Metatext

Auf, auf zu neuen Inhalten: Quanzland feiert den 3. Geburtstag!

Erstmalig nach dem ersten, halbjährigen Feiertag haben wir es geschaftt: Wir sind pünktlich, fast zumindest! Pünktlich genug jedenfalls, um Quanzland zu feiern, und vor allem hoffentlich noch rechtzeitig genug, unseren lieben Satorius wachzuküssen – oder doch besser: wachzurütteln und anzutreiben.

Was aber ist in der zwischenzeit passiert? Der Zeitgeist hat um sich gegriffen und Satorius aufs heftigste infiziert. Seither tut er es den Massen gleich, ist populär geworden – STOP, Nein! – populär ist hier nichts, aber das stand sowieso nie zu erwarten. Jedenfalls hat er sich anderen Projekten verstärkt zu- und damit von uns und Quanzland abgewandt: Er hat konsumiert, statt zu reflektieren; produziert statt persifliert; genossen statt gelitten; deflektiert statt diskutiert – ja, er hat sich zurückgezogen aus dem Nicht-Ort „Quanzland“.

Stellen Sie sich einmal vor: Es gibt da eine Utopie und niemand geht hin. Was also passiert mit einer Utopie, wenn niemand sie wahrnimmt, niemand sie erlebt oder gar belebt? Wird sie dadurch mehr oder weniger von dem, was sie ist, ein Nicht-Ort oder wäre es nicht eher zu erwarten, dass sich Utopien eigentlich nicht um die Lebenswelt und ihre lästigen Bewohner, uns sog. Menschen, scherrt?

Solltet Sie sich jetzt fragen: Bitte, was?! Auch wir haben uns das eine Zeit lang gefragt, denn solche Ausführungen und Ausflüchte durfte wir uns anhören, als wir seinerzeit unsere Pflicht erfüllen wollten, eigentlich immer noch wollen, nämlich Satorius zum Schreiben und Quanzland damit zum Blühen zu bringen. Vollends vergeblich waren diese unsere Mühen im letzten halben Jahr, sodass wir uns bei der traditionellen wie unvermeidlichen Bilanz im Folgenden ein wenig ernüchtern müssen. Dennoch lassen wir zunächst die Korken krachen und wünschen Ihnen und Satorius, aber auch uns selbst:


Herzlichen Glückwunsch zum 3. Geburtstag Quanzland!

wünscht die gesamte Metatext-Redaktion


Wie anlässlich der letzten Jubiläen eingeführt, wird auch dieses Jahr wieder hart quantifiziert und zuvor qualifiziert, oder so ähnlich:

Es ist weniger gewachsen, wie eingangs schon auseinandergesetzt, dennoch ging es etwas voran im Text. Kulinarik als Thema hatte es neben den Formenten Originale und dem neuen Text-Slow-Food am schwersten im vergangenen Jahr; ansonsten blieb alles wie gehabt, die drei Kernthemen Kunst, Wissenschaft und Politik haben zusammen mit ihren geneigten Formate fast proportional zugelegt.

Soviel und sowenig in Worten, Quanzland hingegen ausgedrückt in zuverlässigen Zahlen sieht derweil dann so aus:


Thema (+0)       Anzahl der Beiträge: 185 (+29)       Format  (+0)

Fiktionale Kleinode   96 (+16)

Text-Fast-Food   84 (+20)

Denkwelten   49 (+10)

Lichtrausch   40 (+5)

Originale   22 (+0)

Diskurse der Nacht   28 (+7)

Kulinarik    21 (+1)

Quanzland-Zeitgeschehen   18 (+2)

Lyrik-Alarm   18 (+4)

Metatext   14 (+4)

 

NEU: Text-Slow-Food   2 (+1)

Rätsel-Runde   1 (0)


Quantitativ schwach und auch qualitativ ein wenig unoriginell, so müssen wir schweren Hirns und Herzens bilanzieren. Dennoch ist uns noch ein Quantum Hoffnung verblieben, dass Satorius aus dem tiefen, mehr noch, aus dem betäubungsmittelschwangeren Dornröschenschlaf des krassierenden Neo-Biedermeier wieder erwachen wird.

Dafür gibt es derzeit doch mindestens ebenso viele Gründe gute wie schlechte Gründe. Für eine gediegene Weltflucht spricht so vieles wie für ihr Gegenteil: erstarkende Populisten, Autokraten und anderweitig kaputte Machthungrige überall von West bis Ost; ein Europa, das nicht so recht weiß wohin und wie, mit seinen Werten und Institutionen; eine Welt am ökologischen Abgrund, und man fragt sich sinnend, sind wir schon krass genug für den Sprung oder doch noch zu feige füür 2°. Andererseits: neue politische Bewegungen zwischen all dem altem Schorf und damit eine neue Bewegung an alten Seilen, ein seichtes Schauklen in den verfänglichen Netzen weltweit; globale Vernetzung und solidarische Kooperation zwischen (Welt-)Bürgern; breitbandigeres Internet und hochauflösenderes Fernsehen ermöglichen mit den vielen neuen Geräten smartere Unterhaltung; und wenn das nicht reicht, kann man sich und andere damit auch noch kräftig optimieren, wovon letztlich ja doch wieder alle profitieren werden. Alles Gute, alles Schlechte ist wie immer, vorhanden und verfügbar, sofern man teilnimmt am täglichen Theater. Wenn man den partizipiert, votiert und sich engagiert … wenn, denn, dann … irgendwann, irgendwo …

Deswegen lautet unser Schlachtruf für das kommende Jahr, so kämpferisch das Pazifisten eben zusteht, zutiefst modeab- und weltzugewandt: „Tot den verfluchten Einhörnern mit ihrem verdammten Glitzer, lang lebe der Terrorismus“ – oder sachlicher, zudem verständlich: „Raus aus den Feder und auf zu neuen Inhalten!“

In froher Erwartung metatextuell zu begleitender Inhalte, Ihre Metatext-Redaktion

TSF Ein TFF-Mutant: #EB1.1 @ Unendliche Utopieforschung

Kaum entstanden, bis eben sogar noch singulär, und jetzt bereits im Wandel; das neue Format Text-Slow-Food ist quirlig. Aber nur so kann dieses Format seinen Inhalten, seinem neuen Inhalt gerecht werden. Denn ein Werk wie Ernst Blochs in drei Bänden erschienenes opus magnum Das Prinzip Hoffnung in einen einzigen Artikel packen zu wollen – sei er so slow, wie das nur denk- bzw. dehnbar ist -, wäre nur eines: schierer Unsinn! Alleine die Lektüre dieser schweren Kost wird Jahre dauern, immer wieder zu Verdauungsproblemen führen und bietet sich deshalb bestens für eine sporadisch fortzusetzende Serie an Text-Slow-Food-Artikeln an, die dann irgendwie verdächtig regressiv als Text-Fast-Food daherkommen. Die Schwere des Gegenstands sowie dessen logischer bis thematischer Zusammenhang und nicht zuletzt die prinzipielle (Text-Format-)evolutionäre Varianz und meine dementsprechende Toleranz sagen dennoch schlussendlich ganz klar: Das ist Text-Slow-Food! Nur eben eine kleine Variation des Ur-Typus (mit einer kleinen Neuerung):

0. Titel: #Autoren-KürzelBeitragsnummer(.Seriennummer) @ Beitragstitel

1. Ein markantes Beitrags-Bild zum Text (Umschlagbild, Faksimile, etc.) macht den Anfang und läd optisch in den Artikel ein.

2. Sodann macht ein Happen Text-Fast-Food Appetit auf mehr und sorgt so für einen sanften Lese-Einstieg in das Werk des jeweiligen Autoren.

3. In einer (Kurz-)Besprechung  des vorgestellten Textes entwerfe ich (m)einen Zugang zum Text gewohnt essayistisch-verquer, mit dem Ziel einer Art Mini-Rezension.

4. Der Metadaten-Mix, also eine übersichtlich Zusammenstellung objektiver Informationen (auf Basis der Kataloge von Deutscher Nationalbibliothek und WorldCat) und subjektiver Wertungen, liefert kompakte Daten für Bibliografie- und Zahlenjunkies.

5. In einem Essenzsatz versuche ich mich an der semantisch-stilistisch beinahe unmöglichen Aufgabe, das ganze Werk angemessen in einem einzigen Satzgefüge auszudrücken – wohl an denn!

6. Die fortlaufenden Zitate aus dem Primärtext und ihre Zusammenstellung liefern überhaupt erst den Anlass für das alles hier und bilden somit den Kern des Ganzen. (Bei größeren Werken kann dieser Punkt auch auf eine Artikelserie ausgedehnt und dadurch ausgelagert werden.)

7. Kursorische Kontexte geben dem Werk des Autoren einen breiteren Rahmen und stillen damit den ersten, eklektischen Lesehunger des idealen Lesers, der am Ende des ausgedehnten Text-Slow-Foods noch Lust auf zukünftige Lektüre hat.

Zudem erfolgt am Ende dieser wahrscheinlich letztlich mehrjährigen Serie konsequent noch die vollständige Umsetzung des (erweiterten) Ideals für die Zubereitung von Text-Slow-Food. Damit ändert sich bei und mit diesem zweiten Exemplar der neuen Gattung lediglich der Schritt Nr. 6, also der formatprägende Zitatkorpus, indem dieser Punkt zeitlich ausgedehnt und somit in ein Vielfaches an Artikeln eingeschrieben in eine TSF-Serie ausgelagert wird: #EB1.x @ Unendliche Utopieforschung (wobei ich für „x“ keinen Definitionsbereich anzugeben wage).

Lassen wir also in angeblich so düsteren Zeiten das warme Licht der Hoffnung in unser Bewusstsein hineinstrahlen, denn mit nichts weniger hat sich Ernst Bloch in seinem Prinzip Hoffnung beschäftigt. Er wollte in Erfahrung bringen, spekulieren, analysieren, räsonieren und also philosophisch verstehen, was Werden und Willen verbindet, Subjekt und Objekt vermittelt, Mensch und Welt vereint. Sein Werk kreist folglich in weiten Spiralbahnen um große Fragen: Was gibt unserem Leben Sinn und Richtung? Was treibt die Menschen der verschiedenen Epochen und Kulturen an? Welchen kleinen und großen Utopien und Dystopien hängen wir nach, seien sie sozial, politisch, ästhetisch, technisch, sexuell und skaliert von epochal bis trivial? Wie und warum erhofft sich der homo utopicus all das für seine Zukunft? Was kümmert all das die Welt? Welche Ontologie steckt hinter den Hirngespinsten? Und warum haben Gott und Marx, Nietzsche und Aristoteles beim Zentralbegriff Heimat allesamt zusammen mit vielen anderen ihre schmutzigen kleinen Finger mit im Gedanken-Spiel?

