßig unerfreulich mit ihr gesprochen hatte, so hatte sie ihm ständig mit Briefen, die Aufforderungen, Ermahnungen und Vollzugsfristen enthalten hatten, nachgestellt.

Er tat einfach so, als kenne man sich nicht, schilderte sachlich seinen Fall und bat um Richtigstellung, woraufhin er nach seiner Adresse gefragt und ihm gesagt wurde:

„Also ihre Rechnungsanschrift ist korrekt und exakt so von mir an die Gerichtskasse übermittelt worden. Komisch, was sie behaupten … Ich habe noch nie erlebt, dass eine Rechnung verloren gegangen ist und deshalb eine unberechtigte Mahnung erhoben wurde. Mit der Mahnung habe ich im Übrigen nichts zu tun. Ich leite die nötigen Informationen, nachdem ich die Rechnung erstellt habe, einfach nur weiter und mehr nicht. Der Rest ist Sache der Gerichtskasse …“

„Ihr Ernst?! Sie können mir also auch nicht weiterhelfen und geben die Verantwortung wieder zurück? So langsam finde ich das Hin und Her echt nicht mehr witzig. Ich will doch einfach nur eine Zweitrechnung, damit ich diese bezahlen kann und die unberechtigten Mahngebühren erlassen bekomme. So jedenfalls hat es mir Frau Franjo von der Gerichtskasse vorhin noch erklärt.“

„Hat sie das? Um ehrlich zu sein, weiß ich gar nicht, wie das gehen soll, noch, was das bringen soll. Ich drücke hier nur auf ein Knöpfchen und irgendwo in einem Rechenzentrum wird dann eine elektronische Rechnung erstellt, ausgedruckt und postalisch versendet. Diese sieht dann sogar ganz anders aus, als ich das hier an meinem Bildschirm eingegeben habe. Selbst wenn ich wüsste, wie das geht, würde das nach meinem Wissen nichts an den Mahngebühren ändern. Selbst, wenn ich ihnen glauben würde, dass Sie keine Rechnung erhalten haben, wie Sie beteuern, weiß ich nicht, was eine zweite Rechnung bringen soll.“

Von der offenen Inkompetenz paradoxerweise besänftigt, zudem amüsiert von der Absurdität der verfahrenen Situation verabschiedete er sich ohne Ironie, beinahe freundlich. Ohne seiner Gefährtin zwischendurch zu berichten, lachte er nur hysterisch, herzte rasch seine Kleine und wählte abermals Frau Franjos Durchwahl:

„Hallo, nochmal, hier ist Herr Quartz. Wir hatten eben bereits telefoniert. Ich habe, wie Sie mich aufgefordert haben, in Alsfeld angerufen. Dort konnte man mir auch nicht weiterhelfen. Die Adresse sei korrekt an Sie übermittelt worden und eine neue Ausfertigung der Rechnung wäre weder sinnvoll noch machbar, hieß es von der Sachbearbeiterin. So langsam verliere ich meine Geduld. Ich will doch nur die läppischen 20,90€ zahlen, weiterhin und unbestritten, und sehe lediglich nicht ein, 25% unberechtigte Mahngebühren obendrauf zu zahlen.“

„Sie bekommen also keine Zweitrechnung?“

„Nein, wie eben gesagt, das wäre nicht nötig, noch wäre das technisch so einfach möglich, sagte man mir dort“, wiederholte er sich, nunmehr wieder ungehaltener ob der stumpfen Sturheit.

„So geht das nicht! Ich habe es ihnen doch eben schon klar gesagt“, beharrte sie mit verständnisloser, harter Stimme, „erst, wenn Sie den Rechnungsbetrag bezahlt haben, den normalen Betrag ohne die Mahngebühren, werde ich hier über die Mahngebühren eine Entscheidung fällen, nicht vorher. Ich bin ja bereit, ihnen entgegenzukommen, aber nicht ohne eine ordentliche Zahlung.“

„Mir fehlen langsam echt die Worte, von Verständnis gar nicht mehr zu sprechen. Ich bin ein kluger Mensch, aber langsam Zweifel ich an meinem Verstand. Hierüber werde ich definitiv eine Kurzgeschichte schreiben – das ist grotesk und buchstäblich kafkaesk, wenn Sie mich verstehen. Aber gut, dann wende ich mich gleich wieder an ihre Kollegin auf dem Amtsgericht und hoffe auf ein logisches Wunder!“

„Aha, dann schreiben Sie mal ihre Geschichte. Und wende Sie sich erst wieder an mich, wenn die Rechnung bezahlt wurde. Vorher werde ich nichts für Sie tun!“, sagte sie und man verabschiedete sich minimalistisch.

Sichtlich neben der Spur legte er auf, hatte nicht einmal mehr den Willen sich aufzuregen, lief einmal verwirrt durch die wenigen Zimmer der kleinen Mietwohnung und drückte im Tran die Wahlwiederholung, um ein zweites Mal direkt mit Frau Silberhorn zu sprechen.

