Fiktionale Kleinode

High-Five: Ein großer Aufklärer auf Zechtour

Weg, weg mit Wünschen, Reimen, Schwänken!

Trinkt fleißig, aber trinket still!

Wer wird an die Gesundheit denken,

wenn man die Gläser leeren will?

Gotthold Ephraim Lessing (1729 – 1781), Eine Gesundheit auf die Gesundheiten, in: Lieder (1771)


Wein, wenn ich dich jetzo trinke,

Wenn ich dich als Jüngling trinke,

Sollst du mich in allen Sachen

Dreist und klug, beherzt und weise,

Mir zum Nutz, und dir zum Preise,

Kurz, zu einem Alten machen.

 

Wein, werd‘ ich dich künftig trinken,

Werd‘ ich dich als Alter trinken,

Sollst du mich geneigt zum Lachen,

Unbesorgt für Tod und Lügen,

Dir zum Ruhm, mir zum Vergnügen,

Kurz, zu einem Jüngling machen.

Gotthold Ephraim Lessing (1729 – 1781), An den Wein, in: Lieder (1771)


Ihr Alten trinkt, euch jung und froh zu trinken:

Drum mag der junge Wein

Für euch, ihr Alten, sein.

 

Der Jüngling trinkt, sich alt und klug zu trinken:

Drum muß der alte Wein

Für mich, den Jüngling, sein.

Gotthold Ephraim Lessing (1729 – 1781), Der alte und der junge Wein, in: Lieder (1771)


Wein ist stärker als das Wasser:

Dies gestehn auch seine Hasser.

Wasser reißt wohl Eichen um,

Und hat Häuser umgerissen:

Und ihr wundert euch darum,

Dass der Wein mich umgerissen?

Gotthold Ephraim Lessing (1729 – 1781), Die Stärke des Weins, in: Lieder (1771)


Ein trunkner Dichter leerte

Sein Glas auf jeden Zug;

Ihn Warnte sein Gefährte:

Hör‘ auf! du hast genug.

 

Bereit vom Stuhl zu sinken,

Sprach der: Du bist nicht klug;

Zu viel kann man wohl trinken,

Doch nie trinkt man genug.

Gotthold Ephraim Lessing (1729 – 1781), Antwort eines trunknen Dichters, in: Lieder (1771)

Das erste Text-SLOW-Food: #EK1 @ Zynischer Moralismus

Ein neues Format erhebt sich aus dem semantischen Chaos. In der brodelnden Ursuppe von Quanzland entstehen und vergehen Bedeutungen, ganze Formate und Themen bisweilen, wie es Lyrik-Alarm, Rätsel-Runde, Lichtrausch und Originale vorgemacht haben und es nunmehr ein neues Geschwisterchen nachzumachen trachtet. Sein Name spricht Bände, ist so unnatürlich klar, dass er kaum Fragen offenlässt: Text-SLOW-Food.

Nicht mehr um kleine Zitate und Aphorismen, auch nicht um die üblich gewordenen Kaskaden kurzer und mittlerer Texteauszüge, formatbedingt sogar gelegentlich ganzer Gedichte, geht es hierbei, sondern um einen gut durchgekochten Auszug langer und längerer Passagen eines umfangreicheren Werks. Was für die Attribute umfangreich und Werk qualifiziert? Meine Vorlieben, Launen und das erhoffte Quäntchen Objektivität zwischen, in, unter, hinter und neben all der wunderbaren Subjektivität und Kontingenz. In dem Auszug, die am Ende der komplexen, aber höchst unterhaltsamen Zubereitung von Text-Slow-Food herauskommen wird, sind die meisten Zutaten für sich zwar noch auszumachen, der Geschmack des Gerichtes an sich, das Ganze des Textes also, steht aber klar im Vordergrund der Darstellung.

Immerhin chronologisch geordnet führen Zitate starker Passagen erratisch durch und dabei tief hinein in den Textkorpus, mit aller unvermeidlichen Spoiler-Gefahr, die dort in den blutigen Eingeweiden des Werks in jedem harmlosen Wörtchen lauert, aber natürlich weitmöglich verhütet werden soll. Meistens wird sich dieses neue Format mit Exemplaren meines liebsten epischen Formates der Neuzeit befassen, dem schon häufig der bladige Tod nachgesagt wurde und dem weiterhin munter Siechtum attestiert wird: der Roman. In selten Fällen werde ich auch (längere) Kurzgeschichten, Essays und dergleichen mehr verwursten; vielleicht erweise ich sogar beizeiten sogenannten Sachtexte die zweifelhafte Ehre, quanzländisch verarbeitet zu werden.

Text-SLOW-Food wird als eine Variante des Formats zwar strukturell dem Text-Fast-Food zugeordnet, unterscheidet sich in aber neben Länge und Dauer der Zubereitung in einem weiteren Detail von seinem entschieden weniger aufwendigen Vor- und Mitläufer, dem großen kleinen Bruder TFF: Ähnlich wie für die Beiträge aus den Bereichen Lichtrausch (Galerien des Lichtsrausches) und Kulinarik (Archiv der Kulinarik) werde ich die Metatext-Redaktion darauf verpflichten, sobald wie möglich und so früh wie nötig eine Form der übersichtlichen Archivierung aufzusetzen und zügig zu lancieren. Struktur und Fülle der Beiträge bedingen einander und machen zusammen den Hauptunterschied zwischen Text-Fast- und Text-Slow-Food aus. Dabei übernehme ich für die Formatierung der Titel das bewährte Muster der Lichtrausch-Beiträge und füge darunter in einer gleichbleibenden Gliederung die verschiedenen Facetten der Werkbetrachtung zusammen:

 

0. Titel: #Autoren-KürzelBeitragsnummer @ Beitragstitel

1. Ein markantes Beitrags-Bild zum Text (Umschlagbild, Faksimile, etc.) macht den Anfang und läd optisch in den Artikel ein.

2. Sodann macht ein Happen Text-Fast-Food Appetit auf mehr und sorgt so für einen sanften Lese-Einstieg in das Werk des jeweiligen Autoren.

3. In einer (Kurz-)Besprechung  des vorgestellten Textes entwerfe ich (m)einen Zugang zum Text gewohnt essayistisch-verquer, mit dem Ziel einer Art Mini-Rezension.

4. Der Metadaten-Mix, also eine übersichtlich Zusammenstellung objektiver Informationen (auf Basis der Kataloge von Deutscher Nationalbibliothek und WorldCat) und subjektiver Wertungen, liefert kompakte Daten für Bibliografie- und Zahlenjunkies.

5. In einem Essenzsatz versuche ich mich an der semantisch-stilistisch beinahe unmöglichen Aufgabe, das ganze Werk angemessen in einem einzigen Satzgefüge auszudrücken – wohl an denn!

6. Die fortlaufenden Zitate aus dem Primärtext und ihre Zusammenstellung liefern überhaupt erst den Anlass für das alles hier und bilden somit den Kern des Ganzen.

7. Kursorische Kontexte geben dem Werk des Autoren einen breiteren Rahmen und stillen damit den ersten, eklektischen Lesehunger des idealen Lesers, der am Ende des ausgedehnten Text-Slow-Foods noch Lust auf zukünftige Lektüre hat.

(8. Eine Verlinkung oder Downloadoption der eigentlichen Primär-Quelle rundet bei gemeinfreien, freien oder online verfügbaren Werken das Format ab.)

 

Durch die angekündigte Archivseite soll den Vorstellungen lesenswerter Bücher auch das gleiche Schicksal erspart werden, das die Massen an Text-Fast-Food vor und nach ihnen letztlich ereilte, dass sie nämlich in der chronologischen Tiefe und semantischen Flut von Quanzland untergehen und zügig unsichtbar werden. Wo hier wohl die Grenze zwischen Slow und Fast verläuft und ob es denn auch ältere TFF’s gibt, die nun eher als TSF zu bezeichnen wären? Ich weiß es noch nicht im Detail, werde es aber sicher bald durch eifrige Tests zunächst am toten, dann am lebenden Text-Objekt herausfinden.

Bevor jedoch weitere Vertreter dieser neuen Gattung schlüpfen oder ältere Exemplare naträglich mutieren, also redaktionell auf die neue Linie gebracht werden, möchte ich Euch nun, nach erläuternder Vorrede, endlich das erste Text-Slow-Food präsentieren, den Prototyp des neuen Formats.

Viel Spaß und möge die Leselust mit Euch sein, Euer Satorius


Fabian. Die Geschichte eines Moralisten: #EK1 @ Zynischer Moralismus

Umschlag dtv


»Es gibt nichts Gutes
außer: Man tut es.«

 

Erich Kästner (1899 – 1974), Doktor Erich Kästners lyrische Hausapotheke (1936)

 

»Wem ist zu helfen?« fragte Fabian. »Du willst Macht haben. Du willst, träumst du, das Kleinbürgertum sammeln und führen. Du willst das Kapital kontrollieren und das Proletariat einbürgern. Und dann willst du helfen, einen Kulturstaat aufzubauen, der dem Paradies verteufelt ähnlich sieht. Und ich sage dir: Noch in deinem Paradies werden sie sich die Fresse vollhauen! Davon abgesehen, daß es nie zustande kommen wird … Ich weiß ein Ziel, aber es ist leider keines. Ich möchte helfen, die Menschen anständig und vernünftig zu machen. Vorläufig bin ich damit beschäftigt, sie auf ihre diesbezügliche Eignung hin anzuschauen.«

 

Erich Kästner (1899 – 1974), Fabian. Die Geschichte eines Moralisten, S. 54 (1931)


„Beim Eignungstest durchgefallen – so nicht, werte Erwachsene!, dann versuche ich es zukünftig halt mit subversiv Seichterem, schreibe lieber Gedichte, und Geschichten für Eure Kindern und sogar Drehbüchern zu eurer profanen Unterhaltung“ – dergleichen könnte sich unser ehrenwerter Autor vielleicht irgendwann in seinem Leben einmal gedacht haben. (Die historisch plausiblere Erklärung, dass jemand, der satirisch so vom Leder gezogen hatte und dann trotz der Verbrennung seiner Bücher das Wagnis eingegangen war, im natinoalsozialistischen Deutschland auszuharren, wohl kaum noch frei, vor allem politisch Schreiben konnte, lasse ich ihrer Nüchternheit wegen beiseite.)

Der sonst für recht kluge und brave Kinderbücher wie Emil und die Detektive, Pünktchen und Anton oder Das fliegende Klassenzimmer bekannte und dadurch weltberühmt gewordene Erich Kästner konnte nämlich auch anders: Satirisch frech, offenherzig bis derb, sogar obszön, dabei historisch wie politisch brisant, unterlegt mit existenziellen Tönen, dennoch immer leicht und einfühlsam, angenehm und anschmiegsam, trotzdem kritisch und ambivalent. Da die großen Themen des Romans – Leben, Sinn, (Gast-)Freundschaft, Familie, Arbeit und Liebe, Sex und Entfremdung, Einsamkeit, Feindschaft, Resignation, Tod – allesamt zeitlos und allgemein sind, lassen sie sich zwar beliebig aktualisieren, dennoch sind sie derzeit mal wieder hochaktuell im Angesicht von lokalen und globalen Entwicklungen wie Brexit und sogenannter Flüchtlingskrise, Kaltem Krieg 2.0 und sogenanntem Terrorismus. Insbesondere die Frage der persönlichen Verantwortung im Weltgeschehen wie im Alltag, der Geltungsbereich, die Ausdrucksformen, aber auch die Widerstände und Feind des je eigenen Ethos – Stichwort: Politikverdrossenheit und Medienmacht – spielen gerade mal wieder eine große Rolle im Welttheater.

Fabian mag nicht wie ein Vorbild wirken, ist aber keinesfallsein reiner Zyniker und Hedonist, sondern ein sensibler Mensch mit einer paradoxen Art der Selbstsorge nach dem Credo: Kontrollierte Selbst-Zerstörung und Welt-Provokation an der Grenze der Konventionen, statt risikobehaftetem Idealismus, enttäuschbarem Optimismus oder lebensgefährlichem Aktionsmus. Er tut, was er eben kann, setzt persönliche Zeichen der Menschlichkeit, arbeitet in Teilen den Tugendkatalog ab, ohne jedoch seiner vielschichten Zeitkritik radikale Formen de Widerstands folgen zu lassen, ohne mitzumachen, aber auch ohne dagegen- oder dafürzumachen. Er ist kein Mitläufer auf dem Weg in den Abgrund des 2. Weltkriegs, wie die meisten seiner moralisch weit härter verkommenen Mitmenschen, wäre wohl aber kaum Frontkämpfer des Widerstands geworden – wobei, wer weiß das schon zu sagen!

Im tagespolitischen Trauerspiel von Rechtspopulismus, Medienmisere und Politikdefiziten (Geltungsbereich, Akzeptanz, Lobbyismus, …) war es eine glänzende Idee des Atrium Verlags den Roman 2013 in seiner ungekürzten Urfassung und unter seinem eigentlich gewollten Titel Der Gang vor die Hunde neu herauszugeben. Dass dieser Urtext noch um einiges bissiger und kritischer ausfällt, als die seinerzeit vom Deutschen Verlags-Anstalt zensiert publizierte Version, wundert wenig. Wie die Urfassung da wohl ausgesehen haben mag?

 

Erich Kästners „Fabian“ gilt als politischster deutscher Roman vor 1945.

[…]

„Also zum einen ist es natürlich sehr viel expliziter, was jetzt Obszönitäten angeht sozusagen, was die Darstellung des sexuellen Bereichs angeht, die politische Kritik, die es auch gibt in einem gestrichenen Kapitel, ist ziemlich spannend, weil das jetzt keine parteipolitische Kritik ist, also die Richtung, der Kästner angehört oder vage angehört, konnte man dem nicht unbedingt entnehmen, sondern es ist einfach ‘ne unglaublich übermütige politische Kritik, die auch Spaß macht zu lesen.“ (Sven Hanuschek, Herausgeber der Neuaussgabe, die auf Basis eines originallen Typoskripts vor den Eingriffen rekonstruiert wurde)

[…]

Der Vergleich zwischen der Ausgabe von 1931 und der Urfassung zeigt: Die vom Verlag geforderten Kürzungen und Änderungen haben die satirischen Intentionen von Kästners Roman eher verunklart. Mehr als 80 Jahre nach der Erstausgabe ist das Werk nun von seinen Entstellungen und Entschärfungen befreit.

Oliver Pohlmann, Kästners „Fabian“ unzensiert, Deutschlandfunk [URL zuletzt besucht am 30.06.2016]

 

Von zwei Ausnahmen (Anahng 1 & 2) abgesehen, werde ich zunächst aber auf Basis der „entschärften“ 19. Auflage der Erstausgabe von 1931 schreiben und freue mich schon jetzt auf eine zukünftige Relektüre der noch radikaleren Urfassung. Die beiden Zitate aus dem Anhang machen Lust auf mehr allzuechte, allzumenschliche Schilderungen aus scharfer Feder. Ich bin überdies gespannt zu erleben, wie weit und wie tief vorstaatliche Zensur kurz vor der Machtergreifung in Deutschland gegangen ist, um den Text den Erwartungen anzupassen, gespannt darauf, wie heftig und wie listig Macht und Markt der Kunst zusetzen konnten, um sie nach ihren kruden Kriterien und gemäß ihrer minderen Motive zu verbiegen und dadurch zu verstümmeln.

Vitale Demokratie braucht solche Schriftsteller und ihre Leser, braucht Kulturbetrieb, Unterhaltungsindustrie und subversive Subkulturen gleichermaßen. Öffentlichkeit entsteht durch Zeugnis, durch Bericht und Erzählung, Diskussion und Kritik. In dieser Stoßrichtung hat Erich Kästner mit seinem Fabian einen ehrenwerten und höchst unterhaltsamen Versuch unternommen, Öffentlihckeit zu erzeugen, indem er die Zustände in Berlin und die Stimmung im Deutschland der kriselnden Weimarer Republik neusachlich eingefangen hat. Die angesprochene Zensur adelte dabei den leider selten als Satiriker arbeitenden Kästner und sicherte ihm im Gegenzug mitunter eventuell sogar das Überleben. So war ich nicht wie viele andere Autorenkollegen der Zeit ins internationale Exil geflohen, obwohl Fabians Erstfassung schon ziemlich hart in Richtung der braunen Gefahr persifliert hatte. Die offene wie verdeckt Ablehnung von politischem Aktionismus und fanatischem Militarismus, von Gewalt und Zwang spricht aus dem Verhalten Fabians, lässt ihn als teilweise sarkastischen und notwendig zynischen Beobachter des Geschehens sinn- wie hoffnungslos resignieren. Viel wichtiger ist aber, dass Fabian Pazifist und Humanist, mit einem Maß an fokussierter Zivilcourage und Humor, die einem Weisen würdig wären. Sein Freund Labude mag mit noblen Idealen und großen Ambitionen gesegnet für die Rolle des Helden vorsprechen und scheint Fabian zum Antihelden unter den Hauptfiguren zu degradieren, aber Fabian ist existenziell und lebensweltlich erfolgreicher im unvermeidlichen Scheitern am System der Welt. Er findet aber seinen eigenen Weg des Umgangs mit den persönlichen wie zivilisatorischen Katastrophen. Trotz allem und bis zuletzt bleibt er lebendig, ambivalent wie das Leben, Zyniker einerseits und Moralist andererseits, gehemmt und getrieben, auf der Suche nach seinem Platz in einer Epoche der Unsicherheit, der Depression und Isolation, einer untergehenden Welt.

Man verzeihe mir das sonst hoffentlich eher seltene Pathos – Satorius out!


Metadaten-Mix

Objektive Information (Links zu den Katalogseiten: DNB & WorldCat)

  • Autor (Lebensdaten): Erich Kästner (1899 – 1974)
  • Titel. Untertitel: Fabian. Die Geschichte eines Moralisten
  • Seiten: ca. 246
  • Zitierte Ausgabe: 19. Auflage, 2003, Deutscher Taschenbuch Verlag (dtv), ISBN 3423110066
  • Verlag der Erstausgabe: Deutsche Verlags-Anstalt (DVA), Stuttgart/München
  • Erstausgabe: 1931
  • Höchste Auflage: 31., 2015, Deutscher Taschenbuch Verlag (dtv)
  • Übersetzte Sprachen: 11
  • Verfilmung: 1 (1979)
  • Genre: Satirischer (Großstadt-)Roman
  • Epoche: (Späte) Neue Sachlichkeit.

Subjektive Wertung (0=“Schwach/leicht/einfach/wenig“ bis 10=“Stark/schwer/komplex/viel“)

  • Narration/Plot: 7
  • Relevanz/Aktualität: 9
  • Anspruch: 5
  • Sprachqualität: 7
  • Humor: 9
  • Spannung: 4
  • Sympathie: 8
  • Gesamtwertung: 7 von 10

Essenzsatz

Im Berlin der untergehenden Weimarer Republik und des gleichzeitig aufkeimenden Dritten Reichs (ver-)zweifelt der als Germanist ausgebildete und als Werbetexter respektive Propagandist tätige Dr. Jakob Fabian an seinem eigenen mit Hedonismus und Sarkasmus nur mässig kompensierten, von Phlegma und Melancholie genährten Weltschmerz, seinen von egoistisch über lasterhaft bis aggressiv verkommenen Mitmenschen und den präapokalyptischen Zuständen des von ökonomischen und poltischen Krisen gebeutelten Deutschlands, um im Laufe des episodisch-schnellen Romans nach einem gescheiterten Beziehungsversuch inklusive weiterer heftiger Schicksalschläge aus dem Sündenpfuhl Berlin in die Heimat Dresden zu fliehen, wo er nach einer seiner vielen alltäglichen Gefälligkeiten in seiner paradoxen Rolle des zynischen Moralisten im Strudel einer zerütteten Zeit unterzugehen droht.