Alles in allem, im Großen und Ganzen seelisch naheliegende, höchst spannende und vor allem zutiefst historische bis politische Fragen, die jede Zeit, jedes Zeitalter neu und anders stellen, neu und anders beantworten kann und sollte. Aber warum sollten gerade wir, die kurzweilige, -firstige, -konzentrierte und kürzende Internet-Generation, warum sollte die bequemste Generation der Menschheitsgeschichte das Rad neu erfinden? Warum überhaupt drehen, am blutigen Rad der Geschichte, am staubigen Rad der Zeit?

Während dieser definitiv nicht rhetorisch misszuverstehenden Fragenkomplex idealerweise wenigstens kurz zum Nachdenken provoziert, lausche ich schon Mal bedächtig den ersten Klängen einer ewigen Sinfonie, einer Musik der Hoffnung und des Hoffens, wie sie aus den Archiven der Geistes- und Ideengeschichte herauftönt. Lauschen wir doch gemeinsam dem Orchester und einem seiner mutigeren Dirigenten. Fangen wir an ihm zuzuhören, ihn zu lesen, vielleicht erfahren wir sogar, was sich bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts im kollektiven Bewusstsein unserer Zivilistation an Anworten auf den utopischen Fragenkomplex niedergeschlagen hatte. Lassen wir uns inspirieren von der unendlichen Geschichte der Utopieforschung, der Ernst Bloch viele, viele Meta-Kapitel hinzugefügt hat – eventuell ja sogar zu neuen Beiträgen, ob sie nun meta-, para– oder ortho-utopisch sein mögen.

Mit einer tiefen Verbeugung vor einem ehrenwerten Lebenswerk, Euer Satorius


Das Prinzip Hoffnung (Erster, Zweiter und Dritter Band): #EB1.1 @ Unendliche Utopieforschung


Geschehen wird Geschichte, Erkenntnis Wiedererinnerung, Festlichkeit das Begehen eines Gewesenen. So hielten es alle bisherigen Philosophen, mit ihrer als fertig-seiend gesetzten Form, Idee oder Substanz, auch beim postulierenden Kant, selbst beim dialektischen Hegel. Das physische wie metaphysische Bedürfnis hat sich dadurch den Appetit verdorben, besonders wurden ihm die Wege nach der ausstehenden, gewiss nicht nur buchmäßigen Sättigung verlegt. Die Hoffnung mit ihrem positiven Korrelat, der noch unabgeschlossenen Daseinsbestimmtheit, über jeder res finita, kommt derart in der Geschichte der Wissenschaften nicht vor, weder als psychisches noch als kosmisches Wesen und am wenigsten als Funktionär des nie Gewesenen, des möglich Neuen. Darum: besonders ausgedehnt ist in diesem Buch der Versuch gemacht, an die Hoffnung, als eine Weltstelle, die bewohnt ist wie das beste Kulturland und unerforscht wie die Antarktis, Philosophie zu bringen.

S. 4f.

 

Das utopische Bewusstsein will weit hinaus sehen, aber letzthin doch nur dazu, um das ganz nahe Dunkel des gelebten Augenblicks zu durchdringen, worin alles Seiende so treibt wie es sich verborgen ist. Mit anderen Worten: man braucht das stärkste Fernrohr, das des geschliffenen utopischen Bewusstseins, um gerade die nächste Nähe zu durchdringen. Als die unmittelbarste Unmittelbarkeit, in der der Kern des Sich-Befindens und Da-Seins noch liegt, in der zugleich der ganze Knoten des Weltgeheimnisses steckt.

S. 11

 

Ernst Bloch (1895 – 1977), Das Prinzip Hoffnung – Erster Band: Vorwort (1938 – 1947)

Ein frohes und gutes Neues!


Euch allen wünschen ich und die gesamte Metatext-Redaktion eine frohes, gutes und neues Jahr 2017!

Auf das Eure Utopien wahr werden und Eure Dystopien zeitgleich in der Unwahrheit verbleiben, sofern hoffentlich das eine oderwenigstens das andere denn existiert. Sollte dem nicht so sein, dann möget ihr sie finden, eure Vorstellungen für die eigene oder vielleicht gar allgemeine Zukunft. Denn gerade Weihnachten (Hier auf und in Quanzland ein eher irgnoriertes Pseudofest), Sylvester, Neujahr und die sie umgebenden Rauhnächte sind eine ideale Zeit der Besinnung, geben also Raum für Sinnsuche und Sinnsetzung.

Was soll sein und was soll nicht sein, wie will ich leben und wie nicht, worauf hoffe ich konkret und abstrakt?

Solche Fragen müssen wenigstens gelegentlich gestellt und beantwortet werden, sonst verkommt das Leben zur Farce, wird die Existenz schal und leer. Damit das nicht so wird oder gar so bleibt, überkompensiert so mancher in der alljährlichen Schwebe zwischen den Jahren mit sogenannten „guten Vorsätzen“. Diese Strohfeuer des bloßen Wünschens sind zwar meist Oberflächenphänomene von persönlicher Utopie und Dystopie, bedürfen aber nach meiner Erfahrung der kritischen Reflexion und offnen Diskussion bevor man in die Tiefe, zum eigentlichen, eigenen Wollen vordringen kann. Und genau dort, in den schattigen Tiefen der eigenen Person und Zukunft, möchten wir unsere Wünsche hinsichtlich Freude und Glück, Gutem, Neuheit und Neuerung erschallen lassen: Ein frohes, gutes und neues Jahr 2017 also nochmals!

#MO1 @ Gottfrieds Gruft

Mystische Orte, dokumentiert und zelebiert durch mysteriöse Datenspuren, künden der Welt von einem modernen Mythos.

Eine chinesische Megaunke mit Eigename Proton (ca. 2,30m Länge bei rund 170kg Gewicht) bewacht eine ganz besondere Süßwasserkaverne Quanzlands, die sich den vielsagenden Namen Gottfrieds Grurft verdient hat. Denn hinter dem im direkten Vergleich relativ kleinen Eingang befindet sich das größte Höhlensystem des Landes. Nach gesicherten Vermessungen erstreckt es sich mit über 17 Kilometern Länge und 5 Kilometern Höhendifferenz vom Stollenberg in Lauterfeld aus in Richtung Nieder-Schlitz. Davon verlaufen 7 Kilometer oberhalb, weitere 10 Kilometer hingegen unterhalb des Wasserspiegels. Was weiter drinnen, also darunter in der Tiefe, jenseits der tiefschwarzen Schlünde der extrem steil nach unten verlaufenden Enden des erkundeten Bereichs des gigantischen Höhlekomplexes noch alles verborgen liegt, wird bis auf weiteres dort im tiefen Schatten, unter dunklem Wasser begraben bleiben. Neben mangelndem Interesse und nicht vorhandener Wertschätzung für aufwendendige, teure Naturforschung, verhindert vor allem eine gruselige Geschichte voller Unfälle, Misserfolge und tödlich verlaufender Expeditionen weitere Erkundungen. Die Bezeichnung als Gruft kommt also nicht von ungefähr. Nicht zuletzt sorgen auch solche unter Naturschutz stehende Monstrositäten, wie oben zu sehen, eindrucksvoll für bürokratische und schlimmer noch vor allem lebensbedrohliche Schwierigkeiten. Möge Gottfried, wer auch immer er gewesen sein mag, in Frieden ruhen und möge Quanzland demütig und stolz sein, im Angesicht eines seiner mystischen Orte.


P.S. der Metatext-Redaktion: Dieses Bild, seine stilistisch bedenkliche und kryptische Unterschrift und der pseudoinformative Beschreibungstext tauchten heute Mittag unvermittelt im Blog auf, ohne das jemand wüsste, woher sie gekommen, noch wer sie verfasst, schon gar nicht warum überhaupt gemacht. Was ist hier bloß los, fragen wir uns, während Satorius dieses überraschende bis dubiose, contentgenerierende Phänomen einfach gelassen hin- und humorvoll annimmt. Er instruierte uns lappidar, den sonderbaren Inhalt zu posten. Damit vereinnahmen wir ihn ganz frech als „MO1“ für unsere Zwecke und publizieren die Daten bis auf dieses P.S. und die vereinnahmende Überschrift unverändert.

Ein Artikel auf Zeitreise: der 2. Geburtstag!

Der folgende Artikel hat eine Zeitreise hinter sich: vom 01.01.2017 zurück in die Vergangheit an den 15.10.2016. Gründe und Sinn dieses Phänomens sind ebenso nebulös, wie es viele andere Ereignisse auf, in und rund um Quanzland waren, sind und sein werden.

Die Wirren des Anfangs sind vorüber: Erfahrungen, erbauliche wie ernüchternde, wurden erst gemacht, dann gesammelt und zuletzt anerkannt; Projekte wurden entworfen, teils realisiert, teils suspendiert oder doch schlicht wieder fallgelassen; Strukturen zuletzt haben sich etablieren können und halten dem Leben und Wirken von Satorius leidlich stand. Mit diesem knappen Resümee wollen wir von der Metatext-Redaktion eigentlich nur eines sagen und das tun wir in nicht geringer als bunt und formatiert:


Herzlichen Glückwunsch zum 2. Geburtstag Quanzland!

wünscht die gesamte Metatext-Redaktion


Wie anlässlich der letzten beiden Jubiläen (halbes & erstes Jahr) begonnen, haben wir auch dieses Mal eine kleine quantitative Übersicht der Inhalte zusammengestellt, um die Entwicklung des letzten Jahres sichtbar werden zu lassen. Diese noch frische Tradition werden wir fortführen und dadurch weiter kultivieren, so jedenfalls der beinahe einstimmige Beschluß der entsprechenden Redaktionssitzung. Satorius hatte hierzu – wie immer und zu fast allem – seine Einwände, welche wir aber knallhart ignoriert haben. Denn dieser Text ist eine der wenigen Gelegenheiten, bei denen wir unsere unermüdliche Arbeit hinter den Kulissen auch einmal auf der digitalen Bühne erfahrbar machen können und da lassen wir uns nicht reinreden. Auch und besonders nicht von unserem werten Autoren, der sich gerne als mächtiger Protagonist gebärdet. Wenn aber zwölf Menschen gegen einen stimmen, bringt es diesem einen mal so überhaupt gar nichts, dass er der nominelle Chef des ganzen Projekts ist. Auch konnten wir diese Form der Basis-Demokratie vertraglich fixieren und damit gegen die feudalen bis autokratischen Tendenzen von Satorius durchsetzen. Seine Stimme zählt bei Abstimmungen zwar immer dreifach, sein Vetorecht hingegen darf er nur bei Kontroversen einlegen, die nicht eindeutig in unseren Kompetenzbereich fallen – wie zum Beispiel Metatexte aller Art und insbesondere Jubiläumstexte.

Also wohlan denn: Was ist im letzten Jahr passiert, wo wurde fleißig produiziert, wo doch eher träge vor sich hingegammelt?