Amtsgericht Alsfeld, Moog am Abbarad … bidde?!“, wurde er wider Erwarten und widerwärtig begrüßt, funktionierte aber dennoch leidlich, indem er fragte:

„Äh, Hallo … hier ist nochmal Quartz, ich müsste ein weiteres Mal zu Frau Silberhorn durchgestellt werden.“

„Wisse’se eigendlisch, wie späd es is‘? Wir ham‘s kurz nach zwölf und die is‘ sicher in de‘ Middagspaus‘. Ich stell’se jetzt nemmer zu ihr dursch. Ruf’se heude Mittach nochema an, die Durschwahl is‘ …“

„Ich kenne die Durchwahl und brauche sie nicht – Mahlzeit!“, legte er rüde auf, jetzt wieder energisch genug, um Laut durch die Wohnung zu brüllen: „Wrahhh! Das ist der rein Wahnsinn, so ein verfluchter Schwachsinn!“

Seine Tochter, die irgendwie immer und überall war, wo sie nicht sein sollte, kuckte entsetzt drein. Seine Gefährtin kam herbeigeeilt, schaute ihn böse an und schickte sich an, das erschrockene Kind zu trösten. Das allerdings, brüllte nun selbst herzhaft, strahlte schon wieder und grabbelte beherzt auf den Papa zu. Der nahm den Trost kurz aber freudig an, entschloss sich dann aber doch, es direkt mit der Durchwahl zu Frau Silberhorn zu versuchen, rücksichtslos gegen die Mittagspause und eigenwillig gegen den Amtsschimmel. Nach dreimaligem Klingeln hatte er erfreulicherweise damit Erfolg:

„Frau Silberhorn hier, was kann ich für Sie tun?“

„Abermals Quartz. Ich beginne zu verzweifeln. In Gießen sagte man mir nachdrücklich und eindeutig, ohne eine zweite Rechnung, die ich daraufhin ohne Mahngebühren bezahlen soll, würde man mir nicht helfen. Ich muss Sie also ebenso nachdrücklich bitten, auf Ihr Knöpfchen zu drücken – sonst wird das wohl nie was …“

Mit einem humorlosen Lachen antwortete sie: „ … mein Gott, ich beginne langsam, Sie zu verstehen. Das hat so keinen Sinn, am besten rufe ich selbst mal in Gießen an und kläre das mit der Kollegin. Wie war nochgleich ihr Name?“

„Frau Franjo heißt sie. Ich kann Ihnen auch gerne die Nummer mit der Durchwahl diktieren“, erbot er sich.

„Gerne, das macht es etwas leichter. Ich notiere …“, kündigte sie an und er diktierte ihr: „Also, die Nummer lautet: 0641 934-2342.“

„Gut, Herr Quartz, ich werde später versuchen, die Problematik aufzuklären, und rufe Sie dann noch heute oder spätestens morgen zurück.“

„Danke für Ihre Initiative und eine erholsame Mittagspause – auf Wiederhören“, beschloss er das Gespräch seinerseits, lauschte ihrer Verabschiedung und legte auf, erstmalig zufrieden und hoffnungsfroh, einer Lösung nähergekommen zu sein.

Zurück ging es in den Alltag: Brei füttern, Unterrichte vorbereiten, umziehen und wie meist mit moderater Verspätung in den Arbeitstag starten – just in diesem Moment klingelte das Telefon. Er schaute, gestresst von seiner unliebsten Marotte, dem schlechten Zeitmanagement, nur flüchtig auf das Display, erspähte die Vorwahl von Alsfeld 06631 – und beschloss sodann, durch die Tür stürmend, morgen früh zurückzurufen. Das System konnte warten, seine Selbstständigkeit hingegen nicht.

Abends, nach einem Tag selten zermürbender Mathematikunterrichte, in denen er direkt hintereinander bestenfalls am Intellekt von gleich zwei Achtklässlern, die partout nicht im Stande waren, zwei Punkte mit vier Koordinaten in die Steigungsformel mit eben diesen je zwei x- und zwei y-Werten einzusetzen, oder schlimmstenfalls an seiner Lehrbefähigung zweifeln musste, las er seiner Tochter vor dem Zubettgehen traditionsgemäß etwas vor. Auch wenn die Kleine mehr auf Bilderbücher und Lieder flog, kaum drei verständliche Worte mit kaum mehr als zwei Silben hervorbringen konnte, hatte er den Hang, ihr klassische Texte vorzulesen. Nachdem er mit dem recht blutrünstigen Sagenkreis der Griechen nach dem dritten Lebensmonat gebrochen hatte, war er zu Märchen, Gedichten und klingender Literatur übergegangen. Zumeist kam er nicht weit, weil sein Goldstück nicht eben leicht für derartige Schriften zu begeistern war. Sie bestätigte das pädagogisch geschulte Urteil der Mutter, in dem Alter seien solche Texte ebenso sinnlos wie witzlos, häufig durch rasche Flucht und respektive oder lautstarke Beschwerde. Daraufhin musste er sie regelmäßig mit ihrem Lieblingslied, Die Gedanken sind frei, wieder aufmuntern. So begann er mit seinem heutigen Exempel an bildungsvernarrter Lehrer-Schrulle und las vor, mit wohlmodulierter Stimme und komplett vergessend, dass er noch eine Rechnung mit dem System zu begleichen hatte:

Der Zauberlehrling, von Johann Wolfgang von Goethe:

Hat der alte Hexenmeister
sich doch einmal wegbegeben!
Und nun sollen seine Geister
auch nach meinem Willen leben.
Seine Wort und Werke
merkt ich und den Brauch,
und mit Geistesstärke
tu ich Wunder auch.

Walle! walle
Manche Strecke,
daß, zum Zwecke,
Wasser fließe …“