»Fabian, Jakob, 32 Jahre alt, Beruf wechselnd, zur Zeit Reklamefachmann, Schaperstraße 17, herzkrank, Haarfarbe braun. Was müssen Sie noch wissen?«

»Haben Sie hinsichtlich der Damen bestimmte Wünsche?«

»Ich möchte mich nicht festlegen. Mein Geschmack neigt zu Blond, meine Erfahrung spricht dagegen. Meine Vorliebe gehört großen Frauen. Aber das Bedürfnis ist nicht gegenseitig. Lassen Sie die Rubrik frei.«

Irgendwo wurde Grammophon gespielt. Die üppige Dame erhob sich und erklärte ernst: »Ich darf Sie, bevor wir hineingehen, mit den wichtigsten Statuten bekannt machen. Annäherungen der Mitglieder untereinander werden nicht übelgenommen, sondern erwartet. Die Damen genießen dieselben Rechte wie die Herren. Von der Existenz, der Adresse und den Gepflogenheiten des Instituts ist nur vertrauenswürdigen Herrschaften Mitteilung zu machen. Den idealen Absichten des Unternehmens ungeachtet sind die Konsumkosten sofort zu begleichen. Innerhalb der Klubräume hat keines der Paare drauf Anspruch, respektiert zu werden. Paare, die ungestört zu bleiben wünschen, werden gebeten, den Klub zu verlassen. Das Etablissement dient der Anbahnung von Beziehungen, nicht den Beziehungen selber. Mitglieder, die einander vorübergehend zu gegenseitigem Befund Gelegenheit gaben, werden ersucht, das wieder zu vergessen, da nur auf diese Weise Komplikationen vermeidbar sind. Haben Sie mich verstanden, Herr Fabian?«

»Vollkommen.«

»Dann bitte ich Sie, mir zu folgen.«

S. 14f.

 

[…]

 

»Aber in Kalkutta haben doch gar keine Unruhen stattgefunden«, entgegnete Irrgang widerstrebend. Dann senkte er den Kopf und meinte fassungslos: »Vierzehn Tote.«

»Die Unruhen haben nicht stattgefunden?« fragte Münzer entrüstet. »Wollen Sie mir das erst mal beweisen? In Kalkutta finden immer Unruhen statt. Sollen wir vielleicht mitteilen, im Stillen Ozean sei die Seeschlange wieder aufgetaucht? Merken Sie sich folgendes: Meldungen, deren Unwahrheit nicht oder erst nach Wochen festgestellt werden kann, sind wahr. Und nun entfernen Sie sich blitzartig, sonst lasse ich Sie matern und der Stadtausgabe beilegen.«

Der junge Mann ging.

»Und so etwas will Journalist werden«, stöhnte Münzer und strich aufseufzend und mit einem Blaustift in der Rede des Reichskanzlers herum. »Privatgelehrter für Tagesneuigkeiten, das wäre was für den Jüngling. Gibt’s aber leider nicht.«

»Sie bringen ohne weiteres vierzehn Inder um und zweiundzwanzig andere ins Städtische Krankenhaus von Kalkutta?« fragte Fabian.

Münzer bearbeitete den Reichskanzler. »Was soll man machen?« sagte er. »Im übrigen, wozu das Mitleid mit den Leuten? Sie leben ja noch, alle sechsunddreißig, und sind kerngesund. Glauben Sie mir, mein Lieber, was wir hinzudichten, ist nicht so schlimm wie das, was wir weglassen.« Und dabei strich er wieder eine halbe Seite aus dem Text der Kanzlerrede heraus. »Man beeinflußt die öffentliche Meinung mit Meldungen wirksamer als durch Artikel, aber am wirksamsten dadurch, daß man weder das eine noch das andere bringt. Die bequemste öffentliche Meinung ist noch immer die öffentliche Meinungslosigkeit.«

»Dann stellen Sie doch das Erscheinen des Blattes ein«, meinte Fabian.

»Und wovon sollen wir leben?« fragte Münzer. »Außerdem, was sollten wir stattdessen tun?«     Dann kam der livrierte Bote und brachte den Wein und die Gläser. Münzer schenkte ein und hob sein Glas. »Die vierzehn toten Inder sollen leben!« rief er und trank. Dann fiel er wieder über den Kanzler her. »Einen Stuß redet unser hehres Staatsoberhaupt wieder einmal zusammen!« erklärte er. »Das ist geradezu ein Schulaufsatz über das Thema: Das Wasser, in dem Deutschlands Zukunft liegt, ohne unterzugehen. In Untersekunda kriegte er dafür die Drei.« Er drehte sich zu Fabian herum und fragte: »Und wie überschreibt man den Scherzartikel?«

»Ich möchte lieber wissen, was Sie drunter schreiben«, sagte Fabian ärgerlich.

Der Andere trank wieder, bewegte langsam den Wein im Mund, schluckte hinter und antwortete: »Keine Silbe. Nicht ein Wort. Wir haben Anweisung, der Regierung nicht in den Rücken zu fallen. Wenn wir dagegen schreiben, schaden wir uns, wenn wir schweigen, nützen wir der Regierung.«

»Schreiben Sie dafür!«    

»O nein«, rief Münzer. »Wir sind anständige Leute. Tag Malmy.«

Im Türrahmen stand ein schlanker eleganter Herr und nickte ins Zimmer.

»Sie dürfen ihm nichts übelnehmen«, sagte der Handelsredakteur zu Fabian. »Er ist seit zwanzig Jahren Journalist und glaubt bereits, was er lügt. Über seinem Gewissen liegen zehn weiche Betten, und obenauf schläft Herr Münzer den Schlaf des Ungerechten.«

Der alte Bote brachte wieder Schreibmaschinenblätter. Münzer griff nach einem Leimtopf, vervollständigte das Spruchband des Reichskanzlers und redigierte weiter.

»Sie mißbilligen die Indolenz Ihres Kollegen«, fragte Fabian Herrn Malmy. »Was tun Sie außerdem?«

Der Handelsredakteur lächelte, freilich nur mit dem Mund. »Ich lüge auch«, erwiderte er. »Aber ich weiß es. Ich weiß, daß das System falsch ist. Bei uns in der Wirtschaft sieht das ein Blinder. Aber ich diene dem falschen System mit Hingabe. Denn im Rahmen des falschen Systems, dem ich mein bescheidenes Talent zur Verfügung stelle, sind die falschen Maßnahmen naturgemäß richtig und die richtigen sind begreiflicherweise falsch. Ich bin ein Anhänger der eisernen Konsequenz, und ich bin außerdem …«

»Ein Zyniker«, warf Münzer ein, ohne aufzublicken.

Malmy hob die Schultern. »Ich wollte sagen, ein Feigling. Das trifft noch genauer. Mein Charakter ist meinem Verstand in keiner Weise gewachsen. Ich bedaure das aufrichtig, aber ich tue nichts mehr dagegen.« 

S.30ff.

 

[…]

 

Malmy stand auf, wankte ein wenig uns schlug ans Glas. Die Umsitzenden sahen ihn an.

»Meine Herrschaften«, rief er, »ich will eine Rede halten. Wer dagegen ist, der stehe auf.«

Münzer erhob sich mühsam.

»Der stehe auf«, rief Malmy, »und verlasse das Lokal.«

Münzer setzte sich wieder, Strom lachte.

Nun begann Malmy seine Rede: »Wenn das, woran unser geschätzter Erdball heute leidet, einer Einzelperson zustößt, sagt man schlicht, sie hat die Paralyse. Und sicher ist Ihnen allen bekannt, daß dieser äußerst unerfreuliche Zustand mitsamt seinen Folgen nur durch eine Kur heilbar ist, bei der es um Leben und Tod geht. Was tut man mit unserem Globus? Man behandelt ihn mit Kamillentee. Alle wissen, daß dieses Getränk nur bekömmlich ist und nichts hilft. Aber es tut nicht weh. Abwarten und Tee trinken, denkt man, und so schreitet die öffentliche Gehirnerweichung fort, daß es eine Freude ist.«

»Lassen Sie doch diese ekelhaften medizinischen Vergleiche!« rief Strom. »Ich bin nicht fest auf dem Magen.«

»Lassen wir die medizinischen Vergleiche«, sagte Malmy. »Wir werden nicht daran zugrunde gehen, daß einige Zeitgenossen besonders niederträchtig sind, und nicht daran, daß andere besonders dämlich sind. Und nicht daran, daß einige von diesen und jenen mit einigen von denen identisch sind, die den Globus verwalten. Wir gehen an der seelischen Bequemlichkeit aller Beteiligten zugrunde. Wir wollen, daß es sich ändert, aber wir wollen nicht, daß wir uns ändern. Wozu sind die andern da?, denkt jeder und wiegt sich im Schaukelstuhl. Inzwischen schiebt man von dorther, wo viel Geld ist, dahin Geld, wo wenig ist. Die Schieberei und das Zinszahlen nehmen kein Ende, und die Besserung nimmt keinen Anfang.«

»Ich bin ein Schwein«, murmelte Münzer, hob sein Glas und hielt es vor den Mund, ohne zu trinken. So blieb er sitzen.

»Der Blutkreislauf ist vergiftet«, rief Malmy. »Und wir begnügen uns damit, auf jede Stelle der Erdoberfläche, auf der sich Entzündungen zeigen, ein Pflaster zu kleben. Kann man so eine Blutvergiftung heilen? Man kann es nicht. Der Patient geht eines Tages, über und über mit Pflastern bepflastert, kaputt!«

Der Theaterkritiker wischte sich den Schweiß von der Stirn und sah den Redner bittend an.

»Lassen wir die medizinischen Vergleiche«, sagte Malmy. »Wir gehen an der Trägheit unserer Herzen zugrunde. Ich bin ein Wirtschaftler und erkläre Ihnen: Die Gegenwartskrise ohne eine vorherige Erneuerung des Geistes ökonomisch lösen zu wollen, ist Quacksalberei!«

»Es ist der Geist, der sich den Körper baut«, behauptete Münzer und warf sein Glas um. Dann schluchzte er laut auf. Er bekam jetzt das heulende Elend in ganz großem Maßstab. Und Malmy mußte, um den Kollegen zu übertönen, noch lauter sprechen. »Sie werden einwenden, es gebe ja zwei große Massenbewegungen. Diese Leute, ob sie nun von rechts oder links anmarschieren, wollen die Blutvergiftung heilen, indem sie dem Patienten mit einem Beil den Kopf abschlagen. Allerdings wird die Blutvergiftung dabei aufhören zu existieren, aber auch der Patient, und das heißt, die Therapie zu weit treiben.«

Herr Strom hatte von den Krankheitsbildern endgültig genug und suchte das Weite. Am Ecktisch stand mühsam ein dicker Mann auf, versuchte dem Redner den Kopf zuzuwenden, aber der Hals war zu massiv, und so sagte er in die verkehrte Richtung: »Mediziner hätten Sie werden sollen.« Dann plumpste er wieder auf seinen Stuhl. Dort packte ihn plötzlich die helle Wut, und er brüllte: »Geld brauchen wir. Geld. Und wieder Geld!«

Der Dicke vom Ecktisch konnte sich nicht beruhigen. »Einfach lächerlich«, knurrte er. »Geistige Erneuerung, Trägheit des Herzens, einfach lächerlich. Geld her, und wir sind gesund. Das wäre ja gelacht wäre das ja!«

Eine Frau, die ihm gegenübersaß und die genau so dick war wie er, fragte: »Aber wo kriegen wir denn das Geld her, Arthur?«

»Hab’ ich dich gefragt?« schrie er, schon wieder aufgebracht. Dann beruhigte er sich endgültig, hielt den Kellner, der vorbeiging, am Rockschoß fest und sagte: »Noch ein Sülzkotelett, und Essig und Öl.«

S. 36ff.

 

[…]

 

Labude blickte den Freund an und sagte: »Du müßtest endlich vorwärtskommen.«

»Ich kann doch nichts.«

»Du kannst Vieles.«

»Das ist dasselbe«, meinte Fabian. »Ich kann Vieles und will nichts. Wozu soll ich vorwärtskommen? Wofür und wogegen? Nehmen wir wirklich einmal an, ich sei der Träger einer Funktion. Wo ist das System, in dem ich funktionieren kann? Es ist nicht da, und nichts hat Sinn.«

»Doch, man verdient beispielsweise Geld.«

»Ich bin kein Kapitalist!«

»Eben deshalb.« Labude lachte ein bißchen.

»Wenn ich sage, ich bin kein Kapitalist, dann meine ich: Ich habe kein pekuniäres Organ. Wozu soll ich Geld verdienen? Was soll ich mit dem Geld anfangen? Um satt zu werden, muß man nicht vorwärtskommen. Ob ich Adressen schreibe, Plakate bedichte oder mit Rotkohl handle, ist mir und ist überhaupt gleichgültig. Sind das Aufgaben für einen erwachsenen Menschen? Rotkohl en gros oder en detail, wo steckt der Unterschied? Ich bin kein Kapitalist, wiederhole ich dir! Ich will keine Zinsen, und ich will keinen Mehrwert.«

Labude schüttelte den Kopf. »Das ist Indolenz. Wer Geld verdient und es nicht liebt, kann es gegen Macht eintauschen.«

»Was fang ich mit der Macht an?« fragte Fabian. »Ich weiß, du suchst sie. Aber was fange ich mit der Macht an, da ich nicht mächtig zu sein wünsche? Machthunger und Geldgier sind Geschwister, aber mit mir sind sie nicht verwandt.«

»Man kann die Macht im Interesse anderer verwenden.«

»Wer tut das? Dieser wendet sie für sich an. Jener für seine Familie, der Eine für seine Steuerklasse, der Andere für diejenigen, die blonde Haare haben, der Fünfte für solche, die über zwei Meter groß sind, der Sechste, um eine mathematische Formel an der Menschheit auszuprobieren. Ich pfeife auf Geld und Macht!« Fabian hieb mit der Faust auf die Brüstung, aber sie war gepolstert und plüschüberzogen. Der Faustschlag blieb stumm.    

»Wenn es eine Gärtnerei gäbe, wie ich sie mir erträume! Ich brächte dich, an Händen und Füßen gefesselt, hin und ließe dir ein Lebensziel einpflanzen!« Labude war ernstlich bekümmert und legte die Hand auf den Arm des Freundes.

»Ich sehe zu. Ist das nichts?«

»Wem ist damit geholfen?«

»Wem ist zu helfen?« fragte Fabian. »Du willst Macht haben. Du willst, träumst du, das Kleinbürgertum sammeln und führen. Du willst das Kapital kontrollieren und das Proletariat einbürgern. Und dann willst du helfen, einen Kulturstaat aufzubauen, der dem Paradies verteufelt ähnlich sieht. Und ich sage dir: Noch in deinem Paradies werden sie sich die Fresse vollhauen! Davon abgesehen, daß es nie zustande kommen wird … Ich weiß ein Ziel, aber es ist leider keines. Ich möchte helfen, die Menschen anständig und vernünftig zu machen. Vorläufig bin ich damit beschäftigt, sie auf ihre diesbezügliche Eignung hin anzuschauen.«

Labude hob sein Glas und rief: »Viel Vergnügen!« Er trank, setzte ab und sagte: »Erst muß man das System vernünftig gestalten, dann werden sich die Menschen anpassen.«     Fabian trank und schwieg.

Labude fuhr erregt fort: »Das siehst du ein, nicht wahr? Natürlich siehst du das ein. Aber du phantasierst lieber von einem unerreichbaren vollkommenen Ziel, anstatt einem unvollkommenen, das sich verwirklichen läßt, zuzustreben. Es ist dir bequemer so. Du hast keinen Ehrgeiz, das ist das Schlimme.«

»Ein Glück ist das. Stell dir vor, unsere fünf Millionen Arbeitslosen begnügten sich nicht mit dem Anspruch auf Unterstützung. Stell dir vor, sie wären ehrgeizig!«

Da lehnten sich zwei Trikotengel über die Brüstung. Die eine Frau war dick und blond, und ihre Brust lag auf dem Plüsch, als sei serviert. Die andere Person war mager, und ihr Gesicht sah aus, als hätte sie krumme Beine. »Schenkt uns ’ne Zigarette«, sagte die Blonde. Fabian hielt die Schachtel hin, Labude gab Feuer. Die Frauen rauchten, blickten die jungen Männer abwartend an, und die Magere konstatierte nach einer Pause mit verrosteter Stimme: »Na ja, so ist das.«

»Wer spendiert ’nen Schnaps?« fragte die Dicke.

S.52ff.

 

[…]

 

Labude sah starr in die Zweige des nächsten Baumes. »Rassow schrieb mir, er spräche im Hamburger Auditorium Maximum, vor Studenten aller Richtungen, über das Thema ›Tradition und Sozialismus‹. Und er schlug mir vor, als Korreferent oder im Rahmen der Diskussion von meinen politischen Plänen zu erzählen. Ich fuhr hinüber. Der Vortrag begann. Rassow berichtete den Studenten von seiner Rußlandreise und von seinen Erfahrungen und Gesprächen mit russischen Künstlern und Wissenschaftlern. Er wurde von den Vertretern der sozialistischen Studentenschaft wiederholt unterbrochen. Anschließend sprach ein Kommunist und wurde seinerseits von den Bürgerlichen gestört. Dann kam ich an die Reihe. Ich skizzierte die kapitalistische Situation Europas und stellte die Forderung auf, daß die bürgerliche Jugend sich radikalisieren und daß sie den kontinentalen Ruin, der von allen Seiten, passiv oder aktiv, vorbereitet wird, aufhalten müsse. Diese Jugend, sagte ich, sei im Begriff, in absehbarer Zeit die Führerschaft in Politik, Industrie, Grundbesitz und Handel zu übernehmen, die Väter hätten abgewirtschaftet, und es sei unsere Aufgabe, den Kontinent zu reformieren: durch internationale Abkommen, durch freiwillige Kürzung des privaten Profits, durch Zurückschraubung des Kapitalismus und der Technik auf ihre vernünftigen Maße, durch Steigerung der sozialen Leistungen, durch kulturelle Vertiefung der Erziehung und des Unterrichts. Ich sagte, diese neue Front, diese Querverbindung der Klassen sei möglich, da die Jugend, wenigstens ihre Elite, den hemmungslosen Egoismus verabscheue und außerdem klug genug sei, eine Zurückführung in organische Zustände einem unvermeidlichen Zusammenbruch des Systems vorzuziehen. Wenn es schon ohne Klassenherrschaft nicht abgehe, sagte ich, dann solle man sich für das Regime unserer Altersklasse entscheiden. Bei den Vertretern der extremen Gruppen erntete mein Vortrag die übliche Heiterkeit. Aber als Rassow den Antrag zur Bildung einer radikalbürgerlichen Initiative einbrachte, fand das doch Beifall. Die Gruppe kam zustande. Wir entwarfen einen Aufruf, der an alle europäischen Universitäten verschickt werden wird. Rassow, ich und ein paar Andere wollen die deutschen Hochschulen besuchen, Vorträge halten und analoge Gruppen bilden. Wir hoffen, mit den sozialistischen Studenten eine Art Kartellverbindung einzugehen. Wenn wir an allen Universitäten Gruppen gebildet haben, werden von diesen auch andere intellektuelle Körperschaften bearbeitet. Die Sache kommt in Gang. Ich habe dir gestern nichts davon erzählt, weil ich ja deine Skepsis zur Genüge kenne.« 

»Ich freue mich«, sagte Fabian, »ich freue mich sehr, daß du nun an die Verwirklichung deines Planes herangehen kannst. Hast du dich schon mit der Gruppe der Unabhängigen Demokraten in Verbindung gesetzt? In Kopenhagen ist ein ›Club Europa‹ gebildet worden, notier es dir. Und ärgere dich nicht zu sehr über meine Zweifel an der Gutartigkeit der Jugend. Und sei mir nicht böse, wenn ich nicht glaube, daß sich Vernunft und Macht jemals heiraten werden. Es handelt sich leider um eine Antinomie. Ich bin der Überzeugung, daß es für die Menschheit, so wie sie ist, nur zwei Möglichkeiten gibt. Entweder ist man mit seinem Los unzufrieden, und dann schlägt man einander tot, um die Lage zu verbessern, oder man ist, und das ist eine rein theoretische Situation, im Gegenteil mit sich und der Welt einverstanden, dann bringt man sich aus Langeweile um. Der Effekt ist derselbe. Was nützt das göttliche System, solange der Mensch ein Schwein ist? Aber was meinte Leda dazu?«

S.79ff.

 

[…]

 

»Wie kommen eigentlich Sie in diesen Saustall?« fragte Fabian.