Thema (+0)       Anzahl der Beiträge: 156 (+57)       Format  (+0)

Fiktionale Kleinode   80 (+10)

Text-Fast-Food   64 (+16)

Denkwelten   39 (+7)

Lichtrausch   35 (+7)

Originale   22 (+1)

Diskurse der Nacht   21 (+7)

Kulinarik    20 (+4)

Quanzland-Zeitgeschehen   16 (+6)

Lyrik-Alarm   14 (+4)

Metatext   10 (+2)

 

NEU: Text-Slow-Food   1 (+1)

Rätsel-Runde   1 (0)


Quantitativ geht es also sichtlich und weiterhin gut voran hier bei uns in Quanzland, wenn auch im Vergleich zum ersten Jahr etwas gedämpfter. Neues, wie das Unterformat Text-Slow-Food, ist entstanden, Altes und Strukturen wurde überdacht und abgewanbdelt. In Hinblick auf Qualität und Kontinuität jedoch sind wir unterdessen nicht rundum zufrieden, liegen deshalb Satorius auch ständig mit unseren Erwartungen und Ansprüchen in den Ohren: mindestens ein Artikel pro Woche, stete Durchmischung der Formate bzw. Themen, zwei Korrekturphasen nach der Abfassung eines jeden Artikels, mehr eigne Inhalte und so weiter. Aber es ist, wie es ist und er ist, wie er ist. In diesem Sinne gärt es also hinter den Kulissen; jedoch herrscht hierbei eine konstruktive Spannung, deren Dynamik wir derweil so produktiv transformieren konnten, dass weitere 57 Artikel entstanden sind.

Wenn uns und ihm zukünftig irgendwann auch noch eine echte, eine nicht nur anonyme und schweigende Leserschaft erwüchse, dann bekäme Quanzland einen äußeren Zweck, wäre damit nicht selbstgnügsamer Selbstzweck. Unterdessen aber, machen wir alle einfach weiter so!

Mit bilanzierenden Grüßen direkt aus dem Äther der digitalen Zeitfalten, Ihre Metatext-Redaktion

Das erste Text-SLOW-Food: #EK1 @ Zynischer Moralismus

Ein neues Format erhebt sich aus dem semantischen Chaos. In der brodelnden Ursuppe von Quanzland entstehen und vergehen Bedeutungen, ganze Formate und Themen bisweilen, wie es Lyrik-Alarm, Rätsel-Runde, Lichtrausch und Originale vorgemacht haben und es nunmehr ein neues Geschwisterchen nachzumachen trachtet. Sein Name spricht Bände, ist so unnatürlich klar, dass er kaum Fragen offenlässt: Text-SLOW-Food.

Nicht mehr um kleine Zitate und Aphorismen, auch nicht um die üblich gewordenen Kaskaden kurzer und mittlerer Texteauszüge, formatbedingt sogar gelegentlich ganzer Gedichte, geht es hierbei, sondern um einen gut durchgekochten Auszug langer und längerer Passagen eines umfangreicheren Werks. Was für die Attribute umfangreich und Werk qualifiziert? Meine Vorlieben, Launen und das erhoffte Quäntchen Objektivität zwischen, in, unter, hinter und neben all der wunderbaren Subjektivität und Kontingenz. In dem Auszug, die am Ende der komplexen, aber höchst unterhaltsamen Zubereitung von Text-Slow-Food herauskommen wird, sind die meisten Zutaten für sich zwar noch auszumachen, der Geschmack des Gerichtes an sich, das Ganze des Textes also, steht aber klar im Vordergrund der Darstellung.

Immerhin chronologisch geordnet führen Zitate starker Passagen erratisch durch und dabei tief hinein in den Textkorpus, mit aller unvermeidlichen Spoiler-Gefahr, die dort in den blutigen Eingeweiden des Werks in jedem harmlosen Wörtchen lauert, aber natürlich weitmöglich verhütet werden soll. Meistens wird sich dieses neue Format mit Exemplaren meines liebsten epischen Formates der Neuzeit befassen, dem schon häufig der bladige Tod nachgesagt wurde und dem weiterhin munter Siechtum attestiert wird: der Roman. In selten Fällen werde ich auch (längere) Kurzgeschichten, Essays und dergleichen mehr verwursten; vielleicht erweise ich sogar beizeiten sogenannten Sachtexte die zweifelhafte Ehre, quanzländisch verarbeitet zu werden.

Text-SLOW-Food wird als eine Variante des Formats zwar strukturell dem Text-Fast-Food zugeordnet, unterscheidet sich in aber neben Länge und Dauer der Zubereitung in einem weiteren Detail von seinem entschieden weniger aufwendigen Vor- und Mitläufer, dem großen kleinen Bruder TFF: Ähnlich wie für die Beiträge aus den Bereichen Lichtrausch (Galerien des Lichtsrausches) und Kulinarik (Archiv der Kulinarik) werde ich die Metatext-Redaktion darauf verpflichten, sobald wie möglich und so früh wie nötig eine Form der übersichtlichen Archivierung aufzusetzen und zügig zu lancieren. Struktur und Fülle der Beiträge bedingen einander und machen zusammen den Hauptunterschied zwischen Text-Fast- und Text-Slow-Food aus. Dabei übernehme ich für die Formatierung der Titel das bewährte Muster der Lichtrausch-Beiträge und füge darunter in einer gleichbleibenden Gliederung die verschiedenen Facetten der Werkbetrachtung zusammen:

 

0. Titel: #Autoren-KürzelBeitragsnummer @ Beitragstitel

1. Ein markantes Beitrags-Bild zum Text (Umschlagbild, Faksimile, etc.) macht den Anfang und läd optisch in den Artikel ein.

2. Sodann macht ein Happen Text-Fast-Food Appetit auf mehr und sorgt so für einen sanften Lese-Einstieg in das Werk des jeweiligen Autoren.

3. In einer (Kurz-)Besprechung  des vorgestellten Textes entwerfe ich (m)einen Zugang zum Text gewohnt essayistisch-verquer, mit dem Ziel einer Art Mini-Rezension.

4. Der Metadaten-Mix, also eine übersichtlich Zusammenstellung objektiver Informationen (auf Basis der Kataloge von Deutscher Nationalbibliothek und WorldCat) und subjektiver Wertungen, liefert kompakte Daten für Bibliografie- und Zahlenjunkies.

5. In einem Essenzsatz versuche ich mich an der semantisch-stilistisch beinahe unmöglichen Aufgabe, das ganze Werk angemessen in einem einzigen Satzgefüge auszudrücken – wohl an denn!

6. Die fortlaufenden Zitate aus dem Primärtext und ihre Zusammenstellung liefern überhaupt erst den Anlass für das alles hier und bilden somit den Kern des Ganzen.

7. Kursorische Kontexte geben dem Werk des Autoren einen breiteren Rahmen und stillen damit den ersten, eklektischen Lesehunger des idealen Lesers, der am Ende des ausgedehnten Text-Slow-Foods noch Lust auf zukünftige Lektüre hat.

(8. Eine Verlinkung oder Downloadoption der eigentlichen Primär-Quelle rundet bei gemeinfreien, freien oder online verfügbaren Werken das Format ab.)

 

Durch die angekündigte Archivseite soll den Vorstellungen lesenswerter Bücher auch das gleiche Schicksal erspart werden, das die Massen an Text-Fast-Food vor und nach ihnen letztlich ereilte, dass sie nämlich in der chronologischen Tiefe und semantischen Flut von Quanzland untergehen und zügig unsichtbar werden. Wo hier wohl die Grenze zwischen Slow und Fast verläuft und ob es denn auch ältere TFF’s gibt, die nun eher als TSF zu bezeichnen wären? Ich weiß es noch nicht im Detail, werde es aber sicher bald durch eifrige Tests zunächst am toten, dann am lebenden Text-Objekt herausfinden.

Bevor jedoch weitere Vertreter dieser neuen Gattung schlüpfen oder ältere Exemplare naträglich mutieren, also redaktionell auf die neue Linie gebracht werden, möchte ich Euch nun, nach erläuternder Vorrede, endlich das erste Text-Slow-Food präsentieren, den Prototyp des neuen Formats.

Viel Spaß und möge die Leselust mit Euch sein, Euer Satorius


Fabian. Die Geschichte eines Moralisten: #EK1 @ Zynischer Moralismus

Umschlag dtv


»Es gibt nichts Gutes
außer: Man tut es.«

 

Erich Kästner (1899 – 1974), Doktor Erich Kästners lyrische Hausapotheke (1936)

 

»Wem ist zu helfen?« fragte Fabian. »Du willst Macht haben. Du willst, träumst du, das Kleinbürgertum sammeln und führen. Du willst das Kapital kontrollieren und das Proletariat einbürgern. Und dann willst du helfen, einen Kulturstaat aufzubauen, der dem Paradies verteufelt ähnlich sieht. Und ich sage dir: Noch in deinem Paradies werden sie sich die Fresse vollhauen! Davon abgesehen, daß es nie zustande kommen wird … Ich weiß ein Ziel, aber es ist leider keines. Ich möchte helfen, die Menschen anständig und vernünftig zu machen. Vorläufig bin ich damit beschäftigt, sie auf ihre diesbezügliche Eignung hin anzuschauen.«

 

Erich Kästner (1899 – 1974), Fabian. Die Geschichte eines Moralisten, S. 54 (1931)


„Beim Eignungstest durchgefallen – so nicht, werte Erwachsene!, dann versuche ich es zukünftig halt mit subversiv Seichterem, schreibe lieber Gedichte, und Geschichten für Eure Kindern und sogar Drehbüchern zu eurer profanen Unterhaltung“ – dergleichen könnte sich unser ehrenwerter Autor vielleicht irgendwann in seinem Leben einmal gedacht haben. (Die historisch plausiblere Erklärung, dass jemand, der satirisch so vom Leder gezogen hatte und dann trotz der Verbrennung seiner Bücher das Wagnis eingegangen war, im natinoalsozialistischen Deutschland auszuharren, wohl kaum noch frei, vor allem politisch Schreiben konnte, lasse ich ihrer Nüchternheit wegen beiseite.)

Der sonst für recht kluge und brave Kinderbücher wie Emil und die Detektive, Pünktchen und Anton oder Das fliegende Klassenzimmer bekannte und dadurch weltberühmt gewordene Erich Kästner konnte nämlich auch anders: Satirisch frech, offenherzig bis derb, sogar obszön, dabei historisch wie politisch brisant, unterlegt mit existenziellen Tönen, dennoch immer leicht und einfühlsam, angenehm und anschmiegsam, trotzdem kritisch und ambivalent. Da die großen Themen des Romans – Leben, Sinn, (Gast-)Freundschaft, Familie, Arbeit und Liebe, Sex und Entfremdung, Einsamkeit, Feindschaft, Resignation, Tod – allesamt zeitlos und allgemein sind, lassen sie sich zwar beliebig aktualisieren, dennoch sind sie derzeit mal wieder hochaktuell im Angesicht von lokalen und globalen Entwicklungen wie Brexit und sogenannter Flüchtlingskrise, Kaltem Krieg 2.0 und sogenanntem Terrorismus. Insbesondere die Frage der persönlichen Verantwortung im Weltgeschehen wie im Alltag, der Geltungsbereich, die Ausdrucksformen, aber auch die Widerstände und Feind des je eigenen Ethos – Stichwort: Politikverdrossenheit und Medienmacht – spielen gerade mal wieder eine große Rolle im Welttheater.

Fabian mag nicht wie ein Vorbild wirken, ist aber keinesfallsein reiner Zyniker und Hedonist, sondern ein sensibler Mensch mit einer paradoxen Art der Selbstsorge nach dem Credo: Kontrollierte Selbst-Zerstörung und Welt-Provokation an der Grenze der Konventionen, statt risikobehaftetem Idealismus, enttäuschbarem Optimismus oder lebensgefährlichem Aktionsmus. Er tut, was er eben kann, setzt persönliche Zeichen der Menschlichkeit, arbeitet in Teilen den Tugendkatalog ab, ohne jedoch seiner vielschichten Zeitkritik radikale Formen de Widerstands folgen zu lassen, ohne mitzumachen, aber auch ohne dagegen- oder dafürzumachen. Er ist kein Mitläufer auf dem Weg in den Abgrund des 2. Weltkriegs, wie die meisten seiner moralisch weit härter verkommenen Mitmenschen, wäre wohl aber kaum Frontkämpfer des Widerstands geworden – wobei, wer weiß das schon zu sagen!

Im tagespolitischen Trauerspiel von Rechtspopulismus, Medienmisere und Politikdefiziten (Geltungsbereich, Akzeptanz, Lobbyismus, …) war es eine glänzende Idee des Atrium Verlags den Roman 2013 in seiner ungekürzten Urfassung und unter seinem eigentlich gewollten Titel Der Gang vor die Hunde neu herauszugeben. Dass dieser Urtext noch um einiges bissiger und kritischer ausfällt, als die seinerzeit vom Deutschen Verlags-Anstalt zensiert publizierte Version, wundert wenig. Wie die Urfassung da wohl ausgesehen haben mag?

 

Erich Kästners „Fabian“ gilt als politischster deutscher Roman vor 1945.

[…]

„Also zum einen ist es natürlich sehr viel expliziter, was jetzt Obszönitäten angeht sozusagen, was die Darstellung des sexuellen Bereichs angeht, die politische Kritik, die es auch gibt in einem gestrichenen Kapitel, ist ziemlich spannend, weil das jetzt keine parteipolitische Kritik ist, also die Richtung, der Kästner angehört oder vage angehört, konnte man dem nicht unbedingt entnehmen, sondern es ist einfach ‘ne unglaublich übermütige politische Kritik, die auch Spaß macht zu lesen.“ (Sven Hanuschek, Herausgeber der Neuaussgabe, die auf Basis eines originallen Typoskripts vor den Eingriffen rekonstruiert wurde)

[…]

Der Vergleich zwischen der Ausgabe von 1931 und der Urfassung zeigt: Die vom Verlag geforderten Kürzungen und Änderungen haben die satirischen Intentionen von Kästners Roman eher verunklart. Mehr als 80 Jahre nach der Erstausgabe ist das Werk nun von seinen Entstellungen und Entschärfungen befreit.

Oliver Pohlmann, Kästners „Fabian“ unzensiert, Deutschlandfunk [URL zuletzt besucht am 30.06.2016]

 

Von zwei Ausnahmen (Anahng 1 & 2) abgesehen, werde ich zunächst aber auf Basis der „entschärften“ 19. Auflage der Erstausgabe von 1931 schreiben und freue mich schon jetzt auf eine zukünftige Relektüre der noch radikaleren Urfassung. Die beiden Zitate aus dem Anhang machen Lust auf mehr allzuechte, allzumenschliche Schilderungen aus scharfer Feder. Ich bin überdies gespannt zu erleben, wie weit und wie tief vorstaatliche Zensur kurz vor der Machtergreifung in Deutschland gegangen ist, um den Text den Erwartungen anzupassen, gespannt darauf, wie heftig und wie listig Macht und Markt der Kunst zusetzen konnten, um sie nach ihren kruden Kriterien und gemäß ihrer minderen Motive zu verbiegen und dadurch zu verstümmeln.

Vitale Demokratie braucht solche Schriftsteller und ihre Leser, braucht Kulturbetrieb, Unterhaltungsindustrie und subversive Subkulturen gleichermaßen. Öffentlichkeit entsteht durch Zeugnis, durch Bericht und Erzählung, Diskussion und Kritik. In dieser Stoßrichtung hat Erich Kästner mit seinem Fabian einen ehrenwerten und höchst unterhaltsamen Versuch unternommen, Öffentlihckeit zu erzeugen, indem er die Zustände in Berlin und die Stimmung im Deutschland der kriselnden Weimarer Republik neusachlich eingefangen hat. Die angesprochene Zensur adelte dabei den leider selten als Satiriker arbeitenden Kästner und sicherte ihm im Gegenzug mitunter eventuell sogar das Überleben. So war ich nicht wie viele andere Autorenkollegen der Zeit ins internationale Exil geflohen, obwohl Fabians Erstfassung schon ziemlich hart in Richtung der braunen Gefahr persifliert hatte. Die offene wie verdeckt Ablehnung von politischem Aktionismus und fanatischem Militarismus, von Gewalt und Zwang spricht aus dem Verhalten Fabians, lässt ihn als teilweise sarkastischen und notwendig zynischen Beobachter des Geschehens sinn- wie hoffnungslos resignieren. Viel wichtiger ist aber, dass Fabian Pazifist und Humanist, mit einem Maß an fokussierter Zivilcourage und Humor, die einem Weisen würdig wären. Sein Freund Labude mag mit noblen Idealen und großen Ambitionen gesegnet für die Rolle des Helden vorsprechen und scheint Fabian zum Antihelden unter den Hauptfiguren zu degradieren, aber Fabian ist existenziell und lebensweltlich erfolgreicher im unvermeidlichen Scheitern am System der Welt. Er findet aber seinen eigenen Weg des Umgangs mit den persönlichen wie zivilisatorischen Katastrophen. Trotz allem und bis zuletzt bleibt er lebendig, ambivalent wie das Leben, Zyniker einerseits und Moralist andererseits, gehemmt und getrieben, auf der Suche nach seinem Platz in einer Epoche der Unsicherheit, der Depression und Isolation, einer untergehenden Welt.

Man verzeihe mir das sonst hoffentlich eher seltene Pathos – Satorius out!


Metadaten-Mix

Objektive Information (Links zu den Katalogseiten: DNB & WorldCat)

  • Autor (Lebensdaten): Erich Kästner (1899 – 1974)
  • Titel. Untertitel: Fabian. Die Geschichte eines Moralisten
  • Seiten: ca. 246
  • Zitierte Ausgabe: 19. Auflage, 2003, Deutscher Taschenbuch Verlag (dtv), ISBN 3423110066
  • Verlag der Erstausgabe: Deutsche Verlags-Anstalt (DVA), Stuttgart/München
  • Erstausgabe: 1931
  • Höchste Auflage: 31., 2015, Deutscher Taschenbuch Verlag (dtv)
  • Übersetzte Sprachen: 11
  • Verfilmung: 1 (1979)
  • Genre: Satirischer (Großstadt-)Roman
  • Epoche: (Späte) Neue Sachlichkeit.

Subjektive Wertung (0=“Schwach/leicht/einfach/wenig“ bis 10=“Stark/schwer/komplex/viel“)

  • Narration/Plot: 7
  • Relevanz/Aktualität: 9
  • Anspruch: 5
  • Sprachqualität: 7
  • Humor: 9
  • Spannung: 4
  • Sympathie: 8
  • Gesamtwertung: 7 von 10

Essenzsatz

Im Berlin der untergehenden Weimarer Republik und des gleichzeitig aufkeimenden Dritten Reichs (ver-)zweifelt der als Germanist ausgebildete und als Werbetexter respektive Propagandist tätige Dr. Jakob Fabian an seinem eigenen mit Hedonismus und Sarkasmus nur mässig kompensierten, von Phlegma und Melancholie genährten Weltschmerz, seinen von egoistisch über lasterhaft bis aggressiv verkommenen Mitmenschen und den präapokalyptischen Zuständen des von ökonomischen und poltischen Krisen gebeutelten Deutschlands, um im Laufe des episodisch-schnellen Romans nach einem gescheiterten Beziehungsversuch inklusive weiterer heftiger Schicksalschläge aus dem Sündenpfuhl Berlin in die Heimat Dresden zu fliehen, wo er nach einer seiner vielen alltäglichen Gefälligkeiten in seiner paradoxen Rolle des zynischen Moralisten im Strudel einer zerütteten Zeit unterzugehen droht.


»Fabian, Jakob, 32 Jahre alt, Beruf wechselnd, zur Zeit Reklamefachmann, Schaperstraße 17, herzkrank, Haarfarbe braun. Was müssen Sie noch wissen?«

»Haben Sie hinsichtlich der Damen bestimmte Wünsche?«

»Ich möchte mich nicht festlegen. Mein Geschmack neigt zu Blond, meine Erfahrung spricht dagegen. Meine Vorliebe gehört großen Frauen. Aber das Bedürfnis ist nicht gegenseitig. Lassen Sie die Rubrik frei.«

Irgendwo wurde Grammophon gespielt. Die üppige Dame erhob sich und erklärte ernst: »Ich darf Sie, bevor wir hineingehen, mit den wichtigsten Statuten bekannt machen. Annäherungen der Mitglieder untereinander werden nicht übelgenommen, sondern erwartet. Die Damen genießen dieselben Rechte wie die Herren. Von der Existenz, der Adresse und den Gepflogenheiten des Instituts ist nur vertrauenswürdigen Herrschaften Mitteilung zu machen. Den idealen Absichten des Unternehmens ungeachtet sind die Konsumkosten sofort zu begleichen. Innerhalb der Klubräume hat keines der Paare drauf Anspruch, respektiert zu werden. Paare, die ungestört zu bleiben wünschen, werden gebeten, den Klub zu verlassen. Das Etablissement dient der Anbahnung von Beziehungen, nicht den Beziehungen selber. Mitglieder, die einander vorübergehend zu gegenseitigem Befund Gelegenheit gaben, werden ersucht, das wieder zu vergessen, da nur auf diese Weise Komplikationen vermeidbar sind. Haben Sie mich verstanden, Herr Fabian?«

»Vollkommen.«

»Dann bitte ich Sie, mir zu folgen.«

S. 14f.

 

[…]

 

»Aber in Kalkutta haben doch gar keine Unruhen stattgefunden«, entgegnete Irrgang widerstrebend. Dann senkte er den Kopf und meinte fassungslos: »Vierzehn Tote.«

»Die Unruhen haben nicht stattgefunden?« fragte Münzer entrüstet. »Wollen Sie mir das erst mal beweisen? In Kalkutta finden immer Unruhen statt. Sollen wir vielleicht mitteilen, im Stillen Ozean sei die Seeschlange wieder aufgetaucht? Merken Sie sich folgendes: Meldungen, deren Unwahrheit nicht oder erst nach Wochen festgestellt werden kann, sind wahr. Und nun entfernen Sie sich blitzartig, sonst lasse ich Sie matern und der Stadtausgabe beilegen.«

Der junge Mann ging.