»Ruth Reiter und ich sind aus derselben Stadt. Wir gingen in die gleiche Schule. Neulich trafen wir uns zufällig auf der Straße. Und weil ich noch nicht lange in Berlin bin, lud sie mich zu Informationszwecken ein. Ich bin das letzte Mal hier oben. Die Information hat genügt.«

»Das freut mich«, sagte er. »Ich bin kein ausgesprochener Tugendbewahrer, und trotzdem betrübt es mich, wenn ich sehen muß, daß eine Frau unter ihrem Niveau lebt.«

Sie sah ihn ernst an. »Ich bin kein Engel, mein Herr. Unsere Zeit ist mit den Engeln böse. Was sollen wir anfangen? Wenn wir einen Mann liebhaben, liefern wir uns ihm aus. Wir trennen uns von allem, was vorher war, und kommen zu ihm.

Da bin ich, sagen wir freundlich lächelnd. Ja, sagt er, da bist du, und kratzt sich hinterm Ohr. Allmächtiger, denkt er, nun habe ich sie auf dem Hals. Leichten Herzens schenken wir ihm, was wir haben. Und er flucht. Die Geschenke sind ihm lästig. Erst flucht er leise, später flucht er laut. Und wir sind allein wie nie zuvor. Ich bin fünfundzwanzig Jahre alt, und von zwei Männern wurde ich stehengelassen. Stehengelassen wie ein Schirm, den man absichtlich irgendwo vergißt. Stört Sie meine Offenheit?«

»Es geht vielen Frauen so. Wir jungen Männer haben Sorgen. Und die Zeit, die übrigbleibt, reicht fürs Vergnügen, nicht für die Liebe. Die Familie liegt im Sterben. Zwei Möglichkeiten gibt es ja doch nur für uns, Verantwortung zu zeigen. Entweder der Mann verantwortet die Zukunft einer Frau, und wenn er in der nächsten Woche die Stellung verliert, wird er einsehen, daß er verantwortungslos handelte. Oder er wagt es, aus Verantwortungsgefühl, nicht, einem zweiten Menschen die Zukunft zu versauen, und wenn die Frau darüber ins Unglück gerät, wird er sehen, daß auch diese Entscheidung verantwortungslos war. Das ist eine Antinomie, die es früher nicht gab.«

Fabian setzte sich aufs Fensterbrett. Gegenüber war ein Fenster erleuchtet. Er blickte in ein mäßig möbliertes Zimmer. Eine Frau saß am Tisch und stützte den Kopf in die Hand. Und ein Mann stand davor, gestikulierte mit den Armen, bewegte schimpfend den Mund, riß den Hut von einem Haken und verließ den Raum. Die Frau nahm die Hände vom Gesicht und starrte auf die Tür. Dann legte sie den Kopf auf den Tisch, ganz langsam und ganz ruhig, als warte sie auf ein niederfallendes Beil. Fabian wandte sich ab und betrachtete das Mädchen, das neben ihm im Lehnstuhl saß. Auch sie hatte die Szene drüben im anderen Haus beobachtet und sah ihn traurig an.

»Schon wieder ein verhinderter Engel«, meinte er.

S. 89f.

 

[…]

 

Auf dem Tisch standen Blumen. Ein Brief lag daneben. Er öffnete ihn. Ein Zwanzigmarkschein fiel heraus, und ein Zettel. »Wenig mit Liebe, deine Mutter«, war daraufgeschrieben. In der unteren Ecke war noch etwas zu lesen. »Iß das Schnitzel zuerst. Die Wurst hält sich in dem Pergamentpapier mehrere Tage.«

Er steckte den Zwanzigmarkschein ein. Jetzt saß die Mutter im Zug, und bald mußte sie den anderen Zwanzigmarkschein finden, den er ihr in die Handtasche gelegt hatte. Mathematisch gesehen war das Ergebnis gleich Null. Denn nun besaßen beide dieselbe Summe wie vorher. Aber gute Taten lassen sich nicht stornieren. Die moralische Gleichung verläuft anders als die arithmetische.

Am selben Abend bat Cornelia ihn um hundert Mark. Im Korridor des Filmkonzerns sei ihr Makart begegnet. Er war wegen Verleihverhandlungen ins Gebäude der Konkurrenz gekommen. Er hatte sie angesprochen. Sie sei der Typ, den er schon lange suche. Für den nächsten Film seiner Firma, versteht sich. Sie solle ihn morgen Nachmittag im Büro aufsuchen. Der Produktionsleiter und der Regisseur würden auch da sein. Vielleicht probiere man’s mal mit ihr.

»Ich muß mir über Mittag einen neuen Jumper und einen Hut besorgen, Fabian. Ich weiß, du hast fast gar kein Geld mehr. Aber ich kann mir diese Chance nicht entgehen lassen. Denke dir, wenn ich jetzt Filmschauspielerin würde! Kannst du dir das vorstellen?«

»Doch«, sagte er und gab ihr seinen letzten Hundertmarkschein. »Hoffentlich bringt dir das Geld Glück.«

»Mir?« fragte sie.

»Uns«, korrigierte er ihr zu Gefallen.

S. 144f.

 

[…]

 

Das komplette 14. Kapitel „Der Weg ohne Türen – Fräulein Selows Zunge – Die Treppe mit den Taschendieben“ ist grandiose Literatur. Es handelt sich um eine kryptisch-dichte Traumszene, die der Zitation in dieser Auswahl mehr als würdig ist. Jedoch erlaubt mir das Urheberrecht trotz klarer Quellenangabe als Nicht-Wissenschaftler nur ein Kleinzitat (Auswahl unzusamenhängender Stellen für eigenes Sprachwerk von höchstens ~10% des Originaltextes) vorzunehmen und deshalb verweise ich hier nur auf dieses Kapitel.

S. 146 – 154

 

[…]

 

Nachmittags saß er in einem großen Zeitungsverlag und wartete, daß Herr Zacharias Zeit fände. Herr Zacharias war ein Bekannter, der, nach einer Debatte über den Sinn der Reklame, zu ihm gesagt hatte: »Wenn Sie mich mal brauchen, melden Sie sich.« Fabian blätterte gedankenlos in einer der Zeitschriften, die den Tisch des Warteraums zierten, und entsann sich des Gesprächs. Zacharias hatte damals der Behauptung von H. G. Wells, daß das Wachstum der christlichen Kirche nicht zuletzt auf geschickte Propaganda zurückzuführen sei, begeistert zugestimmt; er hatte auch Wells’ Forderung verfochten, daß es an der Zeit sei, die Reklame nicht länger auf die Steigerung des Konsums von Seife und Kaugummi zu beschränken, sondern sie endlich ausreichend in den Dienst von Idealen zu stellen. Fabian hatte geäußert, die Erziehbarkeit des Menschengeschlechts sei eine fragwürdige These; die Eignung des Propagandisten zum Volkserzieher und das Talent des Erziehers zum Propagandisten stünden außerdem in Frage; Vernunft könne man nur einer beschränkten Zahl von Menschen beibringen, und die sei schon vernünftig. Zacharias und er hatten sich förmlich gestritten, bis sie fanden, der Meinungsstreit trage allzu akademischen Charakter, denn beide möglichen Resultate – der Sieg oder die Niederlage jener idealistischen Aufklärung – setzten sehr viel Geld voraus, und für Ideale gebe Keiner Geld.

Boten liefen geschäftig durch das Labyrinth der Gänge. Papphülsen fielen klappernd aus Metallröhren. Das Telefon des Aufsichtsbeamten klingelte fortwährend. Besucher kamen und gingen. Angestellte rannten aus einem Zimmer ins andere. Ein Direktor des Betriebes eilte, mit einem Stab untertäniger Mitarbeiter, die Treppe hinunter.

»Herr Zacharias läßt bitten.«

S. 156f.

[…]

 

Wollte er die Besserung der Zustände? Er wollte die Besserung der Menschen. Was war ihm jenes Ziel ohne diesen Weg dahin? Er wünschte jedem Menschen pro Tag zehn Hühner in den Topf, er wünschte jedem ein Wasserklosett mit Lautsprecher, er wünschte jedem sieben Automobile, für jeden Tag der Woche eines. Aber was war damit erreicht, wenn damit nichts anderes erreicht wurde? Wollte man ihm etwa weismachen, der Mensch würde gut, wenn es ihm gut ginge? Dann mußten ja die Beherrscher der Ölfelder und der Kohlengruben wahre Engel sein!    

Hatte er nicht zu Labude gesagt:

Noch in dem Paradies, das du erträumst, werden sich die Menschen gegenseitig die Fresse vollhauen? War das Elysium, mit zwanzigtausend Mark Durchschnittseinkommen pro Barbaren, ein menschenwürdiger Abschluß? Während er, sitzenderweise, seine moralische Haltung gegen die Konjunkturforscher verteidigte, regten sich wieder jene Zweifel, die seit langem in seinem Gefühl wie Würmer wühlten. Waren jene humanen, anständigen Normalmenschen, die er herbeiwünschte, in der Tat wünschenswert? Wurde dieser Himmel auf Erden, ob er nun erreichbar war oder nicht, nicht schon in der bloßen Vorstellung infernalisch? War ein derartig mit Edelmut vergoldetes Zeitalter überhaupt auszuhalten? War es nicht viel eher zum Blödsinnigwerden? War vielleicht jene Planwirtschaft des reibungslosen Eigennutzes nicht nur der eher zu verwirklichende, sondern auch der eher erträgliche Idealzustand? Hatte seine Utopie bloß regulative Bedeutung, und war sie als Realität ebensowenig zu wünschen wie zu schaffen? War es nicht, als spräche er zur Menschheit, ganz wie zu einer Geliebten: »Ich möchte dir die Sterne vom Himmel holen!« Dieses Versprechen war lobenswert, aber wehe, wenn der Liebhaber es wahrmachte. Was finge die bedauernswerte Geliebte mit den Sternen an, wenn er sie angeschleppt brächte! Labude hatte auf dem Boden der Tatsachen gestanden, hatte marschieren wollen und war gestolpert. Er, Fabian, schwebte, weil er nicht schwer genug war, im Raum und lebte weiter. Warum lebte er denn noch, wenn er nicht wußte, wozu? Warum lebte der Freund nicht mehr, der das Wozu gekannt hatte? Es starben und es lebten die Verkehrten.

Im Feuilleton des Boulevardblattes, das auf seinen Knien lag, sah er Cornelia wieder. Juristin wird Filmstar, stand groß unter dem Photo. Fräulein Dr. jur. Cornelia Battenberg, war weiterhin zu lesen, wurde von Edwin Makart, dem bekannten Filmindustriellen, entdeckt und beginnt schon in den nächsten Tagen mit den Aufnahmen zu dem Film »Die Masken der Frau Z.«

S. 210f.

 

[…]

 

Nach dem dritten Glas wurde Wenzkat politisch. »So geht das nicht weiter«, schimpfte er.

»Ich bin im Stahlhelm. Das Abzeichen trage ich nicht. Ich kann mich, bei meiner Zivilpraxis, öffentlich nicht festlegen. Doch das ändert nichts an der Sache. Es gilt einen Verzweiflungskampf.«

»Zum Kampf kommt es gar nicht erst, wenn ihr anfangt«, sagte Fabian. »Es kommt gleich zur Verzweiflung.«

»Vielleicht hast du Recht«, rief Wenzkat und schlug auf die Tischplatte. »Dann gehen wir eben unter, kreuznochmal!«

»Ich weiß nicht, ob das dem ganzen Volk recht ist«, wandte Fabian ein. »Wo nehmt ihr die Dreistigkeit her, sechzig Millionen Menschen den Untergang zuzumuten, bloß weil ihr das Ehrgefühl von gekränkten Truthähnen habt und euch gern herumhaut?«

»So war es immer in der Weltgeschichte«, sagte Wenzkat entschieden und trank sein Glas leer.

»Und so sieht sie auch aus von vorn bis hinten, die Weltgeschichte!« rief Fabian. »Man schämt sich, dergleichen zu lesen, und man sollte sich schämen, den Kindern dergleichen einzutrichtern. Warum muß es immer so gemacht werden, wie es früher gemacht wurde? Wenn das konsequent geschehen wäre, säßen wir heute noch auf den Bäumen.«

»Du bist kein Patriot«, behauptete Wenzkat.

»Und du bist ein Hornochse«, sagte Fabian. »Das ist noch viel bedauerlicher.«

Dann tranken sie noch ein Bier und wechselten vorsichtshalber das Thema.

»Ich habe einen glänzenden Einfall«, meinte Wenzkat. »Wir gehen ein bißchen ins Bordell.«

»Gibt es denn so etwas noch? Ich denke, sie sind gesetzlich verboten.«

»Freilich«, sagte Wenzkat. »Verboten sind sie, aber es gibt noch welche. Das eine hat mit dem andern nichts zu tun. Du wirst dich amüsieren.«

»Ich denke gar nicht daran«, erklärte Fabian.

»Wir trinken eine Flasche Sekt mit den Mädchen. Das Übrige ist fakultativ. Sei nett. Komm mit. Gib gut auf mich acht, damit ich meiner Frau keinen Kummer mache.« 

S. 224f.

 

[…]

 

»Wenn wir Sie engagieren«, sagte der Direktor, »erwarten Sie keine phantastischen Summen. Zweihundert Mark sind heute sehr viel Geld.«

»Für die Angestellten?« fragte Fabian neugierig.

»Nein«, sagte der Direktor, »für die Aktionäre.«

Fabian saß im Café Limberg, trank einen Kognak und machte sich Gedanken. Es war hirnverbrannt, was er plante. Er wollte, falls man die Gnade hatte, ihn zu nehmen, einer rechtsstehenden Zeitung behilflich sein, sich auszubreiten. Wollte er sich etwa einreden, ihn reize die Propaganda schlechthin, ganz gleich, welchen Zwecken sie diente? Wollte er sich so sehr betrügen? Wollte er sein Gewissen, wegen zwei Hundertmarkscheinen im Monat, Tag für Tag chloroformieren?

Die Mutter würde sich freuen. Sie wünschte, daß er ein nützliches Glied der Gesellschaft wurde. Ein nützliches Glied dieser Gesellschaft, dieser G.m.b.H.! Es ging nicht. So marode war er noch nicht. Geldverdienen war für ihn noch immer nicht die Hauptsache.

Er beschloß, den Eltern zu verschweigen, daß er bei der »Tagespost« unterkriechen konnte. Er wollte nicht unterkriechen. Zum Donnerwetter, er kroch nicht zu Kreuze! Er beschloß, dem Direktor abzusagen, und kaum hatte er sich dazu entschieden, wurde ihm wohler. Er konnte die restlichen tausend Mark von Labude nehmen, ins Erzgebirge hinauffahren und in irgendeinem stillen Gehöft bleiben. Das Geld reichte ein halbes Jahr oder länger. Er konnte wandern, soweit sein krankes Herz nichts dagegen hatte. Er kannte den Gebirgskamm, die Gipfel und die Spielzeugstädte von Schülerfahrten her. Er kannte die Wälder, die Bergwiesen, die Seen und die armen geduckten Dörfer. Andere Leute fuhren in die Südsee, das Erzgebirge war billiger. Vielleicht kam er dort oben zu sich. Vielleicht wurde er dort oben so etwas Ähnliches wie ein Mann. Vielleicht fand er auf den einsamen Waldpfaden ein Ziel, das den Einsatz lohnte. Vielleicht reichten sogar fünfhundert Mark. Die andere Hälfte konnte er der Mutter lassen.

Also los, an den Busen der Natur, marschmarsch! Bis Fabian wiederkehrte, war die Welt einen Schritt vorangekommen, oder zwei Schritte zurück. Wohin sie sich auch drehte, jede andere Lage war richtiger als die gegenwärtige. Jede andere Situation war für ihn aussichtsreicher, ob es Kampf galt oder Arbeit. Er konnte nicht mehr daneben stehen wie das Kind beim Dreck. Er konnte noch nicht helfen und zupacken, denn wo sollte er zupacken und mit wem sollte er sich verbinden? Er wollte die Stille zu Besuch und der Zeit vom Gebirge her zuhören, bis er den Startschuß vernahm, der ihm galt und denen, die ihm glichen.

Er trat aus dem Café. Aber war das nicht Flucht, was er vorhatte? Fand sich für den, der handeln wollte, nicht jederzeit und überall ein Tatort? Worauf wartete er seit Jahren? Vielleicht auf die Erkenntnis, daß er zum Zuschauer bestimmt und geboren war, nicht, wie er heute noch glaubte, zum Akteur im Welttheater?

S. 234f.

 

[…]

 

Anhang 1: Nachwort für die Sittenrichter

Dieses Buch ist nichts für Konfirmanden, ganz gleich, wie alt sie sind. Der Autor weist wiederholt auf die anatomische Verschiedenheit der Geschlechter hin. Er läßt in verschiedenen Kapiteln völlig unbekleidete Damen und andere Frauen herumlaufen. Er deutet wiederholt jenen Vorgang an, den man, temperamentloserweise, Beischlaf nennt. Er trägt nicht einmal Bedenken abnorme Spielarten des Geschlechtslebens zu erwähnen. Er unterläßt nichts, was die Sittenrichter zu der Bemerkung veranlassen könnte: Dieser Mensch ist ein Schweinigel.

Der Autor erwidert hierauf: Ich bin ein Moralist!

Durch Erfahrungen am eigenen Leibe und durch sonstige Beobachtungen unterrichtet, sah er ein, daß die Erotik in seinem Buch beträchtlichen Raum beanspruchen mußte. Nicht, weil er das Leben photographieren wollte, denn das wollte und tat er nicht. Aber ihm lag außerordentlich daran, die Proportionen des Lebens zu wahren, das er darstellte. Sein Respekt vor dieser Aufgabe war möglicherweise ausgeprägter als sein Zartgefühl. Er fand das ganz in der Ordnung.

Die Sittenrichter, die männlichen, weiblichen und sächlichen, sind wieder einmal sehr betriebsam geworden. Sie rennen, zahllos wie die Gerichtsvollzieher, durch die Gegend und kleben psychoanalytisch geschult, wie sie sind, ihre Feigenblätter über jedes Schlüsselloch und auf jeden Spazierstock. Doch sie stolpern nicht nur über die sekundären Geschlechtsmerkmale. Sie werden dem Autor nicht nur vorwerfen, er sei ein Pornograph. Sie werden auch behaupten, er sei ein Pessimist, und das gilt bei den Sittenrichtern sämtlicher Parteien und Reichsverbände als das Ärgste, was man einem Menschen nachsagen kann. Sie wollen, daß jeder Bürger seine Hoffnungen im Topf hat. Und je leichter diese Hoffnungen wiegen, umso mehr suchen sie ihm davon zu liefern. Und weil ihnen nichts mehr einfällt, was, wenn die Leute daran herumkochen, Bouillon gibt, und weil das, was ihnen früher einfiel, von der Mehrheit längst auf den Misthaufen der Geschichte geworfen wurde, fragen sich die Sittenrichter: Wozu haben wir die Angestellten der Fantasie, die Schriftsteller?

Der Autor erwidert hierauf: Ich bin ein Moralist!

Er sieht eine einzige Hoffnung, und die nennt er. Er sieht, daß die Zeitgenossen, störrisch wie die Esel, rückwärts laufen, einem klaffenden Abgrund entgegen, in dem Platz für sämtliche Völker Europas ist. Und so ruft er, wie eine Reihe Anderer vor ihm und außer ihm: Achtung, beim Absturz linke Hand am linken Griff!

Wenn die Menschen nicht gescheiter werden (und zwar jeder höchstselber, nicht immer nur der Andere) und wenn sie es nicht vorziehen, endlich vorwärts zu marschieren, vom Abgrund fort, der Vernunft entgegen: Wo, um alles in der Welt, ist denn noch eine ehrliche Hoffnung? Eine Hoffnung, bei der ein anständiger Kerl ebenso aufrichtig schwören kann wie beim Haupt seiner Mutter?

Der Autor liebt die Offenheit und verehrt die Wahrheit. Er hat mit der von ihm geliebten Offenheit einen Zustand geschildert und er hat, angesichts der von ihm verehrten Wahrheit eine Meinung dargestellt. Darum sollten sich die Sittenrichter, ehe sie sein Buch im Primäraffekt erdolchen, dessen erinnern, was er in diesem Nachwort wiederholt versicherte.

Er sagte wiederholt, er sei ein Moralist.

S. 239f.

 

[…]

 

Anhang 2

[…]

»Ich lebe«, sagte Fabian.    