»Und so etwas will Journalist werden«, stöhnte Münzer und strich aufseufzend und mit einem Blaustift in der Rede des Reichskanzlers herum. »Privatgelehrter für Tagesneuigkeiten, das wäre was für den Jüngling. Gibt’s aber leider nicht.«

»Sie bringen ohne weiteres vierzehn Inder um und zweiundzwanzig andere ins Städtische Krankenhaus von Kalkutta?« fragte Fabian.

Münzer bearbeitete den Reichskanzler. »Was soll man machen?« sagte er. »Im übrigen, wozu das Mitleid mit den Leuten? Sie leben ja noch, alle sechsunddreißig, und sind kerngesund. Glauben Sie mir, mein Lieber, was wir hinzudichten, ist nicht so schlimm wie das, was wir weglassen.« Und dabei strich er wieder eine halbe Seite aus dem Text der Kanzlerrede heraus. »Man beeinflußt die öffentliche Meinung mit Meldungen wirksamer als durch Artikel, aber am wirksamsten dadurch, daß man weder das eine noch das andere bringt. Die bequemste öffentliche Meinung ist noch immer die öffentliche Meinungslosigkeit.«

»Dann stellen Sie doch das Erscheinen des Blattes ein«, meinte Fabian.

»Und wovon sollen wir leben?« fragte Münzer. »Außerdem, was sollten wir stattdessen tun?«     Dann kam der livrierte Bote und brachte den Wein und die Gläser. Münzer schenkte ein und hob sein Glas. »Die vierzehn toten Inder sollen leben!« rief er und trank. Dann fiel er wieder über den Kanzler her. »Einen Stuß redet unser hehres Staatsoberhaupt wieder einmal zusammen!« erklärte er. »Das ist geradezu ein Schulaufsatz über das Thema: Das Wasser, in dem Deutschlands Zukunft liegt, ohne unterzugehen. In Untersekunda kriegte er dafür die Drei.« Er drehte sich zu Fabian herum und fragte: »Und wie überschreibt man den Scherzartikel?«

»Ich möchte lieber wissen, was Sie drunter schreiben«, sagte Fabian ärgerlich.

Der Andere trank wieder, bewegte langsam den Wein im Mund, schluckte hinter und antwortete: »Keine Silbe. Nicht ein Wort. Wir haben Anweisung, der Regierung nicht in den Rücken zu fallen. Wenn wir dagegen schreiben, schaden wir uns, wenn wir schweigen, nützen wir der Regierung.«

»Schreiben Sie dafür!«    

»O nein«, rief Münzer. »Wir sind anständige Leute. Tag Malmy.«

Im Türrahmen stand ein schlanker eleganter Herr und nickte ins Zimmer.

»Sie dürfen ihm nichts übelnehmen«, sagte der Handelsredakteur zu Fabian. »Er ist seit zwanzig Jahren Journalist und glaubt bereits, was er lügt. Über seinem Gewissen liegen zehn weiche Betten, und obenauf schläft Herr Münzer den Schlaf des Ungerechten.«

Der alte Bote brachte wieder Schreibmaschinenblätter. Münzer griff nach einem Leimtopf, vervollständigte das Spruchband des Reichskanzlers und redigierte weiter.

»Sie mißbilligen die Indolenz Ihres Kollegen«, fragte Fabian Herrn Malmy. »Was tun Sie außerdem?«

Der Handelsredakteur lächelte, freilich nur mit dem Mund. »Ich lüge auch«, erwiderte er. »Aber ich weiß es. Ich weiß, daß das System falsch ist. Bei uns in der Wirtschaft sieht das ein Blinder. Aber ich diene dem falschen System mit Hingabe. Denn im Rahmen des falschen Systems, dem ich mein bescheidenes Talent zur Verfügung stelle, sind die falschen Maßnahmen naturgemäß richtig und die richtigen sind begreiflicherweise falsch. Ich bin ein Anhänger der eisernen Konsequenz, und ich bin außerdem …«

»Ein Zyniker«, warf Münzer ein, ohne aufzublicken.

Malmy hob die Schultern. »Ich wollte sagen, ein Feigling. Das trifft noch genauer. Mein Charakter ist meinem Verstand in keiner Weise gewachsen. Ich bedaure das aufrichtig, aber ich tue nichts mehr dagegen.« 

S.30ff.

 

[…]

 

Malmy stand auf, wankte ein wenig uns schlug ans Glas. Die Umsitzenden sahen ihn an.

»Meine Herrschaften«, rief er, »ich will eine Rede halten. Wer dagegen ist, der stehe auf.«

Münzer erhob sich mühsam.

»Der stehe auf«, rief Malmy, »und verlasse das Lokal.«

Münzer setzte sich wieder, Strom lachte.

Nun begann Malmy seine Rede: »Wenn das, woran unser geschätzter Erdball heute leidet, einer Einzelperson zustößt, sagt man schlicht, sie hat die Paralyse. Und sicher ist Ihnen allen bekannt, daß dieser äußerst unerfreuliche Zustand mitsamt seinen Folgen nur durch eine Kur heilbar ist, bei der es um Leben und Tod geht. Was tut man mit unserem Globus? Man behandelt ihn mit Kamillentee. Alle wissen, daß dieses Getränk nur bekömmlich ist und nichts hilft. Aber es tut nicht weh. Abwarten und Tee trinken, denkt man, und so schreitet die öffentliche Gehirnerweichung fort, daß es eine Freude ist.«

»Lassen Sie doch diese ekelhaften medizinischen Vergleiche!« rief Strom. »Ich bin nicht fest auf dem Magen.«

»Lassen wir die medizinischen Vergleiche«, sagte Malmy. »Wir werden nicht daran zugrunde gehen, daß einige Zeitgenossen besonders niederträchtig sind, und nicht daran, daß andere besonders dämlich sind. Und nicht daran, daß einige von diesen und jenen mit einigen von denen identisch sind, die den Globus verwalten. Wir gehen an der seelischen Bequemlichkeit aller Beteiligten zugrunde. Wir wollen, daß es sich ändert, aber wir wollen nicht, daß wir uns ändern. Wozu sind die andern da?, denkt jeder und wiegt sich im Schaukelstuhl. Inzwischen schiebt man von dorther, wo viel Geld ist, dahin Geld, wo wenig ist. Die Schieberei und das Zinszahlen nehmen kein Ende, und die Besserung nimmt keinen Anfang.«

»Ich bin ein Schwein«, murmelte Münzer, hob sein Glas und hielt es vor den Mund, ohne zu trinken. So blieb er sitzen.

»Der Blutkreislauf ist vergiftet«, rief Malmy. »Und wir begnügen uns damit, auf jede Stelle der Erdoberfläche, auf der sich Entzündungen zeigen, ein Pflaster zu kleben. Kann man so eine Blutvergiftung heilen? Man kann es nicht. Der Patient geht eines Tages, über und über mit Pflastern bepflastert, kaputt!«

Der Theaterkritiker wischte sich den Schweiß von der Stirn und sah den Redner bittend an.

»Lassen wir die medizinischen Vergleiche«, sagte Malmy. »Wir gehen an der Trägheit unserer Herzen zugrunde. Ich bin ein Wirtschaftler und erkläre Ihnen: Die Gegenwartskrise ohne eine vorherige Erneuerung des Geistes ökonomisch lösen zu wollen, ist Quacksalberei!«

»Es ist der Geist, der sich den Körper baut«, behauptete Münzer und warf sein Glas um. Dann schluchzte er laut auf. Er bekam jetzt das heulende Elend in ganz großem Maßstab. Und Malmy mußte, um den Kollegen zu übertönen, noch lauter sprechen. »Sie werden einwenden, es gebe ja zwei große Massenbewegungen. Diese Leute, ob sie nun von rechts oder links anmarschieren, wollen die Blutvergiftung heilen, indem sie dem Patienten mit einem Beil den Kopf abschlagen. Allerdings wird die Blutvergiftung dabei aufhören zu existieren, aber auch der Patient, und das heißt, die Therapie zu weit treiben.«

Herr Strom hatte von den Krankheitsbildern endgültig genug und suchte das Weite. Am Ecktisch stand mühsam ein dicker Mann auf, versuchte dem Redner den Kopf zuzuwenden, aber der Hals war zu massiv, und so sagte er in die verkehrte Richtung: »Mediziner hätten Sie werden sollen.« Dann plumpste er wieder auf seinen Stuhl. Dort packte ihn plötzlich die helle Wut, und er brüllte: »Geld brauchen wir. Geld. Und wieder Geld!«

Der Dicke vom Ecktisch konnte sich nicht beruhigen. »Einfach lächerlich«, knurrte er. »Geistige Erneuerung, Trägheit des Herzens, einfach lächerlich. Geld her, und wir sind gesund. Das wäre ja gelacht wäre das ja!«

Eine Frau, die ihm gegenübersaß und die genau so dick war wie er, fragte: »Aber wo kriegen wir denn das Geld her, Arthur?«

»Hab’ ich dich gefragt?« schrie er, schon wieder aufgebracht. Dann beruhigte er sich endgültig, hielt den Kellner, der vorbeiging, am Rockschoß fest und sagte: »Noch ein Sülzkotelett, und Essig und Öl.«

S. 36ff.

 

[…]

 

Labude blickte den Freund an und sagte: »Du müßtest endlich vorwärtskommen.«

»Ich kann doch nichts.«

»Du kannst Vieles.«

»Das ist dasselbe«, meinte Fabian. »Ich kann Vieles und will nichts. Wozu soll ich vorwärtskommen? Wofür und wogegen? Nehmen wir wirklich einmal an, ich sei der Träger einer Funktion. Wo ist das System, in dem ich funktionieren kann? Es ist nicht da, und nichts hat Sinn.«

»Doch, man verdient beispielsweise Geld.«

»Ich bin kein Kapitalist!«

»Eben deshalb.« Labude lachte ein bißchen.

»Wenn ich sage, ich bin kein Kapitalist, dann meine ich: Ich habe kein pekuniäres Organ. Wozu soll ich Geld verdienen? Was soll ich mit dem Geld anfangen? Um satt zu werden, muß man nicht vorwärtskommen. Ob ich Adressen schreibe, Plakate bedichte oder mit Rotkohl handle, ist mir und ist überhaupt gleichgültig. Sind das Aufgaben für einen erwachsenen Menschen? Rotkohl en gros oder en detail, wo steckt der Unterschied? Ich bin kein Kapitalist, wiederhole ich dir! Ich will keine Zinsen, und ich will keinen Mehrwert.«

Labude schüttelte den Kopf. »Das ist Indolenz. Wer Geld verdient und es nicht liebt, kann es gegen Macht eintauschen.«

»Was fang ich mit der Macht an?« fragte Fabian. »Ich weiß, du suchst sie. Aber was fange ich mit der Macht an, da ich nicht mächtig zu sein wünsche? Machthunger und Geldgier sind Geschwister, aber mit mir sind sie nicht verwandt.«

»Man kann die Macht im Interesse anderer verwenden.«

»Wer tut das? Dieser wendet sie für sich an. Jener für seine Familie, der Eine für seine Steuerklasse, der Andere für diejenigen, die blonde Haare haben, der Fünfte für solche, die über zwei Meter groß sind, der Sechste, um eine mathematische Formel an der Menschheit auszuprobieren. Ich pfeife auf Geld und Macht!« Fabian hieb mit der Faust auf die Brüstung, aber sie war gepolstert und plüschüberzogen. Der Faustschlag blieb stumm.    

»Wenn es eine Gärtnerei gäbe, wie ich sie mir erträume! Ich brächte dich, an Händen und Füßen gefesselt, hin und ließe dir ein Lebensziel einpflanzen!« Labude war ernstlich bekümmert und legte die Hand auf den Arm des Freundes.

»Ich sehe zu. Ist das nichts?«

»Wem ist damit geholfen?«

»Wem ist zu helfen?« fragte Fabian. »Du willst Macht haben. Du willst, träumst du, das Kleinbürgertum sammeln und führen. Du willst das Kapital kontrollieren und das Proletariat einbürgern. Und dann willst du helfen, einen Kulturstaat aufzubauen, der dem Paradies verteufelt ähnlich sieht. Und ich sage dir: Noch in deinem Paradies werden sie sich die Fresse vollhauen! Davon abgesehen, daß es nie zustande kommen wird … Ich weiß ein Ziel, aber es ist leider keines. Ich möchte helfen, die Menschen anständig und vernünftig zu machen. Vorläufig bin ich damit beschäftigt, sie auf ihre diesbezügliche Eignung hin anzuschauen.«

Labude hob sein Glas und rief: »Viel Vergnügen!« Er trank, setzte ab und sagte: »Erst muß man das System vernünftig gestalten, dann werden sich die Menschen anpassen.«     Fabian trank und schwieg.

Labude fuhr erregt fort: »Das siehst du ein, nicht wahr? Natürlich siehst du das ein. Aber du phantasierst lieber von einem unerreichbaren vollkommenen Ziel, anstatt einem unvollkommenen, das sich verwirklichen läßt, zuzustreben. Es ist dir bequemer so. Du hast keinen Ehrgeiz, das ist das Schlimme.«

»Ein Glück ist das. Stell dir vor, unsere fünf Millionen Arbeitslosen begnügten sich nicht mit dem Anspruch auf Unterstützung. Stell dir vor, sie wären ehrgeizig!«

Da lehnten sich zwei Trikotengel über die Brüstung. Die eine Frau war dick und blond, und ihre Brust lag auf dem Plüsch, als sei serviert. Die andere Person war mager, und ihr Gesicht sah aus, als hätte sie krumme Beine. »Schenkt uns ’ne Zigarette«, sagte die Blonde. Fabian hielt die Schachtel hin, Labude gab Feuer. Die Frauen rauchten, blickten die jungen Männer abwartend an, und die Magere konstatierte nach einer Pause mit verrosteter Stimme: »Na ja, so ist das.«

»Wer spendiert ’nen Schnaps?« fragte die Dicke.

S.52ff.

 

[…]

 

Labude sah starr in die Zweige des nächsten Baumes. »Rassow schrieb mir, er spräche im Hamburger Auditorium Maximum, vor Studenten aller Richtungen, über das Thema ›Tradition und Sozialismus‹. Und er schlug mir vor, als Korreferent oder im Rahmen der Diskussion von meinen politischen Plänen zu erzählen. Ich fuhr hinüber. Der Vortrag begann. Rassow berichtete den Studenten von seiner Rußlandreise und von seinen Erfahrungen und Gesprächen mit russischen Künstlern und Wissenschaftlern. Er wurde von den Vertretern der sozialistischen Studentenschaft wiederholt unterbrochen. Anschließend sprach ein Kommunist und wurde seinerseits von den Bürgerlichen gestört. Dann kam ich an die Reihe. Ich skizzierte die kapitalistische Situation Europas und stellte die Forderung auf, daß die bürgerliche Jugend sich radikalisieren und daß sie den kontinentalen Ruin, der von allen Seiten, passiv oder aktiv, vorbereitet wird, aufhalten müsse. Diese Jugend, sagte ich, sei im Begriff, in absehbarer Zeit die Führerschaft in Politik, Industrie, Grundbesitz und Handel zu übernehmen, die Väter hätten abgewirtschaftet, und es sei unsere Aufgabe, den Kontinent zu reformieren: durch internationale Abkommen, durch freiwillige Kürzung des privaten Profits, durch Zurückschraubung des Kapitalismus und der Technik auf ihre vernünftigen Maße, durch Steigerung der sozialen Leistungen, durch kulturelle Vertiefung der Erziehung und des Unterrichts. Ich sagte, diese neue Front, diese Querverbindung der Klassen sei möglich, da die Jugend, wenigstens ihre Elite, den hemmungslosen Egoismus verabscheue und außerdem klug genug sei, eine Zurückführung in organische Zustände einem unvermeidlichen Zusammenbruch des Systems vorzuziehen. Wenn es schon ohne Klassenherrschaft nicht abgehe, sagte ich, dann solle man sich für das Regime unserer Altersklasse entscheiden. Bei den Vertretern der extremen Gruppen erntete mein Vortrag die übliche Heiterkeit. Aber als Rassow den Antrag zur Bildung einer radikalbürgerlichen Initiative einbrachte, fand das doch Beifall. Die Gruppe kam zustande. Wir entwarfen einen Aufruf, der an alle europäischen Universitäten verschickt werden wird. Rassow, ich und ein paar Andere wollen die deutschen Hochschulen besuchen, Vorträge halten und analoge Gruppen bilden. Wir hoffen, mit den sozialistischen Studenten eine Art Kartellverbindung einzugehen. Wenn wir an allen Universitäten Gruppen gebildet haben, werden von diesen auch andere intellektuelle Körperschaften bearbeitet. Die Sache kommt in Gang. Ich habe dir gestern nichts davon erzählt, weil ich ja deine Skepsis zur Genüge kenne.« 

»Ich freue mich«, sagte Fabian, »ich freue mich sehr, daß du nun an die Verwirklichung deines Planes herangehen kannst. Hast du dich schon mit der Gruppe der Unabhängigen Demokraten in Verbindung gesetzt? In Kopenhagen ist ein ›Club Europa‹ gebildet worden, notier es dir. Und ärgere dich nicht zu sehr über meine Zweifel an der Gutartigkeit der Jugend. Und sei mir nicht böse, wenn ich nicht glaube, daß sich Vernunft und Macht jemals heiraten werden. Es handelt sich leider um eine Antinomie. Ich bin der Überzeugung, daß es für die Menschheit, so wie sie ist, nur zwei Möglichkeiten gibt. Entweder ist man mit seinem Los unzufrieden, und dann schlägt man einander tot, um die Lage zu verbessern, oder man ist, und das ist eine rein theoretische Situation, im Gegenteil mit sich und der Welt einverstanden, dann bringt man sich aus Langeweile um. Der Effekt ist derselbe. Was nützt das göttliche System, solange der Mensch ein Schwein ist? Aber was meinte Leda dazu?«

S.79ff.

 

[…]

 

»Wie kommen eigentlich Sie in diesen Saustall?« fragte Fabian.

»Ruth Reiter und ich sind aus derselben Stadt. Wir gingen in die gleiche Schule. Neulich trafen wir uns zufällig auf der Straße. Und weil ich noch nicht lange in Berlin bin, lud sie mich zu Informationszwecken ein. Ich bin das letzte Mal hier oben. Die Information hat genügt.«

»Das freut mich«, sagte er. »Ich bin kein ausgesprochener Tugendbewahrer, und trotzdem betrübt es mich, wenn ich sehen muß, daß eine Frau unter ihrem Niveau lebt.«

Sie sah ihn ernst an. »Ich bin kein Engel, mein Herr. Unsere Zeit ist mit den Engeln böse. Was sollen wir anfangen? Wenn wir einen Mann liebhaben, liefern wir uns ihm aus. Wir trennen uns von allem, was vorher war, und kommen zu ihm.

Da bin ich, sagen wir freundlich lächelnd. Ja, sagt er, da bist du, und kratzt sich hinterm Ohr. Allmächtiger, denkt er, nun habe ich sie auf dem Hals. Leichten Herzens schenken wir ihm, was wir haben. Und er flucht. Die Geschenke sind ihm lästig. Erst flucht er leise, später flucht er laut. Und wir sind allein wie nie zuvor. Ich bin fünfundzwanzig Jahre alt, und von zwei Männern wurde ich stehengelassen. Stehengelassen wie ein Schirm, den man absichtlich irgendwo vergißt. Stört Sie meine Offenheit?«

»Es geht vielen Frauen so. Wir jungen Männer haben Sorgen. Und die Zeit, die übrigbleibt, reicht fürs Vergnügen, nicht für die Liebe. Die Familie liegt im Sterben. Zwei Möglichkeiten gibt es ja doch nur für uns, Verantwortung zu zeigen. Entweder der Mann verantwortet die Zukunft einer Frau, und wenn er in der nächsten Woche die Stellung verliert, wird er einsehen, daß er verantwortungslos handelte. Oder er wagt es, aus Verantwortungsgefühl, nicht, einem zweiten Menschen die Zukunft zu versauen, und wenn die Frau darüber ins Unglück gerät, wird er sehen, daß auch diese Entscheidung verantwortungslos war. Das ist eine Antinomie, die es früher nicht gab.«

Fabian setzte sich aufs Fensterbrett. Gegenüber war ein Fenster erleuchtet. Er blickte in ein mäßig möbliertes Zimmer. Eine Frau saß am Tisch und stützte den Kopf in die Hand. Und ein Mann stand davor, gestikulierte mit den Armen, bewegte schimpfend den Mund, riß den Hut von einem Haken und verließ den Raum. Die Frau nahm die Hände vom Gesicht und starrte auf die Tür. Dann legte sie den Kopf auf den Tisch, ganz langsam und ganz ruhig, als warte sie auf ein niederfallendes Beil. Fabian wandte sich ab und betrachtete das Mädchen, das neben ihm im Lehnstuhl saß. Auch sie hatte die Szene drüben im anderen Haus beobachtet und sah ihn traurig an.

»Schon wieder ein verhinderter Engel«, meinte er.

S. 89f.

 

[…]

 

Auf dem Tisch standen Blumen. Ein Brief lag daneben. Er öffnete ihn. Ein Zwanzigmarkschein fiel heraus, und ein Zettel. »Wenig mit Liebe, deine Mutter«, war daraufgeschrieben. In der unteren Ecke war noch etwas zu lesen. »Iß das Schnitzel zuerst. Die Wurst hält sich in dem Pergamentpapier mehrere Tage.«

Er steckte den Zwanzigmarkschein ein. Jetzt saß die Mutter im Zug, und bald mußte sie den anderen Zwanzigmarkschein finden, den er ihr in die Handtasche gelegt hatte. Mathematisch gesehen war das Ergebnis gleich Null. Denn nun besaßen beide dieselbe Summe wie vorher. Aber gute Taten lassen sich nicht stornieren. Die moralische Gleichung verläuft anders als die arithmetische.