»Leben nennen Sie das?« schrie der Direktor. »In Bars und Tanzsälen treiben Sie sich rum! Leben nennen Sie das? Sie haben ja keinen Respekt vorm Leben!«

»Nur vor meinem Leben nicht, mein Herr!« rief Fabian und schlug ärgerlich auf den Tisch. »Aber das verstehen Sie nicht, und das geht Sie nichts an! Es besitzt nicht jeder die Geschmacklosigkeit, die Tippfräuleins über den Schreibtisch zu legen. Verstehen Sie das?«

Fischer hatte sich auf seinen Stuhl gesetzt, war blaß geworden und tat, als schreibe er. Breitkopf hielt mit beiden Händen die Weste fest; er fürchtete offensichtlich, die Narbe könne vor Wut zerspringen. »Wir sprechen uns noch«, stieß er hervor, drehte sich um und wollte die Tür aufreißen. Sie öffnete sich nicht. Er rüttelte daran. Er bekam einen roten Kopf. Der Abgang war verunglückt.

»Sie ist verriegelt«, sagte Fabian. »Sie wurde von Ihnen verriegelt, des Blinddarms wegen.«

Der Direktor nickte, wurde noch röter, schob den Riegel zurück, riß die Tür auf, trat hinaus und warf sie zu.

»Da wackelt die Wand«, bemerkte Fabian und widmete sich erneut der Betrachtung des Kölner Doms und der daneben errichteten Zigarette.

Fischer schlug, nachträglich, die Hände über dem Kopf zusammen und rief: »Mensch, das grenzt ja an Majestätsbeleidigung. Dafür wurde man früher eingesperrt.«

»Dafür wird man heute ausgesperrt«, sagte Fabian.

»Na, Sie haben ja vorgebeugt. Er hat sicher eine Heidenangst, Sie könnten, wenn er Sie rausschmeißt, weitererzählen, daß er die Mädchen vom Büro langlegt. Ich dachte, ihn trifft der Schlag. Sie sind ein freches Luder! Aber was machen Sie, wenn er Ihnen trotzdem kündigt?«

»Denken Sie, ich habe mein Leben seit der Konfirmation damit verbracht, gute Propaganda für schlechte Zigaretten zu machen? Wenn ich hier fliege, such ich mir einen neuen Beruf. Auf einen mehr oder weniger kommt es mir nicht mehr an.«

S. 245f.


Kursorische Kontexte

Unser Leben, ein Schauspiel in sieben Akten

Die ganze Welt ist Bühne
Und alle Fraun und Männer bloße Spieler.
Sie treten auf und geben wieder ab,
Sein Leben lang spielt einer manche Rollen
Durch sieben Akte hin. Zuerst das Kind,
Das in der Wärtrin Armen greint und sprudelt;
Der weinerliche Bube, der mit Bündel
Und glattem Morgenantlitz wie die Schnecke
Ungern zur Schule kriecht; dann der Verliebte,
Der wie ein Ofen seufzt, mit Jammerlied
Auf seiner Liebsten Braun; dann der Soldat,
Voll toller Flüch und wie ein Pardel bärtig,
Auf Ehre eifersüchtig, schnell zu Händeln,
Bis in die Mündung der Kanone suchend
Die Seifenblase Ruhm. Und dann der Richter
Im runden Bauche, mit Kapaun gestopft,
Mit strengem Blick und regelrechtem Bart,
Voll weiser Sprüch und Allerweltssentenzen
Spielt seine Rolle so. Das sechste Alter
Macht den besockten, hagern Pantalon,
Brill auf der Nase, Beutel an der Seite;
Die jugendliche Hose, wohl geschont,
’ne Welt zu weit für die verschrumpften Lenden;
Die tiefe Männerstimme, umgewandelt
Zum kindischen Diskante, pfeift und quäkt
In seinem Ton. Der letzte Akt, mit dem
Die seltsam wechselnde Geschichte schließt,
Ist zweite Kindheit, gänzliches Vergessen,
Ohn Augen, ohne Zahn, Geschmack und alles.

 

William Shakespeare (ca. 1564 – 1616), Wie es euch gefällt (Akt 2, Szene 7)


All the world’s a stage,
And all the men and women merely players;
They have their exits and their entrances,
And one man in his time plays many parts,
His acts being seven ages. At first, the infant,
Mewling and puking in the nurse’s arms.
Then the whining schoolboy, with his satchel
And shining morning face, creeping like snail
Unwillingly to school. And then the lover,
Sighing like furnace, with a woeful ballad
Made to his mistress‘ eyebrow. Then a soldier,
Full of strange oaths and bearded like the pard,
Jealous in honor, sudden and quick in quarrel,
Seeking the bubble reputation
Even in the cannon’s mouth. And then the justice,
In fair round belly with good capon lined,
With eyes severe and beard of formal cut,
Full of wise saws and modern instances;
And so he plays his part. The sixth age shifts
Into the lean and slippered pantaloon,
With spectacles on nose and pouch on side;
His youthful hose, well saved, a world too wide
For his shrunk shank, and his big manly voice,
Turning again toward childish treble, pipes
And whistles in his sound. Last scene of all,
That ends this strange eventful history,
Is second childishness and mere oblivion,
Sans teeth, sans eyes, sans taste, sans everything.

 

William Shakespeare (ca. 1564 – 1616), As you Like It (Act II, Scene VII)

Ratschläge gegen das sogenannte Glück

Satire in Bestform, von der Couch auf die Bühne und frei nach dem Credo „Wider dem Ausverkauf der Lebenskunst“, so persifliert ein leitender Psychiater die profitorientierte Bauernfängerei mit des Menschen ewiger Karotte; nein, nicht der Glaube, das andere „G“, das von „Glück“, das sogennante Glück – große Worte überall, große Verantwortung allenthalben. Ratgeber im Speziellen, deren glückshungrige Konsumentenschaft im Besonderen und eine beinahe penetrante philosophisch geschulte Kritik an der wahnsinnigen Normalität im Allgemeinen sind Themen von Manfred Lütz‘ Text und Werk.

Dabei gleicht der zynisch kolorierte, sehr kurzweilige Vortrag einem essayistischen, ja bisweilen einem wilden Ritt durch die Randbezirke großer „P’s“: Praktische Philosophie, Psychologie, Politik, Phänomenologie, Poetik, und immer wieder, den Pathologien von Pöbel und Psychotherapie und Publikum. Die Moral der Geschichte, immer in der Westentasche mitgereist, ist am Ende eben so einfach, wie ich ihr bedingungslos zustimme: Lasst Euer Existenz nicht unkritisch von außen vereinnahmen, seid innerlich aber zugleich offen für die anderen Existenzen dort draußen. Er fordert damit nicht weniger als Freiheit für das Glück um der menschlichen Würde und Singularität willen, Freiheit für all die vielen existenziellen Ideen (Gerechtigkeit, Liebe, Lust, Gott, Gut/Böse, etc. pp.), mit denen Markt, Macht und Mythos seit jeher, mit historisch wechselnder (Hoch-)Konjunktur ihre schmutzigen Spielchen treiben – mal der Eine mehr, mal der Andere, dann wieder die Dritte im unheiligen Bunde.

Wer es lieber primär und sogar gänzlich gratis hat, der kann in seiner Position als mildtätiger Zwangsspender der öffentlichen Rundfunkanstalten freimütig Gebrauch vom Angebot des SWR machen. Bequem im mitgeschnittenen O-Ton oder als neunseitiges Manuskript in Schrift gebannt ganz runterladen und komplett reinziehen: Manfred Lütz, Ich rate Ihnen zu einem Ratgeber mit gutem Rat (Multimedia-Link).

Mit absolut ideologie- wie strikt floskelfreien und außerdem garantiert total authentischen Grüßen, Euer Satorius


Philosophie hat die Aufgabe, die Welt zu verstehen und zu zeigen, wie man gut leben kann. Das ist eine überzeitliche Aufgabe, die vor 2.500 Jahren genauso wichtig war wie heute. Mir geht es darum, Menschen von Glücks-Ratgebern zu emanzipieren und ihnen auf Augenhöhe zu begegnen, wie Sokrates das gemacht hat. Sokrates hat keine Glücks-Ratgeber geschrieben, er hat überhaupt keine Bücher geschrieben, sondern er ist auf den Marktplatz gegangen und hat gesagt: Erkenne dich selbst.

 

[…]

 

Man muss aufpassen, dass im Rahmen der Psychotherapie normale Lebensschwierigkeiten nicht pathologisiert werden. Ich wurde neulich von einem Journalisten angerufen, der sagte, er würde eine Sendung über Burn-out machen. Ich war irgendwie gut drauf an diesem Tag und sagte: „Burnout gibt es doch gar nicht, in der ICD-10, der internationalen Klassifikation psychischer Störungen, ist Burnout als Krankheit gar nicht vorgesehen. Das ist eine Z-Kategorie, also so etwas Ähnliches wie Falschparken.“ Er war etwas verunsichert und sagte, er habe recherchiert, die Leute seien doch heute rund um die Uhr erreichbar durch Handy, Email usw. Ich habe geantwortet: „Im 30-jährigen Krieg waren die Menschen rund um die Uhr durch die Schweden erreichbar, das war viel unangenehmer. Im 19. Jahrhundert gab es 12 Stunden Arbeit unter Tage ohne Urlaub, im 20. Jahrhundert zwei Weltkriege. Wir müssen mal auf dem Teppich bleiben.“ Ich bestreite gar nicht, dass die Arbeit heute manche Menschen krank macht und dagegen muss man etwas tun, das ist ganz klar. Aber der Burn-out-Begriff ist völlig untauglich.

 

[…]

 

Im pompejianischen Bordell sind Totenschädel an die Wände gemalt als Aufforderung: Mensch, denke daran, dass du stirbst, lebe jeden Tag lustvoll, carpe diem – nutze den Tag. Der Totenschädel beim Heiligen Hieronymus in der Wüste sagt in gewisser Weise etwas Ähnliches: Christ, denke daran, dass du stirbst, und lebe jeden Tag ganz bewusst – natürlich nicht im Bordell, das ist der Unterschied.

 

Manfred  Lütz (1954 – ), Ich rate Ihnen zu einem Ratgeber mit gutem Rat – Über das Gelingen (SWR2 Aula am 20. Dezember 2015), S.5, S.7 & S.8

Fast raus aus der Betaphase: Version 0.9 von YY1

Ich befürchtete schon, mein auf eigenen Wunsch hin weiterhin anonymer Kollege aus der Metatext-Redaktion habe seine literarischen Schreibambitionen aufgegeben. Keine Resonanz auf Quanzland, von mir nur gutgemeinte Kritik und Ermunterungen, da kann einen schon mal die Unlust packen, unterstellte ich ihm deshalb.

Seit gestern kenne ich die wahren Gründe und Zustände. Heraus aus der konstruktivistischen Interdependenzfall, weiß ich nun, dass besagter Anonymus weiterhin an seinen Erzählungen und ihren Texten werkelt. Allerdings sei er zurückhaltender geworden, da ihm seine freimütige und offensive Suche nach Probelesern zu einem viel zu frühen Zeitpunkt kaum Resonanz und nur vernichtende Kritiken eingebracht habe. Also sei es ihm nun sehr wichtig, einen Text solange zurückzuhalten, wie dieser nicht mehrfach ausgebaut, korrigiert und gegengelesen worden sei.

So weit, so gut – nach den ordentlichen Publikationen von Ein Neumensch im Ausnahmezustand (XS1 – V. 1.0), Xaver mal anders (XS2), Ein Sturm zieht auf (YY1 – V. 0.8), Ruhe und Frieden (AA1 – 1.0) in der mehr oder weniger tiefen Vergangenheit, zieht er wieder eine Konsequenz und gibt einen älteren Text neu heraus: Aus Ein Sturm zieht auf wird Etwas stinkt gewaltig in Gor Thaunus; aus dem alten, ersten Zugang zu Yin & Yang wird ein neuer, den er – Nerd, der er ist – als Version 0.9 dieses Textes beziffert. Ebenso hat er für die am Ende sieben Zugänge zum Romankosmos eine Kurzsigel mit Kapitelnummer eingeführt, was die seltsamen Angaben in (Klammern) erklärt.

Auch wenn ich wieder reichlich gutgemeinte Hinweise und Verbesserungvorschläge zur Hand hätte, erspare ich uns diese und lasse den Text selbst wirken. Er ist übrigens durch sein neustes Update – diese semantische Steilvorlage musste ich einfach mitnehmen – von 13 auf 27 Seiten (Arial; 12 Schriftgröße; 1,4mm Zeilenabstand; 2,5cm+2,5cm Rand) angeschwollen.

Er hat desweitern während des langen 5-Uhr-Tee-Gesprächs zweier schreibender Seelen Andetungen gemacht: über zukünftige Aktualisierungen, Fortsetzungen und die noch ausstehenden vier Zugänge zu seinem andeutungsfrei namenlosen Episoden-Roman. Dazu aber an anderer, zukünftiger Stelle mehr; sonst laggt die Leselust genau so schlimm wie das literarische Update, das gerade heruntergeladen wird. Denn dieser Text hier ist im Grunde die elegantere, bisweilen unterhaltsamere Version des guten alten Ladebalkens. Stellt ihn Euch an dieser Stelle als fast ganz gefüllt vor.

Orange bar

Viel Lesespaß mit den ungleichen Zwillingen aus der dystopischen Sklavenstadt Gor Thaunus, Euer Satorius


1. Zugang (YY1) – Es stinkt gewaltig in Gor Thaunus

Seiten 1 bis 27

»Hallo, ihr da drüben! Wir sind zwei und zugleich eins – mein Bruder Yang und ich – Yin, einfach nur Yin. Willkommen in Gor Thaunus, wo NÄCHSTENLIEBE noch großgeschrieben wird«, begann ich meinen gefährlichen Begrüßungsversuch der vier Fremden mit einem meiner liebsten Sprüche für die Gattung Neuankömmling.

Ich hatte meine abgegriffenen Worte über den halben Platz hinweg Richtung Südosttor gebrüllt, so sehr und so weit ich mit meinem Stimmchen eben brüllen konnte. Wie meistens, wenn einer von uns sich lautstark bemerkbar machte, interessierte das die Wächter in der Nähe überhaupt nicht. Wir waren nicht der Aufmerksamkeit wert sowie keiner Strafe würdig und wurden, wo das möglich war, komplett ignoriert. Wir waren auf einer Ebene unsichtbar, auf allen anderen jedoch nicht und deshalb unfrei. Erwartungsgemäß beachteten mich die Wächter dort drüben auf dem Wall nicht – mein Glück, das ich zuvor knallhart einkalkuliert hatte. Das war also nicht das Ungewöhnliche im Moment, sondern die Tatsache, dass ich dieses Gespräch überhaupt schon eröffnen konnte. Eigentlich sollten besagte Wachen wenigstens ihre Arbeit machen und die vier Eindringlinge spätestens beim Eintritt kontrolliert haben. Was soll’s, tröstete ich mich, das war nicht mein Problem, im Gegenteil, mir bot es vielleicht eine willkommene Abwechslung. Mit Yang war heute kaum was anzufangen, der döste schon eine Weile vor sich hin oder er tat jedenfalls erfolgreich so als ob, nur um mir im richtigen Moment dazwischenfunken und die Show stehlen zu können. Ich kannte mein Bruderherz nur zu gut, aber hier gab es bisher nichts zu stehlen. Mit meiner Eröffnung wollte ich cool, schlagfertig und selbstsicher wirken, was ich natürlich Allessamt nicht wirklich war. Erst recht nicht so kurz nach dem Ende der heutigen Tagschicht vor einer guten Stunde. Ich war offen gestanden reichlich müde, ziemlich übellaunig und fertig mit der Welt. Außerdem waren die erbärmlichen Gestalten dort drüben kein allzu begeisterungsfähiges Publikum für meine kleine Showeinlage. Wenn sie mich überhaupt verstehen konnten – nicht jeder hier sprach Deutsch. Auch wenn es die gängige Sprache in Gor Thaunus und der weiteren Umgebung war, wer wusste schon von woher die vier Typen kamen.

Woran es auch immer liegen mochte, ich erntete auch weiterhin keine Reaktion auf meine Ansprache, nicht Mal die kleinste Regung, nichts. Wie sie so herumstanden in ihren versifften, vor Dreck stehenden Klamotten, galt es hier weder irgendwen zu beeindrucken noch, gab es irgendwas zu gewinnen. Die Gruppe verharrte seit einigen Minuten unbewegt im Eingangsbereich unseres Lagers, nachdem sich das schwere Panzertor mit einem unheilvollen Krachen fest und unwiderruflich hinter ihnen verschlossen hatte. Zuvor war es klangvoll und träge zur Seite und ebenso auch wieder zugeglitten, minutenlang in gähnender Langsamkeit. Daraufhin hatte ich meinen ersten, nun offiziell gescheiterten, Kontaktversuch unternommen. Auch wenn das keiner mitbekommen haben dürfte, irgendjemand von den BeatBoyz musste wenigstens so viel Aufmerksamkeit aufgebracht haben, das Tor zu bedienen und sie damit zu uns hereinzulassen. Den Rest der üblichen Prozedur schienen derjenige und seine Kollegen, jedoch kurzerhand vergessen zu haben. Das war typisch für das verstrahlte Pack, es war ja auch nur unsere Sicherheit, die sie mal wieder aufs Spiel setzten. Myrte aus Kuppel 67 hatte mir heute Morgen erst wieder grausige Geschichten über die kürzlich gebrochene Kontaminationsgrenze am Rhein erzählt. Seitdem waren die bisher schon lebensgefährlichen Todeszonen noch schrecklicher geworden.

Während das Krachen des schweren Panzertors noch in der Ferne verhallte, waren die beruhigenden Geräusche des prasselnden Regens wieder in den Vordergrund der Wahrnehmung zurückgekehrt – rhythmisch, wohltuend, beruhigend und angenehm einschläfernd. Die düsteren Gedanken drängte ich beiseite. Schon rang in mir eine jugendliche Neugier mit der gähnenden Müdigkeit und meiner wohlverdienten Unlust, mich noch ernsthaft mit der Außenwelt beschäftigen zu wollen. Vor allem wenn sie sich so widerspenstig gab wie diese lahme Gruppe da drüben.

Nach einem knappen Sieg der Neugierde konnte ich aber trotzdem nicht viel erreichen. Ich hatte mich in meinem Sitzsack aufgesetzt und nach vorne in ihre Richtung gebeugt, angestrengt und konzentriert zu ihnen hinüber geschaut, konnte aber wenig erkennen.

Derart schlechtes Wetter war leider üblich und zudem lag die nächste Sturmnacht lauernd in der Luft. Miserable Voraussetzungen also, um von hier aus mehr mitbekommen zu können als die nötigsten Allgemeinheiten: Die vier dunkelgrauen, auffällig kleinen Gestalten standen auf dem dunkelbraunen, mit Schlamm bedeckten Boden des Torplatzes vor dem dunkelgrünen Südosttor und regten sich weiterhin nicht. Niemand kümmerte sich um sie.

Unterdessen reichte der knappe Punktsieg der Neugierde noch lange nicht, um aufzustehen. Außerdem war ich eben schon ein kleines Risiko eingegangen, als ich mit den Neuankömmlingen frei heraus ein Gespräch beginnen wollte. Bevor die Wachen nicht ihre Bühne bekommen hatten, war uns das Sprechen mit den Fremden strikt untersagt. Streng genommen durfte ich als Sklavin sowieso keine Freien ansprechen, höchstens auf sie reagieren. Warum also mehr tun als nötig und gut für mich selbst? Wenn sie irgendwann wieder richtig im Kopf waren, wussten sie ja jetzt, wo sie mich finden konnten. Da bisher keine Wachen aufkreuzten, ließ ich meinen Gedanken freien Lauf. Hier in der tristen Wirklichkeit gab’s mal wieder nicht viel zu holen.

Der Ausblick über die Gruppe und den äußersten Schutzwall der Stadt hinweg bot bei gutem Wetter einen tolles Panorama – nur kam das fast nie vor. Das wusste ich nur zu gut, denn man prägte sich die wenigen schönen Dinge, die es hier überhaupt gab, besser gründlich ein. Ohne solche Rückzugsorte verlor man leicht den Lebenswillen. Leider war derzeit mal wieder so gut wie nichts von dem bemerkenswerten Fernblick zu sehen, also blieben mir Fantasie und Träumerei als Quellen: Rundherum bis an den Rand von Gor Thaunus erstreckten sich die zerstörten Bezirke einer riesigen und wilden, mit Pflanzen überwucherten Ruinenlandschaft, nur in einer Richtung eine Ausnahme, in meinem Rücken, jenseits aller Mauern, jenseits von all dem Mist hier drinnen, weit hinter dem Stadtzentrum oben auf dem Berggipfel mit seinem pompösen Zentralturm. Dort erstreckte sich ein ausgedehnter Urwald. Als verschlungener, bunt gefleckter Pflanzenteppich wand er sich bergauf durch das Hügelland im Nordwesten. Einige Baumriesen standen dort, die tausende Meter in die Höhe ragten, bis hinauf in die Wolken, vielleicht sogar über die Wolken hinaus. Manchmal stellte ich mir vor, wie ich mich traute und dort hin floh, um dann mutig an einem der Bäume hinauf bis in die Wolken zu klettern. Zuletzt kam ich erleichtert und voll Freude und Hoffnung oben an. Ich gelangte über die Wolkendecke hinaus und betrat eine himmlische Welt, in der ein neues, weit besseres Leben auf mich wartete, in der es friedlich zuging und wo statt Elend und Verfall, Schönheit und Glück herrschten. Die farbenfrohen Bilder begannen gerade in meiner Vorstellung zu erwachen, beinahe so, wie in den tollen Märchen, die unsere Eltern uns früher zum Einschlafen vorgelesen hatten.

Das waren harmonischere Tage gewesen, damals in unserem früheren Leben, in einer unwiederbringlich verlorenen Vergangenheit. So angenehm und tröstlich die damit verwobenen Traumbilder auch waren, so falsch und unwirklich waren sie, so dumm und naiv war ich, wenn ich sie mir ständig erlaubte. Es gab dort oben genauso wenig zu finden wie überall draußen in der Todeszone, nur tote Vergangenheit wartete. Hinter und über mir lagen also Vergessen und Tod, um mich herum nur menschenfeindliche Hölle und vor mir, in der Zukunft. Was würde da wohl alles auf mich zukommen: eine steile Karriere als Edelsklavin, vielleicht der kaum mögliche Aufstieg zur Freien, erworben durch herausragende Leistungen und Treue im Dienst für Gor Thaunus? Lächerliche und unwahrscheinliche Vorstellungen spann ich damit, nicht des Träumens wert. Hier im Dreck der Außenstadt und gefangen im Glaskäfig war Schluss, war das Ende des Lebensweges schon jetzt erreicht – einmal Sklavin, immer Sklavin.

Die Gedanken an die raue Wirklichkeit holten mich ein und damit zurück in die unwirtliche Außenwelt. Heute blieb alles hinter den Mauern dem unerfahrenen Blick verborgen. Scheiß Wetter herrschte hier fast alle Tage und gewalttätige Natur immer, rundherum soweit das Auge reichte und die Füße trugen – also im Prinzip auch hier: Hauptgewinn. Als Trostpreis gab es obendrauf den dampfenden Schlamm, der sich überall zwischen den Glaskuppeln breitmachte, abscheulich stank und durch den häufigen Regen widerwärtig vor sich hin gluckste und schmatzte. Er war ein schleichender Vorbote der aggressiven Natur da draußen, den selbst die Schutzwälle nicht aufhalten konnten, was sie hier in der Niederstadt wohl auch nicht sollten. In den weiter innen liegenden Stadtbezirken war nichts mehr davon zu sehen. Außer an mir und den anderen Sklaven, die dort ein- und ausgingen, gab es weiter im Zentrum keinen Dreck. Er war alles in allem ein militantes Dreckszeug, das mir gerne gestohlen bleiben konnte.

Davon mal abgesehen war ich sehr gerne hier auf dem Platz vor dem Südosttor, was bei unseren Wohneinheiten – den erwähnten Glaskäfigen – kein Wunder war, jedoch sah man nach einer Weile unweigerlich aus wie ein Schlammmonster. Da half am besten, den Dreck geduldig trocknen zu lassen und dann grob auszubürsten, immer wieder – Tag für Tag, ohne Unterlass.

Bevor ich jetzt noch anfing, mich über meinen ebenso unablässigen Arbeitsdienst zu beschweren, oder mich am Ende sogar noch über ihn zu freuen, sollte ich mich doch noch mal mit den Gegebenheiten beschäftigen: Die vier Wanderer hatten sich zuvor mühsam durch die hiesigen Todeszonen mit ihren Tonnen an Dreck und Horden von Ungeziefer schlagen müssen – vom tödlichen Rest ganz zu schweigen –, da war ich mir absolut sicher. Unterwegs mussten sie ständig fürchten, von irgendetwas angegriffen und verletzt, wenn nicht sogar getötet zu werden. Oder sie waren nicht auf derartige Gefahren gestoßen, die Glücklichen, und waren wenigstens in dieser Hinsicht heil bis hierhin durchgekommen. Aber was jetzt zu sehen war, wie sie aussahen, wirkten sie reichlich verstört und hätten sie sonst dem Charme meiner Begrüßung widerstehen können? Nein, keinesfalls, die mussten echt kaputt und ziemlich hinüber sein.

Ob die abgrissenen Figuren frische Jagdbeute oder verzweifelte Flüchtlinge waren, wusste ich nicht, aber am Ende war das sowieso gleich. So gut wie alle waren sie Opfer und verloren spätestens in dem Moment ihre Freiheit, in dem sie ihren Fuß in diese verfluchte Stadt setzten und nichts weiter anzubieten hatten als ihr nacktes Leben, ihre Hoffnungen und Träume.

Trotzdem gab es einen mehr als kosmetischen Unterschied zwischen den beiden Gruppen: Als Beute wussten sie von Anfang an, was hier gespielt wurde, und mussten den ersten Marsch quer durch die tödliche Wildnis schon als Sklaven zurücklegen, wurde also selbstverständlich zuvor schon vorläufig mit Implantaten versehen und waren damit seither unter Kontrolle. Mitten durch den Albtraum einer waschechten Todeszone ging es für die frischgebackenen Diener, hin zu ihren neuen Herren. Die hiesigen Traditionen waren nicht nur in dieser Sache ausgewiesen unmenschlich, aber so sah der Ritus in Gor Thaunus es eben vor. Die Anwesenheit in dieser Stadt und deren Schutz musste man sich erst symbolisch verdient haben, durch gelebte Bereitschaft zu Leid und Opfer. Auf dem ersten Weg im neuen Leben sah man die rettende Zuflucht die ganze Strecke schon in der Ferne liegen, wie sie blinkte und mit ihrem Leuchtturm lockte. Trotz allem, was zuvor eventuell passiert war, sehnte man die Ankunft dort herbei. Am Ende, ungefähr einen halben Tagesmarsch später, wenn alles gut gegangen und man es soeben noch im Hellen geschafft hatte, war man regelrecht froh, in seinem zukünftigen Gefängnis angekommen zu sein – pervers, aber wahr. Erst der barbarische Überfall, mitsamt der Gefangennahme und den schmerzhaften Eingriffen der Versklavung, dann die Drohung, einsam in der Todeszone krepieren zu müssen, zuletzt nach einer wirkungsvollen Pause das ach so großzügige Angebot: Sicherheit auf Kosten aller Freiheit. So eine Versklavung nach Art von Gor Thaunus war schon eine ziemlich bittere Angelegenheit. Nicht nur das, diese Qual war ein einschneidender erster Level eines schlimmen Spiels, war nur der Anfang eines Parcours von Gehirnwäsche, gelegentlicher Folter und alltäglicher Schinderei.

Einzig in dieser Hinsicht ging es den zunächst freiwilligen Flüchtlingen besser, gleich ob sie aus purer Hoffnung oder schierer Verzweiflung Zuflucht hinter den mächtigen Mauern dieser Stadt suchten: Für sie begann das Grauen hier drin nach dem Schrecken dort draußen zumeist und zumindest etwas später, insgesamt etwas schleichender und angeblich auch nicht immer zwangsläufig. Denn gerüchtehalber konnte man, sofern vorhanden, durch Besitz oder Talent bei der Einreise gewisse Vorteile für sich erwerben. Das klang für mich glaubhaft, denn Gleichheit war hier ein Fremdwort unter vielen anderen, die ich alle nur dank meiner elf Jahre Lebenszeit in wohlbehüteter Freiheit kennengelernt hatte. Hier in Gor Thaunus, als Sklavin, wurde mir solches Wissen zum Fluch.

Auch Yang und ich hatten die Tortur der ersten Wochen hinter uns gebracht, vielmehr bringen müssen. Wir waren damals vor gut sechs Jahren nicht als Flüchtende hierher gekommen, sondern als Geraubte. Damals hatten auch wir den Ritus der vier Himmel durchgemacht. Dafür wurden wir nach der ersten Ankunft noch drei weitere Male in der Todeszone ausgesetzt und mussten daraufhin, Gor Thaunus ständig als einzig verlässliche Orientierung am Horizont zu sehen, in einem Tagesmarsch unseren Weg zurückfinden. Während dieser Tage waren wir andere Menschen geworden: Gebrochene. Beim ersten Mal war es schon schlimm genug, aber mit jedem weiteren Mal wurde es schlimmer, denn man wusste nun, was einem alles dort draußen drohte, hatte das Leid gesehen und gespürt. Kaum eine der Torturen durch die Todeszone ging ohne Tote und Verletzte unter uns Sklaven ab. Die dauernde Todesangst sorgte, zumal man ohne Nahrung und Wasser ausgesetzt worden war, für unangenehme Grenzerfahrungen. Danach wusste man kaum noch, wer man vorher gewesen war. Genau darum ging es ihnen. Aus jeder Himmelsrichtung einmal hatten sich Neulinge in ihrer ersten Woche als Sklaven zurück zum Lager ihrer Meister durchzukämpfen. Besser dachte ich nicht weiter darüber nach, es waren schreckliche Erfahrungen gewesen. Das Geschehen der letzten 15 Minuten nötigte mir jedoch die Erinnerung an meine eigene Vergangenheit, meine damalige Rolle in der gleichen grausamen Inszenierung auf. All das lag zwar lange hinter mir, aber – leider, ich konnte daran nichts ändern – noch mehrfach vor den armen Teufeln dort drüben.

Ich beschloss, noch einen zweiten Versuch zu wagen, rief noch lauter als eben: »Hey, ihr vier! Keine Angst – kommt einfach zu uns rüber, wann ihr könnt und wenn ihr wollt.«

Das war nett und gleichzeitig ehrlich, aber mehr konnte und wollte ich nicht riskieren – jedenfalls nicht in meiner heutigen Stimmung. Nach einem scheußlichen Tag voller Strapazen und Demütigungen in einer zermürbenden Arbeitsschicht von regelmäßig 12 Stunden. Mein kompletter Rücken schmerzte so sehr, dass fast jeder Muskel dort verhärtet zu sein schien. Die meisten Gelenke und besonders die beiden Knie taten mir weh. Auch Kopfschmerzen mischten sich unter die restlichen Leiden, fielen als normaler Dauerzustand aber kaum ins Gewicht. Das alles war kein Wunder, so schwer wie wir Sklaven gefordert wurden, ohne dass unsere Gesundheit eine große Rolle spielte. Dadurch wurden mir sogar die relativ leichten Aufgaben meines Arbeitsdienstes zur unmenschlichen Belastung gemacht. Wenn ich mir im Vergleich dazu vorstellte, wie es in den Minen und Manufakturen zuging, durfte ich mich wirklich nicht beklagen. Was Yang und andere Industriesklaven mir manchmal darüber berichteten, war widerlich. Das Gefährlichste, was mir passieren konnte, war ein geiler Kunde, von Muskelschmerzen mal abgesehen.

Nichts, immer noch keine Reaktion auf meine Ansprache. Wahrscheinlich waren die heftig traumatisiert und brauchten ihre Zeit, um wieder klarzukommen. Langweilig – trotz aller gebotenen Empathie.

Egal jetzt – ich sollte einfach etwas länger warten, nur Geduld. Nur noch einige Atemzüge, mein Bruder regte sich. Ich konnte mich einfach zurücklehnen, entspannen und zusehen. Mal ehrlich, ich hatte es ernsthaft versucht. Abwarten und schwesterlich auf ihn aufpassen, mehr braucht ich von hier an nicht mehr zu tun. Gleich würde es passieren, das spürte ich.

»Ey, Freaks! Hey – hier drüben, wir sprechen mit euch Freunde! Seid ihr eingefroren, angewurzelt, taub oder sonst was in der Art?«

»Mein süßes Schwesterherz und ich sind zwei verdammt unterschiedliche Marken, nicht wahr? Aber so dicke, dass wir eigentlich eins sind, da stimm ich ihr schon zu.«

Ich hatte genug gedöst und unweigerlich dabei zu gehört, wie Yin sich abmühte. Das Frischfleisch war zu nichts zu gebrauchen – voll daneben und total durch. Das war eine schöne Aufgabe für mich, diese Typen würde ich schonungslos aufklären. Scheiss drauf, ob sie unsere Sprache verstanden, hier in Gor mussten sie sich anpassen, genau wie wir.

»So wie ihr ausseht, checkt ihr gerade zwar eh nichts, aber – das kratzt mich nicht. Ich helf euch trotzdem mal ein wenig auf die Sprünge.«

»Eins ist von nun an anders und das müsst ihr euch von Anfang an tief einspeichern: Wir sind hier keine Menschen unter Menschen. Wir sind Sklaven unter Herren, unfrei und abhängig, nichts weniger als räudige Sklaven, einen Dreck mehr wert, als unsere Arbeitskraft. Also rafft das schnell und fügt euch ein.«

Härter, mehr davon – die würde ich schon weichkochen und damit vielleicht sogar wieder zum Leben erwecken. Selbst wenn sie kein Deutsch sprachen, musste mein ausdruckstarke Ansage bei ihnen ankommen.

»Jeden verdammten Tag müssen wir uns abgefuckten Gesetzen unterwerfen, deren Sinn wir nicht verstehen. Den lieben Tag lang in viel zu langen Arbeitsschichten schuften, stets buckeln, fein kuschen und immer brav parieren, sonst setzts was. Wenn wir mal nicht spuren, bekommen wir keinen Fraß mehr oder die komischen Dinger, die sie einem in den eigenen Körper gepflanzt haben, verpassen euch höllische Stromschläge, mitten hinein in die Gedärme. Ach ja, vielleicht habt ihr so was noch gar nicht, aber keine Sorge, ihr bekommt auch noch euer Geschirr, dauert gewiss nicht mehr lange.«

»Oder seid ihr zufällig reiches Pack und glaubt allen Ernstes, das zählt hier noch was und lässt euch mal so eben neu durchstarten? Nicht hier in Gor, niemals, da habt ihr euch kräftig verdrahtet!«

»Solltet ihr dann irgendwann klar im Kopf werden, hier bei mir in der Realität ankommen, könnte es sein, dass ihr schnell genug davon habt. Wollt ihr dem ganzen Elend dann ein elegantes Ende machen, können euch die Geräte unserer Herren sogar ausnahmsweise mal helfen. In einem Wimpernschlag löscht irgendeines davon euch aus, einfach mal so eben. Wenn ihr es drauf anlegt, dann passierts, garantiert: Zack und Tod! Aber genug davon, das kommt später eh unweigerlich auf euch zu. Spätestens morgen wird man euch auch so ein hübsches Halsband umlegen, wie das hier. Dann pumpt man euch mit allerlei Drogen voll und implantiert das eine oder andere lustige Maschinchen. Alle ganz toll und total nützlich, nur eben leider nicht für uns.«

Ich wies mit einer Grimasse auf meinen Hals, ohne ernsthaft zu erwarten, dass sie besonders viel davon mitbekamen. Verdammte lebende Leichen, die musste ich gründlich reanimieren.

»Klingt grausam, nicht wahr? Ist es auch! Freut euch schon mal auf eure Indoktrination in den nächsten Tagen. Ganz viele, völlig hirnverbrannte Gesetze wird man euch dann einbläuen. Gegen die ist Zwang eine harmlose Vorstufe. Aber das alles hier drin ist trotzdem besser, als wieder da raus zu müssen. Aber wem sag ich das, die Todeszone steckt euch ja sicher noch heftigst in den Knochen. Obwohl wir hier drin nichtige Würmer sind, bedeutungslos und ohne Würde, wären unsere kleinen Scheißleben dort draußen, hinter dem schützenden Wall, noch mal weniger wert. Nämlich keinen mickrigen Taugor mehr – Null, Nichts!«

Trotz meiner krassen Worte zeigte sich weiterhin kein Begreifen, erst recht kein Verstehen auf den versteinerten Fratzen der kleinen Scheißer. Die rührten sich noch immer keinen Stück und ich hatte sie eben echt nicht geschont. Dann musste ich wohl noch einen draufsetzen, wenn ich irgendwie zu ihnen durchdringen wollte. Noch blieb Yin ruhig, was mich langsam überraschte und merklich foppte.

»Mit dicken Eiern und gehörig Glück schafft ihr da draußen den ersten Tag, was aber schon eine harte Überlebensarbeit ist. Dann noch die Dämmerung abwarten, eine Pause, vor allem für düstere Gedanken, denn dann kommt die Nacht. Und nur die Allerbesten überleben von da an noch länger, aber auch sie allerhöchstens, bis es wirklich dunkel wird. Vorbei, dann sind sie dran, dann kommen sie. Dringen ein in jedes noch so gute Versteck, wittern euren Angstschweiß, euer Blut. Die ganzen verdammten Ficker da draußen rotten sich zusammen und machen Jagd, alle aufeinander und besonders natürlich auf leichte Beute wie uns. Wir Menschlein sind die Opfer der wilden Nahrungskette, merkt euch das! Eine Nacht draußen in der Todeszone bedeutet ganz einfach nur eines für euch: Tod! Nachts überlebt da draußen keiner von uns Schwächlingen. Keine Chance, nicht ohne ein paar ordentliche Waffen, gute Ausrüstung, viel Erfahrung und reichlich Killerinstinkt. Wo auch immer ihr das hier in Gor auftreiben wollt, selbst damit bräuchtet ihr noch verdammtes Glück. Wir Scheißer sind ein Snack für die blutrünstigen Jäger da draußen, schlichte Opfer. Im Dunklen habt ihr keine Chance mehr in Bewegung zu bleiben. Damit wird es beinahe unmöglich, euch weiterhin zu retten. Was am Tag funktioniert hat, klappt nachts nicht mehr: Immer weiterrennen, ständig Richtung und Stellung wechseln, sich einfach schnell umsehen und dann verstecken – nope, aus und vorbei. Die ständige Flucht nach vorne hat dann ein baldiges Ende, irgendwo kommt die Sackgasse, irgendwann klappt der Angriff aus dem Hinterhalt oder sie flashmobben euch einfach, und schon haben sie euch da, wo sie euch haben wollen! Dann wirds erst richtig dreckig, eklig und grausam, ziemlich gute Splatteraction, versprochen! Ich könnte euch Geschichten aus der Todeszone reindrücken, dass euch euer Hirn durchbrennt – apropos, besonders heftig sind die Gerüchte über die neu eingewanderten Exemplare. Habt ihr was aufgeschnappt: Monster, Tote, Verletzte, eine interessante Horrorstory für mich, frisch aus der Todeszone?«

Boah ey, noch immer – nichts, keine Regung! Was war falsch mit denen, so fertig konnten die doch nicht sein. Ich erkannte kaum was, aber die vier Fremden wirkten auf den ersten Blick lebendig und ansprechbar, einigermaßen jedenfalls.

»Träumt also gar nicht erst von so was Bescheuertem wie Flucht! Eure Zukunft ist geritzt, Zwang wartet überall, an jeder verdammten Ecke. Leben heißt von nun an Leiden und meint, jeden Tag Scheiße fressen und dabei die Klappe halten. Und Freiheit bedeutet von nun an für Euch nur noch eins: Tod!«, dieses letzte Wort schrie ich jetzt bereits, nachdem ich mich zuvor aufgerafft und einige Schritte in ihre Richtung gegangen war, um mein Finale zu geben.