Am selben Abend bat Cornelia ihn um hundert Mark. Im Korridor des Filmkonzerns sei ihr Makart begegnet. Er war wegen Verleihverhandlungen ins Gebäude der Konkurrenz gekommen. Er hatte sie angesprochen. Sie sei der Typ, den er schon lange suche. Für den nächsten Film seiner Firma, versteht sich. Sie solle ihn morgen Nachmittag im Büro aufsuchen. Der Produktionsleiter und der Regisseur würden auch da sein. Vielleicht probiere man’s mal mit ihr.

»Ich muß mir über Mittag einen neuen Jumper und einen Hut besorgen, Fabian. Ich weiß, du hast fast gar kein Geld mehr. Aber ich kann mir diese Chance nicht entgehen lassen. Denke dir, wenn ich jetzt Filmschauspielerin würde! Kannst du dir das vorstellen?«

»Doch«, sagte er und gab ihr seinen letzten Hundertmarkschein. »Hoffentlich bringt dir das Geld Glück.«

»Mir?« fragte sie.

»Uns«, korrigierte er ihr zu Gefallen.

S. 144f.

 

[…]

 

Das komplette 14. Kapitel „Der Weg ohne Türen – Fräulein Selows Zunge – Die Treppe mit den Taschendieben“ ist grandiose Literatur. Es handelt sich um eine kryptisch-dichte Traumszene, die der Zitation in dieser Auswahl mehr als würdig ist. Jedoch erlaubt mir das Urheberrecht trotz klarer Quellenangabe als Nicht-Wissenschaftler nur ein Kleinzitat (Auswahl unzusamenhängender Stellen für eigenes Sprachwerk von höchstens ~10% des Originaltextes) vorzunehmen und deshalb verweise ich hier nur auf dieses Kapitel.

S. 146 – 154

 

[…]

 

Nachmittags saß er in einem großen Zeitungsverlag und wartete, daß Herr Zacharias Zeit fände. Herr Zacharias war ein Bekannter, der, nach einer Debatte über den Sinn der Reklame, zu ihm gesagt hatte: »Wenn Sie mich mal brauchen, melden Sie sich.« Fabian blätterte gedankenlos in einer der Zeitschriften, die den Tisch des Warteraums zierten, und entsann sich des Gesprächs. Zacharias hatte damals der Behauptung von H. G. Wells, daß das Wachstum der christlichen Kirche nicht zuletzt auf geschickte Propaganda zurückzuführen sei, begeistert zugestimmt; er hatte auch Wells’ Forderung verfochten, daß es an der Zeit sei, die Reklame nicht länger auf die Steigerung des Konsums von Seife und Kaugummi zu beschränken, sondern sie endlich ausreichend in den Dienst von Idealen zu stellen. Fabian hatte geäußert, die Erziehbarkeit des Menschengeschlechts sei eine fragwürdige These; die Eignung des Propagandisten zum Volkserzieher und das Talent des Erziehers zum Propagandisten stünden außerdem in Frage; Vernunft könne man nur einer beschränkten Zahl von Menschen beibringen, und die sei schon vernünftig. Zacharias und er hatten sich förmlich gestritten, bis sie fanden, der Meinungsstreit trage allzu akademischen Charakter, denn beide möglichen Resultate – der Sieg oder die Niederlage jener idealistischen Aufklärung – setzten sehr viel Geld voraus, und für Ideale gebe Keiner Geld.

Boten liefen geschäftig durch das Labyrinth der Gänge. Papphülsen fielen klappernd aus Metallröhren. Das Telefon des Aufsichtsbeamten klingelte fortwährend. Besucher kamen und gingen. Angestellte rannten aus einem Zimmer ins andere. Ein Direktor des Betriebes eilte, mit einem Stab untertäniger Mitarbeiter, die Treppe hinunter.

»Herr Zacharias läßt bitten.«

S. 156f.

[…]

 

Wollte er die Besserung der Zustände? Er wollte die Besserung der Menschen. Was war ihm jenes Ziel ohne diesen Weg dahin? Er wünschte jedem Menschen pro Tag zehn Hühner in den Topf, er wünschte jedem ein Wasserklosett mit Lautsprecher, er wünschte jedem sieben Automobile, für jeden Tag der Woche eines. Aber was war damit erreicht, wenn damit nichts anderes erreicht wurde? Wollte man ihm etwa weismachen, der Mensch würde gut, wenn es ihm gut ginge? Dann mußten ja die Beherrscher der Ölfelder und der Kohlengruben wahre Engel sein!    

Hatte er nicht zu Labude gesagt:

Noch in dem Paradies, das du erträumst, werden sich die Menschen gegenseitig die Fresse vollhauen? War das Elysium, mit zwanzigtausend Mark Durchschnittseinkommen pro Barbaren, ein menschenwürdiger Abschluß? Während er, sitzenderweise, seine moralische Haltung gegen die Konjunkturforscher verteidigte, regten sich wieder jene Zweifel, die seit langem in seinem Gefühl wie Würmer wühlten. Waren jene humanen, anständigen Normalmenschen, die er herbeiwünschte, in der Tat wünschenswert? Wurde dieser Himmel auf Erden, ob er nun erreichbar war oder nicht, nicht schon in der bloßen Vorstellung infernalisch? War ein derartig mit Edelmut vergoldetes Zeitalter überhaupt auszuhalten? War es nicht viel eher zum Blödsinnigwerden? War vielleicht jene Planwirtschaft des reibungslosen Eigennutzes nicht nur der eher zu verwirklichende, sondern auch der eher erträgliche Idealzustand? Hatte seine Utopie bloß regulative Bedeutung, und war sie als Realität ebensowenig zu wünschen wie zu schaffen? War es nicht, als spräche er zur Menschheit, ganz wie zu einer Geliebten: »Ich möchte dir die Sterne vom Himmel holen!« Dieses Versprechen war lobenswert, aber wehe, wenn der Liebhaber es wahrmachte. Was finge die bedauernswerte Geliebte mit den Sternen an, wenn er sie angeschleppt brächte! Labude hatte auf dem Boden der Tatsachen gestanden, hatte marschieren wollen und war gestolpert. Er, Fabian, schwebte, weil er nicht schwer genug war, im Raum und lebte weiter. Warum lebte er denn noch, wenn er nicht wußte, wozu? Warum lebte der Freund nicht mehr, der das Wozu gekannt hatte? Es starben und es lebten die Verkehrten.

Im Feuilleton des Boulevardblattes, das auf seinen Knien lag, sah er Cornelia wieder. Juristin wird Filmstar, stand groß unter dem Photo. Fräulein Dr. jur. Cornelia Battenberg, war weiterhin zu lesen, wurde von Edwin Makart, dem bekannten Filmindustriellen, entdeckt und beginnt schon in den nächsten Tagen mit den Aufnahmen zu dem Film »Die Masken der Frau Z.«

S. 210f.

 

[…]

 

Nach dem dritten Glas wurde Wenzkat politisch. »So geht das nicht weiter«, schimpfte er.

»Ich bin im Stahlhelm. Das Abzeichen trage ich nicht. Ich kann mich, bei meiner Zivilpraxis, öffentlich nicht festlegen. Doch das ändert nichts an der Sache. Es gilt einen Verzweiflungskampf.«

»Zum Kampf kommt es gar nicht erst, wenn ihr anfangt«, sagte Fabian. »Es kommt gleich zur Verzweiflung.«

»Vielleicht hast du Recht«, rief Wenzkat und schlug auf die Tischplatte. »Dann gehen wir eben unter, kreuznochmal!«

»Ich weiß nicht, ob das dem ganzen Volk recht ist«, wandte Fabian ein. »Wo nehmt ihr die Dreistigkeit her, sechzig Millionen Menschen den Untergang zuzumuten, bloß weil ihr das Ehrgefühl von gekränkten Truthähnen habt und euch gern herumhaut?«

»So war es immer in der Weltgeschichte«, sagte Wenzkat entschieden und trank sein Glas leer.

»Und so sieht sie auch aus von vorn bis hinten, die Weltgeschichte!« rief Fabian. »Man schämt sich, dergleichen zu lesen, und man sollte sich schämen, den Kindern dergleichen einzutrichtern. Warum muß es immer so gemacht werden, wie es früher gemacht wurde? Wenn das konsequent geschehen wäre, säßen wir heute noch auf den Bäumen.«

»Du bist kein Patriot«, behauptete Wenzkat.

»Und du bist ein Hornochse«, sagte Fabian. »Das ist noch viel bedauerlicher.«

Dann tranken sie noch ein Bier und wechselten vorsichtshalber das Thema.

»Ich habe einen glänzenden Einfall«, meinte Wenzkat. »Wir gehen ein bißchen ins Bordell.«

»Gibt es denn so etwas noch? Ich denke, sie sind gesetzlich verboten.«

»Freilich«, sagte Wenzkat. »Verboten sind sie, aber es gibt noch welche. Das eine hat mit dem andern nichts zu tun. Du wirst dich amüsieren.«

»Ich denke gar nicht daran«, erklärte Fabian.

»Wir trinken eine Flasche Sekt mit den Mädchen. Das Übrige ist fakultativ. Sei nett. Komm mit. Gib gut auf mich acht, damit ich meiner Frau keinen Kummer mache.« 

S. 224f.

 

[…]

 

»Wenn wir Sie engagieren«, sagte der Direktor, »erwarten Sie keine phantastischen Summen. Zweihundert Mark sind heute sehr viel Geld.«

»Für die Angestellten?« fragte Fabian neugierig.

»Nein«, sagte der Direktor, »für die Aktionäre.«

Fabian saß im Café Limberg, trank einen Kognak und machte sich Gedanken. Es war hirnverbrannt, was er plante. Er wollte, falls man die Gnade hatte, ihn zu nehmen, einer rechtsstehenden Zeitung behilflich sein, sich auszubreiten. Wollte er sich etwa einreden, ihn reize die Propaganda schlechthin, ganz gleich, welchen Zwecken sie diente? Wollte er sich so sehr betrügen? Wollte er sein Gewissen, wegen zwei Hundertmarkscheinen im Monat, Tag für Tag chloroformieren?

Die Mutter würde sich freuen. Sie wünschte, daß er ein nützliches Glied der Gesellschaft wurde. Ein nützliches Glied dieser Gesellschaft, dieser G.m.b.H.! Es ging nicht. So marode war er noch nicht. Geldverdienen war für ihn noch immer nicht die Hauptsache.