Harte Worte, aber ebenso wahre Worte hatte ich ihnen als Begrüßung über den schlammigen Platz hinweg an ihre kleinen Köpfe geknallt. Ich hätte mir solche offenen Wahrheiten damals bei unserer eigenen Ankunft hier in der Siedlung auch gewünscht. Je eher sie ihre Lage begriffen, desto kürzer war ihr Leidensweg. Wenn hart loszulegen, ebenso viel Sinn wie Spaß machte, dann war ich gerne dabei: Ganz nach unten in der Hackordnung, gehorsam und kleinlaut werden, Widerspruch und Eigensinn ausmerzen, sich selbst aufgeben. Nichts weniger, mussten sie sich in Kürze reinziehen. Das, was man in unserer Welt noch frei durfte, war fast nichts. Ich wollte ihnen also damit im Grunde nur helfen, genau so wie meine gutherzige, viel zu weiche Schwester es eben auf ihre zimperliche Art versucht hatte. Trotzdem, auch ich war damit nicht weiter gekommen als sie – guter Sklave, böser Sklave, auf die unvergleichliche, aber erfolglose Yin-Yang-Art eben.

Bei Yins Charakter und der allgemeinen Tageslaune, die ich eben geschmeidig in brutalen Worten rausgelassen hatte, wunderte mich ihre Ruhe: Respekt Kleine, gut gespielt! Lange würde ihre Reaktion aber nicht mehr auf sich warten lassen, das ahnte ich – so leicht ließ sie sich nicht den Chip von der Platine rippen. Meine Redezeit war gezählt, das wusste ich und nun sah ich es auch kommen. Ich hatte sie zu krass gereizt, das arme, gutherzige Ding kochte fast. Wenn blicke töten könnten.

»Mensch Yang, es reicht! Du bist echt ein Ekel, voll fies und total peinlich. Lass sie doch jetzt mit deinen Horrorgeschichten in Ruhe!«, fuhr ich meinem Bruder endlich dazwischen, bevor er sich weiter in seinen unnötigen Gemeinheiten ergehen konnte.

Ich hatte mich lange zurückgehalten, aber jetzt reichte es wirklich. Er geriet in Rage und verlor sich in seiner Aggression. Von wegen, nur dasitzen und abwarten, so leicht machte es mir mein Bruder doch nicht. Das passierte in letzter Zeit öfter, bedenklich oft. Ihm setzte unsere Situation ziemlich zu – kein Wunder bei seinem Arbeitsdienst in den Minen.

»Komm runter Brüderchen, mach ganz ruhig und setz dich wieder hin! Sie sollen erst mal richtig hier in Gor Thaunus ankommen. Denk doch mal nach, die sind sicher total durch und verstört obendrein. Was werden sie wohl den ganzen Tag über durchgemacht haben? Scheiße und Schrecken in bis zum Abwinken.«

»Erinnere dich doch bitte einfach mal an unsere eigene Ankunft in diesem Drecksloch! Wir mussten damals insgesamt beide ganze vier Mal da draußen überleben. Wie viele Tage wir danach total neben dem Datenkabel waren, ich weiß es nicht mehr, aber es waren einige. Es waren grauenvolle Tage, mit Schmerzen und Panik am Tag gefolgt von Albträumen und Krämpfen in der Nacht. Wir hatten sogar noch unsere alten Namen, erinnerst du dich denn nicht mehr?«

Bei seinen eigenen Gefühlen und den schlimmen Erinnerungen anzusetzen, war nicht sehr einfühlsam, aber leider derzeit öfter nötig. Nur so konnte ich ihn packen und wieder runterbringen. Lange ging das aber nicht mehr gut mit ihm, er tickte langsam immer mehr aus. Wenn ich mir nur vorstelle, dass er sich gegenüber einem Freien oder gar einem der Herren so gab, wurde mir kotzübel. Er war nicht dumm, das nicht, aber er hatte sich kaum noch im Griff. Zumal wir gerade weiterhin bestimmt zwei oder drei Gesetzesverstöße riskierten, indem wir unseren Aufenthaltsbereich verließen und unaufgefordert, zumal mit Fremden, ein Gespräch beginnen wollten.

»Draußen hatten wir gerade so eben überlebt an diesem verfluchten Dreckstag, damals. Dann mussten wir hier im Lager von Anfang an nur auf uns gestellt klarkommen, ganz alleine, keine Freunde, nur Feinde. Überall kaputte Menschen um uns herum und dann diese perversen Spinner mit ihren Apparaten und Gesetzen hier und Regeln da, die ganze Scheiße damals halt!«

Zuerst beeindruckten ihn meine Worte nicht. Doch dann kehrte er, während ich munter weiter auf ihn einredete, beinahe robotisch zu seinem Platz zurück und setzte sich wieder. Dabei schaute er mir zuletzt direkt in die Augen, stechend und bitter. Ein starrer, wuterfüllter Blick durchbohrte mich kurz und schmerzhaft, bevor es plötzlich vorbei war und er sich wieder gefasst hatte. Sofort klärte sich Yangs Miene auf, seine Züge entspannten sich, wurden Satz für Satz weicher und freundlicher.

»Lass es uns ihnen bitte so einfach wie irgendwie möglich machen«, sagte ich deshalb schon versöhnlicher und fügte nun flüsternd für ihn hinzu, »denk daran, was ihnen noch bevorsteht: ein zweites, drittes und viertes Mal durch die Todeszone, wieder und wieder der gleiche kranke Mist. Das wird so schon heftig genug für sie. Das alles irgendwie hintereinander und auf einmal zu verpacken, ohne daran zu zerbrechen, wird Hardcore. Ein paar echt heftige Herausforderungen warten auf die vier Typen da drüben. Das wissen du und ich ganz genau – viel zu genau, also bitte Yang, lass sie einfach in Frieden!«

»Meine Güte Yin, lass mich doch meinen … ach, verdammt noch mal! Soll ich dir jetzt etwa auch noch sagen, dass es mir leidtut, wo du genau weißt, dass es eine Lüge wäre?«

Mit aufgesetzt, düsterem Blick gab er sich trotzig, aber das kümmerte mich nicht. Mir  war es damit abermals gelungen, meinen Bruder in seinem Gehabe zu bremsen und ihn vorläufig emotional zu entschärfen. Sein ätzender Drang, Schwächeren die Angst einzujagen, die er selbst nicht zulassen konnte, nervte mich, aller Verbundenheit zum Trotz, total. Er tat das, um sich selbst besser zu fühlen, zulasten seiner Umgebung. Vielleicht hatte er im Grunde sogar inhaltlich Recht mit seinem Gerede, aber so überzogen durfte er die Sache nun wirklich nicht angehen. Er war nicht immer so drauf gewesen: gemein, bissig, teilweise verletzend und immer vorlaut. Das Lagerleben hatte ihn in den letzten Jahren sehr verändert; er war härter und kälter geworden, aber auch stärker. Wenigstens erzählte er noch immer eine Version Wahrheit, wenn seine auch ziemlich Hardcore war.

Während mir diese Gedankenkette durch den Kopf ging, wusste und fühlte ich sogleich, mein Ärger war im Grunde egal, denn ich liebte meinen Bruder Yang trotzdem, über alles, innig und unbedingt. Er war systemweit der einzige Mensch, der mir in dieser grausamen Zeit von meinem alten Leben und meiner Familie geblieben war und dem ich lebenslang blind vertrauen würde. Wir waren entgegen dem äußeren Anschein vermutlich Zwillinge. Dadurch waren wir viel enger verbunden, als sich das die meisten normalen und einsamen Menschen je vorstellen könnten. Auch wenn wir äußerlich und charakterlich alles andere als ähnlich waren, spürten wir und glaubten wir – nein, wussten wir sicher –, dass wir mehr waren als bloße Geschwister. So fühlte ich nun im geistigen Hintergrundrauschen seinen Wunsch mitschwingen, im Grunde auch beschützen und auf seine komische Art zu helfen zu wollen – leider auf eine aggressive und viel zu plumpe Art. Dadurch empfand ich auch die ekelhafte Erleichterung und die Genugtuung, die er verspürte, während er auf noch Schwächeren herumhacken konnte. Daneben schwang all die latente Angst mit, der ohnmächtige Zorn eines selbst so gequälten Opfers.

Ich hatte die gleichen, täglich zugefügten und deshalb nie verheilten Wunden aus der gemeinsamen Vergangenheit zu tragen, aus der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft eines räudigen Sklavenlebens in einem Lager am Rand einer Stadt voller gnadenloser Sklaventreiber. Natürlich lag ihm das alles schwer auf der Seele, ebenso wie mir. Nur ging er schlechter damit um, wie ich entgegen aller Bruderliebe hart urteilen musste. Aber die wahren Schuldigen waren sowieso andere und letztlich waren nur sie dafür verantwortlich. Sie waren es überhaupt erst, die ihn, mich, uns alle hier in diese menschliche Sackgasse getrieben hatten. Einzig die sogenannten Herren und ihre Handlanger, die Freien, hatten an dem Mist in Gor Thaunus Schuld.

Yang schwieg nun. Wegen unserer engen Bindung hatte ich ein Gespür dafür, was ihn ritt, und konnte meistens rechtzeitig eingreifen und ihn an den richtigen Stellen unterbrechen – solange ich halt bei ihm war, was selten mehr als ein Drittel des Tages war. Dann half ich ihm, ohne dass er das nach außen hin würdigen würde, und ähnlich, wie er das auch bei anderer Gelegenheit auf seine Art, mit seinen Stärken für mich getan hatte und weiter tun würde – ohne, dass ich es meinerseits großartig zum Thema machen musste. Jeder kannten wir die Schwächen des anderen genauso gut, wie unsere eigenen und unterstützten einander dementsprechend. Wie in jedem guten Team ergänzten wir uns in unseren Eigenschaften und Fähigkeiten, im Guten wie im Schlechten.

»Okay, du hast ja recht! Bleib bitte locker oder werde wieder geschmeidig, was auch immer mehr bringt. Ist doch alles gut jetzt – dann eben noch mal, aber nun auf die nette Tour. Nur für dich, Schwesterchen!«

»So wird das ja eh nichts. Ich geh mal rüber und schau mir das Schauspiel aus der Nähe an, bleib du einfach auf der faulen Haut liegen und lass mich mal machen. Und ja, ich weiß, was du jetzt sagen willst. Ich nehme das Risiko auf mich und werde mich besser beherrschen – wird schon schief gehen!«

Jaja, sie kannte mich bestens und meinte, auf mich aufpassen zu müssen. Trotzdem nahm ich ihre Einladung zum Runterkommen dankbar an. Also zog ich brav meinen Schwanz ein und war schön artig, für die Harmonie und den Seelenfrieden aller. Ich hätte mich eigentlich bei ihr dafür bedanken können, aber warum Worte verschwenden. Wir verstanden uns ohne Worte, waren voll auf einer Welle und brauchten solchen Kram wie Höfflichkeit und Anstand eigentlich nicht.

Es hatte sich überhaupt nichts getan, alles beim Alten: Die vier Grünschnäbel verharrten wortlos und wie gelähmt. Die Umstandsopfer schauten nicht mal rüber. Ich musste meiner Ansage wohl die nötige Aktion folgen lassen. Ich stand also auf und begann ganz ruhig auf die Gruppe zuzugehen, mit meinem freundlichsten Lächeln im Gesicht. Da ich zuvor etliche Meter vom Tor entfernt mit Yin rumgehockt und mich in der Horizontalen von der Plackerei erholt hatte, hatte ich kaum was mitbekommen. Innerlich gespannt sah ich das schräge Quartett erst jetzt in seiner vollen Pracht. Bei dem Scheißwetter und auch noch am frühen Abend war die Sichtweite mehr als mau. Jetzt erkannte ich den Trauerverein erst richtig:

Der blasse, rothaarige Junge – Marke Streber – wirkte voll daneben und glotzte noch starrer als der Rest, dabei heftig schlotternd, auf den schlammigen Boden vor sich. Er schien weich, schüchtern und labil zu sein, wie er so dastand und nichts auf die Reihe brachte. Nach diesem Todestrip sollte ich ihm das aber nicht vorwerfen dem armen Knirps.

In der Mitte, rechts neben ihm standen zwei etwas zu dick geratene, dadurch aber robustere Gören. Mit ihren blonden, strähnig-fettigen Haaren und den albernen Zöpfen sahen sie sich verdammt ähnlich. Nein, is nich – sie wirkten, soweit ich das bisher erkennen konnte, allen Ernstes wie waschechte Zwillinge. Die Linke der beiden hatte draußen wohl was abkommen, hielt sich bloß noch irgendwie auf den Beinen. Ihre Schwester stand rechts neben ihr, blickte panisch um sich, wobei sie in mehrere Richtungen gleichzeitig schielte. Im Gegensatz zum Rest der Gruppe war sie voll da und irgendwie hektisch, obwohl sie still dastand. Sie half der verletzten Zwillingsschwester, soweit sie das halt hinbekam, hatte sie im Arm und stützte sie.

Die Kaputte gab gerade erste Lebenszeichen von sich: Sie zitterte, grunzte und hob anschließend ihren Kopf. Ihr Gesicht war erst starr, wurde dann aber kurz lebendig. Von Schmerz verzerrte, blutunterlaufene Augen schauten mich verwirrt an. Bis dahin hätte man die Kleine für halb hinüber, ja ohnmächtig, halten können, so schlaff, wie sie an ihrer Schwester hing. In den Knien leicht eingeknickt konnte sie sich gerade so eben ob halten.

Und Tschüss – ihr Kopf fiel vorn über, sie stöhnte kurz auf und sackte schlagartig in sich zusammen. Die Schwester griff schneller nach und wollte sie halten, als ich das je geglaubt hätte, war aber zu fertig, um das alleine hinzukriegen. Ich war noch zu weit weg und ehrlicherweise bekam ich ein wenig Schiss – was, wenn die Gerüchte stimmten? Dann konnte das hier böser enden, als mit der Strafe, die ich hierfür sowieso schon kassieren konnte. Spaß kostete, aber welchen Preis, wusste ich nicht.

Jemand anderes übernahm den Job des Heiligen. Dadurch wanderte mein Blick direkt weiter zum letzten Mitglied der Gruppe. Zuvor hatte sie etwas abseits gestanden, rechts hinten ein Stück näher zum Tor. Auch sie war wie tot gewesen, bis eben. Da war sie auf einmal aufgewacht, war nach vorne gesprungen und hatte zugepackt. Und sie war, so etwas gab es hier eigentlich nie, sie war – schön. Etwas älter als die anderen, in meinem Alter schätzungsweise. Eine angenehme Ausnahme, sieh an, ach weit mehr als das, die sah trotz der ungünstigen Umstände ziemlich gut aus. Nein, sei ehrlich, sie sah verdammt heiß aus: Schwarze, lange Haare umrahmten ein dreckiges und blutverschmiertes Gesicht, das einer selbstbewussten Schönheit gehörte. Kurven, da wo sie sein sollten, brachten mich auf Touren. Während ich sie vor meinem inneren Auge auszog, half sie weiterhin wortlos den vermeintlichen Zwillingen. Sie stützte die Verwundete nun zusammen mit deren Schwester und stand damit nun direkt neben dem rothaarigen Schisser. Die Einlage schockte mich zwar ein wenig, aber ich legte ganz cool die letzten Meter zurück. Gleich würde ich meine Chance bekommen, das schöne Ding im Nahkampf zu erobern.

Mir drängte sich plötzlich das Prasseln des Regens, die unangenehme Kühle auf der Haut, ein widerwärtiger Gestank derart heftig auf und in den Vordergrund, dass mir sofort wieder flau in der Hose wurde. Fuck verdammt – da lag auch irgendein extrem fauliger, aber unbekannter Geruch in der Luft. Was zur Hölle war das für ein widerwärtiger Gestank? Das war ja kaum zum Aushalten: Eine kräftige Portion Erbrochenes, ein Spritzer Blut, ein Schwall Eiter und zwei unerwartete Aromen, Zimt und Vanille. Diese Aromen hatte ich das letzte Mal vor vielen Jahren gerochen, Papa hatte häufig damit gekocht – damals. Aber so was absolut Ekelhaftes wie jetzt hatte ich mir noch nie zuvor reingezogen und wollte es auch nie wieder riechen müssen.

Die Umgebung wurde mir auf allen Kanälen versaut und das turnte gewaltig ab. Nase zu und durch, sagte ich mir und der leichten Übelkeit auf dem letzten Meter, bevor ich das Quartett offiziell begrüßen wollte – auf die freundliche Tour:

»Hey! Wie vorhin schon gesagt, seid ihr von nun an Sklaven. Wie ich, meine Schwester und die anderen Bewohner hier im äußeren Ring von Gor Thaunus, den manche Niederstadt, andere Glashütten nennen. Meine Direktheit ist nicht böse gemeint, sondern so sind die Fakten und die solltet ihr kennen. Das spart euch viel Ärger und Schmerzen, glaubt mir.«

»An sich erst mal scheiße, stimmt – aber so is es halt! Es gibt auch was Gutes daran, denn erstens, ihr lebt und zweitens, ihr habt hier einen zivilisierten Ort betreten. Der hiesige Stil ist zwar ziemlich altmodisch und krass, aber allemal besser als die tödliche Wildnis, aus der ihr gerade kommt.«

Mit dieser direkten Ansprache hatte ich tatsächlich etwas erreicht. Während ich krampfhaft durch den Mund atmete, zeigten mein Worte Wirkung. Der Blick des lebhafteren Zwillings und die Aufmerksamkeit der Schönheit hatte ich gewonnen. Auch der Junge hob wenigstens kurz den Kopf. Ich blickte in scheue, verweinte Augen voll unterdrückter Panik. Sein Blick sprang erst zu mir, glitt dann verstohlen zum verletzten Zwilling, um nach einigen Augenblicken wieder autistisch hängenzubleiben. Er schien sich vor dem kaputten Mädel zu fürchten und glaubte wohl, er könnte sich unsichtbar machen. So schlimm war sie doch auch nicht verletzt, äußerlich hatte sie nur ein paar blutige Schrammen an ihrem rechten Oberarm. Es blutete nicht mal mehr, wie ich nun sehen konnte. Halb so wild, sagte ich mir ich stillschweigend, während ich aus nächster Nähe glotzte. Das würde schon klargehen.

»Kein Stress, ihr dürft schweigen – Todeszonenbonus. Kommt einfach erst mal mit rüber. Vom Tor weg, raus aus dem kalten Regen und dem Schlamm. Ich zeig euch anschließend schnell eure vier Suiten dort drüben im Penthouse. Selbstverständlich serviere ich dann den Willkommens-Aperitif und dann gehts sofort zum Hausarzt. Naja, so oder so ähnlich wirds zumindest laufen.«

Mit dieser witzigen Einlage war ich weiter auf Erfolgskurs. Ich hatte sogar den Jungen etwas aufgemuntert, wie ein zweiter, längerer Blickkontakt zeigte. Er beruhigte sich ein wenig. Der Schönheit hatte ich mit meinem Charme sogar ein erstes, kleines Schmunzeln abgerungen, dennoch schwieg sie weiterhin. Der fitte Zwilling schien gerade was sagen zu wollen.

Plötzlich gab der verletzte Zwilling ein zweites Mal einen Laut von sich: ein tiefes, kehliges Gurgeln, irgendwie alt, überraschend bis verstörend jedenfalls. Sekundenschnell und bellend schon herrschte Stille. Der Junge war sofort wieder panisch und ging rasch ein paar Schritte zur Seite. Auch die Schöne wirkte so, als bereue sie ihre Hilfsbereitschaft mittlerweile. Nur die Schwester hielt unbeirrt ihre Stellung, verbiss sich aber ihre Erwiderung und flüsterte  ihrem unheimlichen Doppel etwas ins Ohr, mehrfach, irgendwie beschwörend, aber ohne, dass ich den Sinn verstehen konnte. Die anderen sahen mich mit flehenden Augen, weiterhin aber stumm an.

Meine Güte, da hatte ich mich wohl verschätzt. Die Kleine musste wohl doch zu einem Arzt. Was der andere Zwilling jetzt wohl durchmachte, konnte gerade ich sehr gut nachempfinden. Meine Bühne musste ich mir nun zwar teilen, aber das Eis war wenigstens am Antauen. Vielleicht konnte ich es direkt brechen, wenn ich mit meiner witzigen Tour einfach noch ein bisschen weitermachte:

»Ich bin Yang – hocherfreut!«, gefolgt von einer tiefen Verbeugung, „meines Zeichens euer persönlicher Ansprechpartner hier vor Ort. Das Willkommenskomitee von Gor Thaunus sozusagen, einzig da, um euch jeden Wunsch von den Lippen abzulesen und eure Sorgen zu lindern.«

Sie lachend, er immerhin lächelnd wandten sich mir der Junge und die Schöne jetzt offen zu, sodass ich schnell nachsetzte:

»Kommt einfach mit rüber vor unsere Kuppel oder lasst es und kommt nach. Auf dem Weg dürft ihr euch gerne auch eine Runde zu Wort melden, wenns denn geht. Wenn ihr euch namentlich vorstellen könntet, wäre das ein perfekter Anfang. Ihr müsst das aber natürlich nicht – alles kann, nichts muss, ist mein Motto des Tages. Denn wie jede gute Servicekraft würde ich euch nie bedrängen.«

Die beiden schienen angebissen zu haben, die hatte ich, nur die andere Hälfte der Gruppe, die ungleichen Zwillinge sträubten sich noch. Mittlerweile hatte ich den absonderlichen Geruch zu ignorieren gelernt. Deswegen sprach ich die beiden direkt an, weniger aus Angst, sondern vielmehr aus Sorge:

»Mein voller Ernst: Euch, besonders deiner Schwester kann wenigstes medizinisch geholfen werden. Kommt bitte mit rüber zu Yin und dann schauen wir gemeinsam weiter. Sieht echt übel für die Kleine aus, was hat sie denn abbekommen und was sind das für schräge Töne?«

»Nein, nichts? Noch immer kein Kommentar? Ok, also gut – dann sollten wir trotzdem nicht rumtrödeln, Zeit ist Geld hier in Gor.«

Nachdem die unverletzte der beiden Schwestern mit einem schwachen Kopfnicken zugestimmt hatte, beugte ich mich zur Schönheit und hauchte ihr in Ohr: »Auch du könntest auch ein Bad und ein kleines rosa Pflaster vertragen – schmutzige Prinzessin!«

Ohne lange auf eine Reaktion zu warten, drehte ich mich kurz entschlossen um, vielleicht ein bisschen zu barsch, und ging schnurstracks los. Zurück in Richtung des Runddachs aus durchsichtigem Kunststoff. Dort wartete Yin, gammelte gemütlich und ziemlich träge in ihren Sitzsack gefläzt. Durch eine dicke Schicht aus Dreck entstellt, erkannte ich seine ursprüngliche Farbe – Lila – vermutlich nur, weil wir einmal bei dem Versuch gescheitert waren, sie zu reinigen. Immerhin an wenigen Stellen konnten wir damals erahnen, welche Farbe eigentlich gedacht gewesen war. Die zwei Sitzsäcke waren ein Großteil von dem, was wir frei benutzen durften und lagen deshalb häufig einfach vor unserer gemeinsamen Glashütte, die mit ihren knapp vier Metern Durchmesser und einer mittleren Höhe von zwei Metern wenig Lebensraum für zwei Personen bot. Sie lag zusammen mit hunderten anderen, identischen Wohneinheiten inmitten eines chaotischen Wirrwarrs aus den unwahrscheinlichsten Gegenständen, hauptsächlich Müll.

Die meisten Bewohner des ringförmigen Stadtteils waren Abschaum und blieben unter sich, vereinzelt und verzweifelt saßen sie unter ihren Glasdeckeln und brüteten vor sich hin. Ich musste nur ein bisschen rumkucken und sah das miserable Leben von gleich mehreren Nachbarn hautnah, wenn ich das denn gewollt hätte. Durch die transparenten Wände hindurch war alles sichtbar, so etwas wie Rückzug gab es nicht. Die Umgebung verkam, alles ging den Bach runter und keinen störts. Warum auch, wir waren Sklaven! Hier war einfach alles unglaublich dreckig, es klebte, triefte und stank überall, wenn auch nicht so krass wie die Kaputte hinter mir.

Sie gab nicht nur weiterhin unschöne Geräusche von sich, wenn auch leiser als zuvor, sondern meiner Meinung nach auch diesen scheußlichen Gestank. Ich konnte nur ahnen, wer von ihnen mir wirklich gefolgt war; aber es roch noch immer so durchdringend widerwärtig, dass ich weiter durch den Mund atmen musste, wenn ich nicht kotzen wollte. Ich hörte Schritte, konnte aber nicht zuordnen, von wie vielen, und umdrehen wollte ich mich nicht.

Ich wurde unruhig, obwohl doch mal wieder alles gut gegangen war und ich mich richtig nett verhalten hatte. Dennoch riskierte ich gerade sogar für meine Verhältnisse echt viel, vielleicht zuviel. Noch interessierte sich niemand für uns, auch darin lag das Problem. Eigentlich sollten die Wachen meinen Job machen und die Neuankömmlinge in Empfang nehmen. Ach, das passte schon – die technischen Augen nahmen mich die ganze Zeit über auf, also wurde mein Verhalten bisher wohl geduldet.

Seit jeher gabs hier in Gor einen nervigen Zwiespalt: Einerseits klare Regeln, die unmenschlich hart waren, andererseits aber die häufig gemachte Erfahrung, dass deren Bruch folgenlos geblieben war. Wir wurden von vorne bis hinten überwacht, von oben bis unten kontrolliert, aber nur dann konsequent bestraft, wenn es um unseren Arbeitsdienst ging oder Menschen direkt mit im Spiel waren. Im letzten Jahr hatte ich auf die tausend Tage so ungefähr fünfzig Strafen außerhalb der Minen kassiert, meistens Essenskürzungen und Zusatzarbeit, nur selten Härteres wie Schmerzstimuli oder Intoxikationen. Das war typisch für die Herren und ihre Arschkriecher, die Freien, man benutzte pompöse Phrasen und wollte damit Scheiße zu Gold machen. Wie oft ich hingegen davongekommen war, hatte ich aufgehört zu zählen. Auf Jeden hatte sich das Risiko gelohnt: Ein Fünkchen mehr Freiheit, durch Widerstand verdient. Die Angst vorm Schmerzreiz blieb aber immer im Hinterkopf, sorgte für Nervenkitzel vom Feinsten. Auch wenn die Wachen in der Niederstadt sich kaum um uns scherten und die allgegenwärtige Spionagetechnik wohl nicht so ganz funzte, war und blieb es ein blindes Risiko, unbekannten Launen unterworfen. Nur dank meiner Eier und deren Verrafftheit war ich aus dem dumpfen Gehorsam der ersten Jahre rausgewachsen. Leider war ich einer der wenigen, die hier überhaupt mal was losmachten. Die meisten der Sklaven waren verdammte Schisser und erbärmliche Kriecher. Ja, aber echt, sogar Yin, das scheue Lämmchen, spielte mittlerweile gelegentlich mit, wie vorhin, und wagte den einen oder anderen Regelbruch nach dem Motto Freiheit in der Freizeit. Mit dem Rest der Sklaven war nicht viel los. Bis auf ein paar meiner Kumpel war das Sklavenvolk der pure Jammerlappenverein. Ein Meisterstück des Gehirnficks, mit dem die Herren saubere Arbeit geleistet hatten. Im Denken der meisten Sklaven waren Sachen wie Widerstand, Protest, Rebellion und so was hart ausradiert worden – gnadenlos wegtrainiert. Mich hatten die perversen Schweine mit ihren Psychotricks auch beinahe gebrochen. Ein paar Mal, aber durch jeden Erfolg war ich innerlich stärker geworden und war so klug gewesen, es sie nicht merken zu lassen. Ich hatte ganz simpel gelernt, mich an die Regeln dieses beschissenen Sklavenlebens nur genau soweit anzupassen wie unbedingt nötig.

Aus meiner unbestimmbaren Unruhe war über die Grübelei hinweg offener Ärger geworden. Wenn ich mich allen Ernstes schon über die Waschlappen um mich herum abzufucken begann, suchte ich wohl händeringend nach Zoff. Vielleicht sollte ich irgendwas von dem Zeugs ausprobieren, mit dem mir Schwesterchen ständig in den Ohren liegt. Sehemeditation oder wie das auch immer heißen mag.

Aber was sollte das bringen? Hier sah es einfach beschissen aus und das fuckte mich ab: Schlamm, Müll und Abschaum. Die einzige Ausnahme in Sachen Siff und Ekel waren die kugelrunden Wohngebäude, deren Material immer schon sauber und glänzend war. Seit Jahren war das Zeug unverändert, nicht ein bisschen Dreck, keine Kruste oder auch nur Fleck, überhaupt gar nichts. Damit standen diese Gebäude im so krassen Gegensatz zu allem anderen hier im gläsernen Ghetto, dass mich ihre technische Perfektion so richtig derb ankotzte. Die Schmutzresistenz des Werkstoffs war atemberaubend, die Wände blieben rein und waren fast durchsichtig, schön und toll, aber das Ganze verhöhnte uns dreckigen Wilden nur noch mehr. Ha, ein Gutes hatte die Sache: Ohne den Regen, der wie heute in dicken Perlen daran hinunterlief, konnte man die Wände glatt übersehen und das führte öfter zu schmerzhaften, allzu genial anzusehenden Unfällen. Bei gutem Wetter liebten Yin und ich es, einfach nur gediegen abzuhängen und den blöderen Sklaven beim Tollpatschen zuzusehen – was hatten wir dabei schon gelacht und gejubelt. Klar, nicht nett, aber solche fiesen Freuden braucht man hier, wollte man mental einigermaßen über die Runden kommen.

Menschenzirkus, das traf es, und wir waren die Clowns. Der Grund für den Menschenzirkus mit den Glaskäfigen war so stumpf, wie er logisch war: Macht, genauer Information. Die dazugehörige Überwachung wurde nicht die Bohne verheimlicht, wieso auch: Optiktürme, Drohnen und unsere implantierten Maschinchen rieben uns ständig unter die Nase, was wir waren: menschliches Vieh. Gut zum Arbeiten, gut fürs Geschäft, waren wir, aber immerhin nicht direkt so was wie Schlachtvieh, soweit ich jedenfalls den Durchblick hatte. Und das war nicht eben gerade weit, also kein Licht am Ende des Tunnels in Sicht.

Nachdem der Psychotrick ziemlich grandios versagt hatte, war ich immerhin fast am Ziel angekommen. Yin saß dort und grinste hämisch, dabei schaute sie direkt in meine Richtung. War das Neugier oder Hohn oder vielleicht beides, was mich aus ihrem Blick ansprang?

Da kam er schon wieder zurück, zurück von seiner netten Tour, scheinbar ohne Erfolg. Schade eigentlich, denn es sah eben noch so gut aus. Nun stand die Gruppe nämlich wieder unbewegt beim Stadttor rum und, so weit ich das gegen den Regen hören konnte, war weiterhin schweigsam. Anfangs hatte es so ausgesehen, als hätte Yang sie belabern können, aber dann hatten die Typen plötzlich wieder angehalten. Wenn sie Yang auch nur ein bisschen zugehört hatten, müsste ihnen die Zukunft genauso zusetzen wie die die Vergangenheit, die Todeszone. Toller Plan, Brüderchen – ein Trauma mit Frust und Verzweiflung anzugehen, klang als Ansatz doch reichlich gewagt.

Ich fühlte aber irgendwie, dass er irgendetwas erreicht hatte. Wenn er wenigstens mit ein paar näheren Details aufwarten konnte, war ich voll dabei. Hier passiert nie was Spannendes. Es gab so viele Geschichten und ich hatte auch so meine eigenen Erfahrungen mit Schockerniveau, aber nach Gor verirrte sich so gut wie nichts Heftiges. Diese Ruhe hatten wir bisher mehr den Patrouillen von KK und Europax zu verdanken, als den unfähigen, sogenannten Wächtern und schon gar nicht den Jägertrupps. Beide schikanierten Menschen, wobei die einen raubten, die anderen vor sich hin gammelten. Dass hier Fremde standen, die soeben ohne jede Kontrolle hierein gekommen waren, juckte die Sicherheitstrottel scheinbar kein Stück. Bisher blieb unsere Aktion folgenlos, denn niemand kam zu uns. Dann sollten sie halt allesamt weiter im Regen stehen und erfrieren – ihr persönliches Pech!

Doch plötzlich, ohne Anzeichen oder Absprache, wie auf einen geheimen Befehl hin, kam Bewegung in die Ruhe. Als ich schon fast nicht mehr damit gerechnet hatte, schloss sich zuerst die Größte der vier Gestalten an – zögerlich zunächst, doch dann, Schritt für Schritt, mit wachsender Entschlossenheit, folgte sie meinem Bruder über den schlammigen Vorplatz. Kurz darauf gab sich auch ein Zweiter der Neuankömmlinge einen Ruck. Yang, an der Spitze, war schon beinahe hier angekommen, als sich auch noch die letzten beiden Figuren in Bewegung setzten, die eine schleppend, die andere humpelnd. Mit der einen war nicht mehr viel anzufangen, jedoch nicht so wenig, um dafür extra aufzustehen und zu helfen – das lohnte nicht und war nicht meine Aufgabe. Sollten sie ruhig zu mir kommen, denn wir würden ihnen heute sicher noch genug helfen, da war ein klein bisschen Bequemlichkeit am Anfang vollkommen ok.

Außerdem hatte ich seit wenigen Sekunden ein ziemlich ungutes Gefühl im Magen. So fühlte es sich meistens an, wenn etwas Schlechtes passierte. Vielleicht würden sich die Wächter genau dann für uns interessieren, wenn Yang mit seinen wandelden Sicherheitsrisiken angekommen war. Dazu kam jetzt noch das Sausen in den Ohren und das Kribbeln in der Nase, damit waren die Anzeichen komplett. Ich war nicht krank, sondern hellhörig. Abergläubisch bin ich nicht, ich glaube nicht an Magie. Dennoch folgte auf dieses Gefühl und seine typischen Begleiterscheinungen meist etwas Bedeutsames. Meiner Intuition konnte ich vertrauen, denn sie hatte mir oft genug den hilfreichen Wink gegeben, der mich wachsam gemacht hatte – häufig zurecht und gerade rechtzeitig. Leider wusste ich wie immer nicht, ob eine Gefahr drohte, eine Gelegenheit auftauchte oder ein unglaublicher Zufall ins Haus stand. Erst ganz kurz vor dem Ereignis kam die passende Feinemotion hinzu. Erst dann wurde aus ungewisser Erwartung, eine als gut oder schlecht einschätzbare Zukunft.

Meine Ahnung wurde unangenehm schnell zur Gewissheit: Eine der Wachen hatte soeben zum ersten Mal zu meinem Bruder und den vier Neuankömmlingen in seinem Schlepptau gekuckt. Daraufhin hatte sie erst nichts gemacht, um nach wenigen Atemzügen ihren Kopf herumzureißen. Sie hatte konsequent in ihrem plappernden Nichtstun innegehalten und ihrem Begleiter einen Stoß gegeben, woraufhin dieser nun aktiv wurde. Er holte etwas aus dem Tornister seiner Panzerung hervor: Keine Waffe, dafür war das Gerät zu klobig, irgendwas anderes hielt er nun in den Händen und nahm damit uns alle in Visier.

… Plop, Tok, Tick, Tack …

Die Zeit schien mit einem Mal träger dahinzufließen als noch zuvor. Langsamer, immer langsamer; wie Honig floss sie zähflüssig dahin. Ich spürte sie, hörte sie Tropfen für Tropfen tausendfach um mich herum aufschlagen, leise, laut, platschend auf Schlamm, klackend auf dem Metall und prasselnd auf dem transparenten Kunststoffdach über mir, dumpf pochend drüben auf dem Wall und noch dumpfer schmatzend auf den Polstern der Sitzsäcke, um mich herum.

Die Wachen handelten, ein höchst seltener Anblick. Der Späher ließ sein Gerät einfach fallen und zückte etwas anderes. Dieses Mal war es eindeutig eine Waffe. Die Zeit blieb träge, das Gefühl war nun eindeutig schlecht – beschissen, um genau zu sein.

Yang war mittlerweile praktisch hier und setzte mental wahrscheinlich gerade zu einem seiner blöden Kommentare an, als es passierte – das bange Warten hatte ein Ende:

Erst ein seltsames Knurren, tierisch und wild, alt und brutal.

Dann ein widerwärtiges Krachen, gefolgt von einem schrillen, markerschütternden Schrei!

Stille, unendlich lang …

Angst flutete mein Bewusstsein, schlagartig und heftig zugleich!

Lähmende Panik schlich sich heran, meine Muskeln krampften auf einmal wie irre.

Fast gleichzeitig brauste eine heftige Sturmböe auf, peitschte mir mein blondes Haar ins Gesicht. Ganz so, als hätte plötzlich jemand in einem geheimen Regieraum einen Regler für dramatische Effekte in die Höhe gerissen, drehte das Unwetter schlagartig richtig auf und bot damit dem grauenhaften Geschehen eine grandiose Kulisse: Aufheulender Wind, zornig und wild umherfliegendes Laub in einer feuchten, geradezu modrigen Luft, Platzregen, der den Schlamm spritzen ließ. Vom einen Augenblick zum anderen rutschte die komplette Atmosphäre auf der Wohlfühlskala schlagartig in den roten Bereich.

Glich die Zeit eben noch einem trägen, süßen Honig, so schien dieser Zustand auf einmal umgedreht worden zu sein. Ein Damm war gebrochen und die zuvor angestaute Zeit wollte wohl ihren Rückstand wieder gut machen. Wie eine Welle salziges Wasser schwappte sie durch mein Denken. Plötzlich bedroht war ich einfach so herausgefallen aus der gemütlichen Langsamkeit der Erinnerung – mitten hinein in einen Sturm an furchtbaren Ereignisse.

Ich hatte es vorher nur unbestimmt gespürt; ich hatte es aber wieder einmal geahnt. Mein Bauchgefühl täuschte mich selten, aber was hier nun genau losgebrochen war, wusste ich nicht – warum eigentlich nicht? Was hatte da so entsetzlich geklungen, wer hatte eben so jämmerlich geschrien und wieso überhaupt?

Stress und Verwirrung überfluteten mein Bewusstsein und zwangen es gnadenlos und unwiderstehlich in den Moment, heraus aus der vergangenen Nachträglichkeit hinein in die aufdringliche Gegenwart: Eben war und musste ich, jetzt bin ich am Leben und muss überleben. Also wische ich mir Haare und Tränen aus den Augen und blinzle nur kurz, damit ich ein wenig mehr sehen kann. Mein Bruder steht nun knapp vor mir; dreht mir kurz den Rücken zu. Er hat sich schneller als ich zur Quelle des bestialischen Schreis herumgedreht und hat scheinbar bereits die Lage gecheckt.

Ich habe überall Krämpfe und kann kaum gehen. Das Atmen fällt mir schwer.

Soeben stößt Yang einen Seufzer aus. Er klingt erschüttert, Entsetzen klingt aus seiner gebrochenen Stimme. Er scheint eine bittere Erkenntnis gewonnen zu haben, die sogar ihm, dem schlagfertigen Schwätzer, die Stimme raubt. Mir schwindet die Kraft, ich kann kaum noch was gegen die lähmenden Krämpfe tun. Das Atmen wird zur Quall, die Welt beginnt zu zittern und sich unrund zu drehen. Ich habe Glühwürmchen vor den Augen und einen summenden Insektenschwarm im Kopf.

»Argh! Nein, scheiße … verdammt … nicht doch – Fuck, Yin!«

»Wie konnte ich nur so dumm und naiv sein; das war doch nur eine Frage der Zeit! Wir kannten die Gerüchte. Sie kam frisch aus der Todeszone und war offensichtlich verletzt. Aber ich Depp rieche den Braten trotzdem nicht. Ich stand vor ihr, habe sie voll schräg grunzen gehört und etwas Scheußliches aus ihrer Richtung gerochen. Aber nein, ich schalte nicht und denke mir, dass alles easy ist und ich endlich mal wieder eine heiße Braut angraben kann.«

Während er das sagt, ist mein Bruder bei mir angekommen und hat mich kurz umarmt. Er wirkt wirklich alarmiert und hat wohl irgendwas Wichtiges gesagt. Bei mir kommt aber nur noch wenig davon im Denken an. Abscheuliches, Widernatürliches bahnt sich seinen Weg in mein Bewusstsein, vorbei an allen Filtern. Den hinter Yang sehe ich etwas, beginne ich die Ursache für das plötzliche Chaos zu realisieren. Ungläubig und widerwillig sträubt sich mein Kopf zum Glück, das anzunehmen, was meine Augen nur kurz sehen, bevor ich mich angeekelt wegdrehe.

»Was zur Hölle …«, ich würge, bekomme kaum noch einen Ton raus, »… ist …«, jede Silbe bereitet mir bestialische Schmerzen, »… das Ding da?«, bringe ich endlich doch heraus und bin dabei mittlerweile so steif wie ein Brett. Ich sollte einfach die Augen zumachen, die Scheiße schön da draußen lassen, wo sie hingehört, und auf meinen Bruder vertrauen.

Aber ich kann nicht, schaffe es nicht lange, will trotz allem Bescheid wissen und drehe meinen Kopf gegen den schmerzhaften Widerstand langsam nach links. Yang hat mich nunmehr auf den Arm genommen und ich schaue an ihm vorbei nach hinten zum Tor: Ein rothaariger Junge, total verdreckt und erbärmlich, und eine genauso heruntergekommene Schickse rennen auf uns zu, Panik und Schrecken im verzerrten Gesicht. Und dahinter erwacht ein Ding. Ich traue meinen Augen kaum, bereue meine Neugierde ein zweites Mal. Die Lähmung in meinen Gliedern vertieft sich weiter, wird jetzt schmerzhaft. Eine ekelhafte Kälte wandert meine Wirbelsäule hinauf, greift nach meinem Gehirn, droht es erbarmungslos schockzufrosten.

Gerade erklingt der schrille Lageralarm über unseren Köpfen und wummert auf mein Hirn ein. Das bringt mich etwas runter und holt mich in die Welt zurück. Da ich nach zwei kurzen Blicken, die ich offen bereue, keine Worte für das Etwas finde, wovor wir wegrennen, bleibe ich wenigstens im Denken und Erinnern von dem Grauen verschont, das eben hinter uns auf dem Platz ausgebrochen ist und nun dort wütet. Die grässlichen Bilder, nur Blitzlichter, verblassen glücklicherweise schnell. Meine Augen habe ich nun fest verschlossen. Die größte Angst macht mir deshalb, dass ich mich nicht mehr bewegen kann, und nicht verstehe warum. Das macht mich vollkommen fertig. Ich bin nicht so hart drauf wie mein Bruder, aber irgendwas passt nicht. Ich denke fast klar und habe trotzdem keine Kontrolle über meine nutzlosen Füße und Arme.

Fühlt sich so echte Panik an oder was wird hier gespielt, frage ich mich in dem Moment, in dem einer der zwei Wächter den ersten Schuss über den Platz abfeuert. Die andere der beiden Wachen fingert im Hintergrund an irgendeiner Konsole herum.

Mach schneller Yang, ich habe Angst.

Gerade als ich mich umdrehte und dazu ansetzte, loszurennen, wurde mir klar, was ich eben verrafft hatte: Yin rührte sich nicht mehr. Solchen Bockmist roch ich meistens gerade noch rechtzeitig und drehte deshalb schon den Kopf: Sie stand wie vom Blitz getroffen da und sah dabei nicht aus, als könnte sie einen Teufel dagegen tun.

»Verdammt schlechter Zeitpunkt für ne Pause, aber wofür hast du mich? Genau: um dir deinen kleinen Arsch zu retten!«

Ich drehte mich sofort um, griff nach Yin und wollte sie mit mir wegziehen. Aber sie war total steif, starr wie ne Leiche. Nur in ihren Augen sah ich noch Bewegung, ein hektischer Blick gezeichnet von Verzweiflung. Ja, ich würde sie raushauen, auf jeden. Was die anderen Leute machten, war mir schießegal. Die vier oder vielleicht derzeit nur noch drei Neuankömmlinge waren mir genauso schnurz wie die anderen Sklaven und die unfähigen Wächter. Yin brauchte mich, nur das zählte jetzt.

Sie zu packen und mitzuschleifen, hatte ich erst nach wertvollen Sekunden hinbekommen. Dabei vermied ich es gekonnt, unnötige Zeit zu verplempern, indem ich mir die Horrorshow hinter uns direkt reinzog. Dafür war Zeit, wenn wir einen Vorsprung hatten und Yin wieder sie selbst war. Jetzt mussten wir uns schnell von hier verpissen! Wir hatten eine klare Rückzugsrichtung: Westen. Unser einziges Ziel musste es sein, zum Bauerntor und damit hinter den zweiten Wall zu kommen. Natürlich sollten wir uns auf dem Weg dorthin beeilen und bloß nicht töten lassen – geschenkt.
Der Schwierigkeitsgrad dabei war hoch. Denn mit meiner 50-Kilo-Schwester im Arm konnte ich aber nun nicht gerade schnell rennen. Doch nach den ersten drei Metern, weg vom Platz um die Nachbarhütte herum, schaffte ich das Kunststück, sie soweit aufzulockern, dass ich sie mir über die Schulter werfen konnte. Erst begann der Alarm zu dröhnen, dann fielen hinter uns die ersten Schüsse. Auf den weiteren Metern um die nächste Glashütte herum wurde Yin noch lockerer, begann bald zu zappeln und dann gings los: Sie schrie, wie ich sie nie zuvor schreien gehört hatte. Der Klang ihrer Stimme erschütterte mich, durchlöcherte mir Trommelfell und Herz. Sie war wohl mal wieder zu neugierig gewesen und hatte nach hinten geschaut, während sie über meiner Schulter hing. Was dort wartete, war zuviel für die Kleine gewesen und würde mir wohl bald auch noch den Appetit verderben. Aber erst, wenn wir aus dem Allergröbsten raus waren. Also lief ich unbeirrt weiter, stapfte durch den Schlamm und drehte mich nicht um – noch nicht.

Ich brannte ehrlicherweise darauf, das perverse Spektakel mit eigenen Augen zu sehen. Es lagen schon zwei Glashütten und etliche Meter zwischen uns und dem Kampfplatz, dennoch trug ich Yin weiterhin. Sie schrie nun nicht mehr, hatte eben damit aufgehört, sondern flennte wie ein Baby und zitterte. Sie war kurz ohnmächtig gewesen und würde gleich kotzen. Ich litt mit ihr, konnte sie aber jetzt noch nicht trösten, wir wurden verfolgt. Sie würgte und stöhnte jämmerlich von hinten. Also schnell – wir mussten noch mindestens eine zusätzliche Wohneinheit mehr hinter uns und damit Sicherheitsabstand zwischen uns und den Tod bringen.

Das hier war wirklich die fäkale Krönung für einen herausragenden Scheißtag ohnegleichen: Untertage gabs neben der üblichen Schinderei derben Zoff zwischen den Kumpeln, die Essensration wurde mir ab heute mal wieder strafbedingt gekürzt, Yin hatte mal wieder Ärger mit einem notgeilen Herren gehabt und jetzt noch dieser unwahrscheinliche Albtraum, der aus einer der bescheuerten Gruselgeschichten von früher abgeschrieben worden sein konnte. Meine Güte, bei Gor dem Gott der Scheiße und der Sklaven – was war das doch wieder für ein ausgewählt beschissener Tag in Gor Thaunus.

»Ahhhhh, ich werd irre … das ist der, ist der … der Angriff … der Angriff der Todesklone – jahhh … das ist er!«

»Wahhhhhhh!«

[Hinweis der Metatext-Redaktion: Entschuldigen Sie vielmals, ab hier kann das Layout des Originals aus technischen Gründen nicht wiedergegeben werden. Eine Wiedergutmachung gibts weiter untern!]

Erst ein Todesschrei, dann ein Fieeeppenn … Kotze! Dunkel, still & gnädig, vorbei … ›#›#++~~~> M

Mein Hirn schmort durch, überhitzt durch das unfassbar Grausame, was ich erlebe. Ich lasse los – nicht gut, aber besser. Ich begrüße den Irrsinn und die Ohnmacht freudig und lade beide herzlich ein, eine Runde bei mir abzuhängen:

Mein mentales Oberstübchen ist aufgeräumt, der Tisch ist fein eingedeckt, der Tee bereits trocken, das Gebäck noch flüssig aber bereits knusprig und der Kuchen schön warm und taufrisch. Blutgeruch. Herein zu mir, husch, husch, es gibt eine Party im Glaskäfig Nr. 42. Da kommt ja auch schon der weiße Rabe mit seiner rauchenden Pfeife im linken Schnabelwinkel – und boah geil, er hat viele seiner Freunde & Feinde mitgebracht. Eine ulkige rote Ente mit einer grellgrünen Taucherbrille watschelt gemütlich hinter ihm her. Sie kommen über den umgedrehten Regenbogen zu mir. Während wir uns gegenseitig Essenrationen schenken, jeder genau gleich viel, kommen die fiese Herzkönigin + der senile Kreuzbube von den Sternen herab. Sie fangen an, zu rennen, schleichen um die goldene Hüpfburg herum, klettern hinauf auf die Riesenbäume. Die Wichser sprengen einfach so die Sonne – Kadabumm, Licht aus! Muss ich halt die Discokugel anmachen, hatte ich eh vor. Ein Beat, ein Bit, ein Boson. Das war eine Spitzenidee, danke ihr Feinde des Lichts. ~Komm mal klar Kleine!} Die Nacht des Denkens ist der Tag der Lüste – ab gehts, drunter drüber, rein raus. Schon tanzt die Meute, manche Standard, die meisten aber Freistil ihren wilden Freudentanz. Der schwarze Schwan + das weiße Kaninchen jagen einander wie wilde Derwische über die Wellen und werden dabei selbst wiederum vom peitscheschwingenden Tagteam aus Grinsekatze und grölendem Gargantua angetanzt. Dauerfeuer rattert. Atréju & Pantagruel auf der einen, Kenny + Pumuckl auf der anderen, entjungfern die Gogo-Käfige neben der Tanzfläche mit einem Synchrontwist auf Beethovens 9. Kakofonie. Schrille Schmerzensschreie, drei Mal. Das tolle Fest kommt so richtig in Fahrt. Spätestens mit dem Poetry-Slam auf der Kanzel zwischen der bösen Hexe Bellnana Retsarzorro, einem aus dem nichts aufgetauchten Känguru, das wirre Fragen nach einem Piguin-Controller stellt, den keiner hier kennt, und einem Delfin namens Howard, der angeblich in Atlantis lebt, wird es wahnsinnig komisch: Von orthodoxem Marxismus wird erzählt, von außerirdischen Besuchern in tiefster Vergangenheit und naher Zukunft, die Hexe singt ihr vielstimmiges Utopos auf Gor Thaunus. Mitten im Finalbeitrag der Ente scheppert die Türklingel, wie ein Esel schreit sie. Es sind die nervigen Todesklone (brüllen bestialisch) und sie stehen weinend vor der Tür und klingeln seit Stunden Sturm: Iahhh, Iahhh, Iahhh! Wohl, weil sie auch auf die Party wollen, aber nicht dürfen. Die verfluchten Spaßbremsen sind nicht eingeladen – keine Chance! Die sollen bloß draußen bleiben und wehe, Freunde der Nacht, denen macht einer die Tür auf! Die Plüschfraktion aus Amaurotum murrt. Sie fordern ihren Tribut, plus Zinsen. Hoffentlich holt endlich mal jemand die Soma-Honig-Möhren-Bowle für König Gucky und Königin Winnie-Puh, sonst passiert noch was. Säuerlicher Kotzegestank. Iahhh! Fnords hüpfen umher, rennen kreuz & quer durch die Gästemassen und binden ihnen Problembären auf. Der Frustschutzfaktor steigt auf 30, nur die 23 Herren und die 7 Damen legen Lustblocker Plus auf, obwohl die Sonne aus ist. Der Rest der Mannschaft macht eine syndikalistisch-synkretistische Polonaise. Ich schunkel zwischen einem Kastenbrot und einem gelben Schwamm sanft dahin, aber die beiden zoffen sich andauernd zickig an: Es könne nur einen lustig-neurotischen Entertainment-Quader im Kinder-TV geben. Fremdsprachen und komische Namen überall. Ich lege beiden vorsorglich Frustblocker auf und gebe mich dem schrägen Schwachsinn willig hin, rückwärtsE und Fvorwärts, im m und rundherum geht unser wilder Ringelrein: Iahhh! … Kawumm! »Yin! … wach … sterben wir!« Die Haustür splittert und Lava flutet den Raum, die Todesklone surfen auf Roboterkörpern … die Todesklone!?

[Hinweis der Metatext-Redaktion: Entschuldigen Sie vielmals, bis hierhin konnte das Layout des Originals aus technischen Gründen nicht wiedergegeben werden. Eine Wiedergutmachung gibts weiter untern!]

Es brennt … dumpfes Rauschen … grell … Eisen … Säure … »Ahhhhhh!«

Ich schreie.

Ich brülle und schlage um mich.

Ich bin.

Ich kotze mir die Seele aus dem Leib und danke Yang innerlich dafür, dass er das wohl vorher geahnt hat und mich netterweise an den Schultern festhält. Unter mir sehe ich nur Schlamm und mein halb verdautes Essen von heute Nachmittag.

»Hey Schwesterchen – willkommen zurück. Wir müssen weiter, sonst wirds haarig!«

Ich war wieder und wurde trotz aller Schmerzen immer klarer im Kopf. Yang massierte mir den Nacken und redete mir weiterhin gut zu, drängte aber zum Aufbruch. Daneben drangen Alarm, viele Schüsse und einige Schreie dumpf zu mir durch. Ich würgte die Reste des Erbrochenen heraus und versuchte, Yang anzusprechen. Als ich dafür nach oben sah – voll im Arsch, irgendwo zwischen frisch gefoltert und gevögelt – sah ich noch ihre nervigen Lichterspiele rund um den Berg und oben auf dem protzigen Zentralturm. Hier unten starben Menschen wie Vieh und dort oben nahm alles seinen hochherrschaftlichen Lauf. Ich wünschte mich zurück in meinen absonderlichen Traum und wettete schon vorher darauf, dass er mir bei meinem Urteil über diesen Mondtag zustimmen würde, während ich meine ersten Worte herausbrachte und nicht einmal wusste, wie lange ich geschwiegen hatte:

»… verdammter Mist, was für ein verschissener Tag in Gor!

Er lächelte mich an und half mir auf die Beine.

»Danke Yang!«, sagte ich, während ich ihn kurz, aber heftig umarmte.

Frieden … – Schlamm, Kotze, und, wie ich peinlich entdeckte, Pisse und Scheiße waren mir einen kurzen Moment genauso egal wie der Horrortrip, in den wir gerade geraten waren; genauso schnuppe wie der Sklaven-Bullshit, den wir den Arschlöchern da oben auf dem Berg zu verdanken hatten. Diese feinen Herren saßen sicher und gechillt in ihren schäbigen Palästen, oben in Hohenherz, am Fuße ihres albernen Leuchteturms, hinter ihrem bescheuerten Feuerzauber und den zwei dicken Mauern. Wow, so übel wie ich heute drauf war, machte ich Yangs Herzlichkeit echte Konkurrenz – aber heute ist einfach: ein maximal bekackter Tag in Gor Thaunus!


Schwermütiger Lyrik-Alarm

Ich mag Nietzsche, stillistisch fast durchweg, inhaltlich in Teilen, aber die Verse an die Melancholie fühlen sich nicht nur unangenehm an, sondern sie klingen ebenso, holpern und schlingern in weiten Passagen. Ob das gewollte Formvollendung oder ungewollter Textunfall ist, bleibt offen für tiefere Analyse und läd ein zur Interpretation. Ich jedenfalls vertiefe nur, was mich zu fesseln vermag und das ist nicht Nietzsches Hymnus an die düstere Göttin des Schwermuts aus dem Jahr 1871.

Dieses schwerfällige Gedicht eines ansonsten herausragenden Formenschmieds stand im Zentrum eines der sehr rar gewordenen Gedankenanschläge des weiterhin unbekannten Text-Terroristen. Dieser scheint den Willen zum Widerstand entweder verloren oder in andere (noch) unsichtbare Bahnen gelenkt zu haben. Quanzland hat nunmehr derart brisante innen- wie außenpolitische Probleme zu meistern, da konnte der zuvor so präsente Rebell kaum noch mit öffentlichem Interesse für seine Subversionen rechnen, zumal seine Protest-Aktionen zuvor schon seltener und insgesamt unambitionierter geworden waren.

Ich bezweifle nachdrücklich, dass er mit dieser Textauswahl ernstzunehmende Leserzahlen oder gar überzeugte Anhänger gewinnen wird, gebe ihm in meiner Rolle als Multiplikator aber gerne die Chance dazu. Denn wer weiß schon, was im perversen Hirn eines Staatsfeindes Abstruses vorgeht, nachdem er eine pubilizistische Pleite nach der anderen zu verarbeiten hatte, hat und haben wird: Wird er zukünftig wieder neuen Mut schöpfen und wie erfolgreich wird er mit was zurückkehren? Hat er sich unterdessen radikalisiert und neigt deshalb erstmalig zu physischer Gewalt statt wie bisher nur zu psychischer Penetranz? Was soll das Ganze eigentlich bringen, sind das nicht vergebliche Mühen in einem Land wie unserem? Warum nicht mal was populäreres, was auch der kleine Mann verstehen kann?

Mit einer Reihe Fragezeichen zum Abschied winkend, Euer Satorius


An die Melancholie

 

Verarge mir es nicht, Melancholie,
Daß ich die Feder, dich zu preisen, spitze,
Und daß ich nicht, den Kopf gebeugt zum Knie,
Einsiedlerisch auf einem Baumstumpf sitze.

 

So sahst du oft mich, gestern noch zumal,
In heißer Sonne morgendlichem Strahle:
Begehrlich schrie der Geyer in das Thal,
Er träumt vom todten Aas auf todtem Pfahle.

 

Du irrtest, wüster Vogel, ob ich gleich
So mumienhaft auf meinem Klotze ruhte!
Du sahst das Auge nicht, das wonnenreich
Noch hin und her rollt, stolz und hochgemuthe.

 

Und wenn es nicht zu deinen Höhen schlich,
Erstorben für die fernsten Wolkenwellen,
So sank es um so tiefer, um in sich
Des Daseins Abgrund blitzend aufzuhellen.

 

So saß ich oft, in tiefer Wüstenei
Unschön gekrümmt, gleich opfernden Barbaren,
Und Deiner eingedenk, Melancholei,
Ein Büßer, ob in jugendlichen Jahren!

 

So sitzend freut‘ ich mich des Geyer-Flugs,
Des Donnerlaufs der rollenden Lawinen,
Du sprachst zu mir, unfähig Menschentrugs,
Wahrhaftig, doch mit schrecklich strengen Mienen.

 

Du herbe Göttin wilder Felsnatur,
Du Freundin liebst es nah mir zu erscheinen;
Du zeigst mir drohend dann des Geyers Spur
Und der Lawine Lust, mich zu verneinen.

 

Rings athmet zähnefletschend Mordgelüst:
Qualvolle Gier, sich Leben zu erzwingen!
Verführerisch auf starrem Felsgerüst
Sehnt sich die Blume dort nach Schmetterlingen.

 

Dies Alles bin ich – schaudernd fühl‘ ich’s nach –
Verführter Schmetterling, einsame Blume,
Der Geyer und der jähe Eisesbach,
Des Sturmes Stöhnen – alles dir zum Ruhme,

 

Du grimme Göttin, der ich tief gebückt,
Den Kopf am Knie, ein schaurig Loblied ächze,
Nur dir zum Ruhme, daß ich unverrückt
Nach Leben, Leben, Leben lechze!

 

Verarge mir es, böse Gottheit, nicht,
Daß ich mit Reimen zierlich dich umflechte.
Der zittert, dem du nahst, ein Schreckgesicht,
Der zuckt, dem du sie reichst, die böse Rechte.

 

Und zitternd stammle ich hier Lied auf Lied,
Und zucke auf in rhythmischem Gestalten:
Die Tinte fleußt, die spitze Feder sprüht –
Nun Göttin, Göttin laß mich – laß mich schalten!

 

Friedrich Nietzsche (1844 – 1900), Gimmelwald (Melnacholie), in: Fragmente 1869-1874 (Band 1 – Kapitel 15; 1871)