Er beschloß, den Eltern zu verschweigen, daß er bei der »Tagespost« unterkriechen konnte. Er wollte nicht unterkriechen. Zum Donnerwetter, er kroch nicht zu Kreuze! Er beschloß, dem Direktor abzusagen, und kaum hatte er sich dazu entschieden, wurde ihm wohler. Er konnte die restlichen tausend Mark von Labude nehmen, ins Erzgebirge hinauffahren und in irgendeinem stillen Gehöft bleiben. Das Geld reichte ein halbes Jahr oder länger. Er konnte wandern, soweit sein krankes Herz nichts dagegen hatte. Er kannte den Gebirgskamm, die Gipfel und die Spielzeugstädte von Schülerfahrten her. Er kannte die Wälder, die Bergwiesen, die Seen und die armen geduckten Dörfer. Andere Leute fuhren in die Südsee, das Erzgebirge war billiger. Vielleicht kam er dort oben zu sich. Vielleicht wurde er dort oben so etwas Ähnliches wie ein Mann. Vielleicht fand er auf den einsamen Waldpfaden ein Ziel, das den Einsatz lohnte. Vielleicht reichten sogar fünfhundert Mark. Die andere Hälfte konnte er der Mutter lassen.

Also los, an den Busen der Natur, marschmarsch! Bis Fabian wiederkehrte, war die Welt einen Schritt vorangekommen, oder zwei Schritte zurück. Wohin sie sich auch drehte, jede andere Lage war richtiger als die gegenwärtige. Jede andere Situation war für ihn aussichtsreicher, ob es Kampf galt oder Arbeit. Er konnte nicht mehr daneben stehen wie das Kind beim Dreck. Er konnte noch nicht helfen und zupacken, denn wo sollte er zupacken und mit wem sollte er sich verbinden? Er wollte die Stille zu Besuch und der Zeit vom Gebirge her zuhören, bis er den Startschuß vernahm, der ihm galt und denen, die ihm glichen.

Er trat aus dem Café. Aber war das nicht Flucht, was er vorhatte? Fand sich für den, der handeln wollte, nicht jederzeit und überall ein Tatort? Worauf wartete er seit Jahren? Vielleicht auf die Erkenntnis, daß er zum Zuschauer bestimmt und geboren war, nicht, wie er heute noch glaubte, zum Akteur im Welttheater?

S. 234f.

 

[…]

 

Anhang 1: Nachwort für die Sittenrichter

Dieses Buch ist nichts für Konfirmanden, ganz gleich, wie alt sie sind. Der Autor weist wiederholt auf die anatomische Verschiedenheit der Geschlechter hin. Er läßt in verschiedenen Kapiteln völlig unbekleidete Damen und andere Frauen herumlaufen. Er deutet wiederholt jenen Vorgang an, den man, temperamentloserweise, Beischlaf nennt. Er trägt nicht einmal Bedenken abnorme Spielarten des Geschlechtslebens zu erwähnen. Er unterläßt nichts, was die Sittenrichter zu der Bemerkung veranlassen könnte: Dieser Mensch ist ein Schweinigel.

Der Autor erwidert hierauf: Ich bin ein Moralist!

Durch Erfahrungen am eigenen Leibe und durch sonstige Beobachtungen unterrichtet, sah er ein, daß die Erotik in seinem Buch beträchtlichen Raum beanspruchen mußte. Nicht, weil er das Leben photographieren wollte, denn das wollte und tat er nicht. Aber ihm lag außerordentlich daran, die Proportionen des Lebens zu wahren, das er darstellte. Sein Respekt vor dieser Aufgabe war möglicherweise ausgeprägter als sein Zartgefühl. Er fand das ganz in der Ordnung.

Die Sittenrichter, die männlichen, weiblichen und sächlichen, sind wieder einmal sehr betriebsam geworden. Sie rennen, zahllos wie die Gerichtsvollzieher, durch die Gegend und kleben psychoanalytisch geschult, wie sie sind, ihre Feigenblätter über jedes Schlüsselloch und auf jeden Spazierstock. Doch sie stolpern nicht nur über die sekundären Geschlechtsmerkmale. Sie werden dem Autor nicht nur vorwerfen, er sei ein Pornograph. Sie werden auch behaupten, er sei ein Pessimist, und das gilt bei den Sittenrichtern sämtlicher Parteien und Reichsverbände als das Ärgste, was man einem Menschen nachsagen kann. Sie wollen, daß jeder Bürger seine Hoffnungen im Topf hat. Und je leichter diese Hoffnungen wiegen, umso mehr suchen sie ihm davon zu liefern. Und weil ihnen nichts mehr einfällt, was, wenn die Leute daran herumkochen, Bouillon gibt, und weil das, was ihnen früher einfiel, von der Mehrheit längst auf den Misthaufen der Geschichte geworfen wurde, fragen sich die Sittenrichter: Wozu haben wir die Angestellten der Fantasie, die Schriftsteller?

Der Autor erwidert hierauf: Ich bin ein Moralist!

Er sieht eine einzige Hoffnung, und die nennt er. Er sieht, daß die Zeitgenossen, störrisch wie die Esel, rückwärts laufen, einem klaffenden Abgrund entgegen, in dem Platz für sämtliche Völker Europas ist. Und so ruft er, wie eine Reihe Anderer vor ihm und außer ihm: Achtung, beim Absturz linke Hand am linken Griff!

Wenn die Menschen nicht gescheiter werden (und zwar jeder höchstselber, nicht immer nur der Andere) und wenn sie es nicht vorziehen, endlich vorwärts zu marschieren, vom Abgrund fort, der Vernunft entgegen: Wo, um alles in der Welt, ist denn noch eine ehrliche Hoffnung? Eine Hoffnung, bei der ein anständiger Kerl ebenso aufrichtig schwören kann wie beim Haupt seiner Mutter?

Der Autor liebt die Offenheit und verehrt die Wahrheit. Er hat mit der von ihm geliebten Offenheit einen Zustand geschildert und er hat, angesichts der von ihm verehrten Wahrheit eine Meinung dargestellt. Darum sollten sich die Sittenrichter, ehe sie sein Buch im Primäraffekt erdolchen, dessen erinnern, was er in diesem Nachwort wiederholt versicherte.

Er sagte wiederholt, er sei ein Moralist.

S. 239f.

 

[…]

 

Anhang 2

[…]

»Ich lebe«, sagte Fabian.    

»Leben nennen Sie das?« schrie der Direktor. »In Bars und Tanzsälen treiben Sie sich rum! Leben nennen Sie das? Sie haben ja keinen Respekt vorm Leben!«

»Nur vor meinem Leben nicht, mein Herr!« rief Fabian und schlug ärgerlich auf den Tisch. »Aber das verstehen Sie nicht, und das geht Sie nichts an! Es besitzt nicht jeder die Geschmacklosigkeit, die Tippfräuleins über den Schreibtisch zu legen. Verstehen Sie das?«

Fischer hatte sich auf seinen Stuhl gesetzt, war blaß geworden und tat, als schreibe er. Breitkopf hielt mit beiden Händen die Weste fest; er fürchtete offensichtlich, die Narbe könne vor Wut zerspringen. »Wir sprechen uns noch«, stieß er hervor, drehte sich um und wollte die Tür aufreißen. Sie öffnete sich nicht. Er rüttelte daran. Er bekam einen roten Kopf. Der Abgang war verunglückt.

»Sie ist verriegelt«, sagte Fabian. »Sie wurde von Ihnen verriegelt, des Blinddarms wegen.«

Der Direktor nickte, wurde noch röter, schob den Riegel zurück, riß die Tür auf, trat hinaus und warf sie zu.

»Da wackelt die Wand«, bemerkte Fabian und widmete sich erneut der Betrachtung des Kölner Doms und der daneben errichteten Zigarette.

Fischer schlug, nachträglich, die Hände über dem Kopf zusammen und rief: »Mensch, das grenzt ja an Majestätsbeleidigung. Dafür wurde man früher eingesperrt.«

»Dafür wird man heute ausgesperrt«, sagte Fabian.

»Na, Sie haben ja vorgebeugt. Er hat sicher eine Heidenangst, Sie könnten, wenn er Sie rausschmeißt, weitererzählen, daß er die Mädchen vom Büro langlegt. Ich dachte, ihn trifft der Schlag. Sie sind ein freches Luder! Aber was machen Sie, wenn er Ihnen trotzdem kündigt?«

»Denken Sie, ich habe mein Leben seit der Konfirmation damit verbracht, gute Propaganda für schlechte Zigaretten zu machen? Wenn ich hier fliege, such ich mir einen neuen Beruf. Auf einen mehr oder weniger kommt es mir nicht mehr an.«

S. 245f.


Kursorische Kontexte

Vom unglaublichen Prolog ins verspätete Jubliäum: 1 Jahr Quanzland!

Leere Gänge, ausgeschaltete Rechner mit düstertoten Bildschirmen, unbeschriebene Whiteboards und die Abwesenheit von allem Menschlichen prägen die Atmosphäre. Staub von mehreren Monaten, der rasch auf Millimeterdimension angewachsen ist, bedeckt alle freien Oberflächen und rundet zusammen mit der muffigen, sauerstoffarmen Luft, die schwer durch die Redaktionsräume wabert, die fatale Stimmung ab. Pflanzen gibt es hier keine, aber selbst wenn, wären sie bis jetzt gewiss vertrocknet und währenddessen jämmerlich eingegangen. Selbst die üblichen tierischen Hausbesetzer sind derweil verschieden: Vertrocknete Spinnen, tote Fliegen und exotischere, aber namenlose Insekten liegen über Böden und Möbel verstreut umher, sogar die vitale Kolonie an Silberfischen, deren Residenz in den Sanitärräumen ewig und unerschütterlich zu sein schien, ist unterdessen ausgestorben.

Was ist hier bloß geschehen, wo doch noch vor wenigen Monaten das Leben tobte, schier pulsierte und kreativer Unsinn unablässig produktiven Sinn jagte?

Es hat sich eine unglaubliche Geschichte ereignet. Anstatt einem schlichten, überraschungsarmen Reisebericht über einen schlimmstenfalls exzessiv ausartenden Betriebsausflug der Metatext-Redaktion müssten wir nun eine literarisch wilde Mischung aus Roadtrip, Robinsonade und Geheimdienst-Thriller erzählen, wollten wir den öden Zustand unsere Büroräume mitsamt unserer langen Abwesenheit erklären. Aber aufgrund des letzten Aspekts, der Verwicklung geheimdienstlicher Instanzen, sind uns leider Hände, Zungen und bisweilen gar Synapsen gleichermaßen gebunden. Nur soviel, bevor wir zum lange überfälligen Jahresjubiläum von Quanzland voranschreiten:

Unsere Geschichte begann am 2. Oktober im Flughafen Frankfurt Hahn, führte uns über den Atlantik ins sogenannte Land der unbegrenzten Möglichkeiten und dort zuerst ins Mekka der vergnügungssüchtigen Hedonisten, ins fabelhafte und schreckliche Las Vegas. Von den zwei Wochen unseres Trips sollten lediglich die ersten zwei bis drei Tage dort verbracht werden, bevor wir zu weiteren Stationen in den USA, Kanada und Mittelamerika weiterreisen wollten, aber alles kam anders, und zwar gewaltig. Glücksspiel und andere zwielichtige Aktivitäten hatten bereits nach zwei wilden Nächten und im Kater verschlafenen Tagen enorme Löcher in unsere an sich reichlich gefüllte Reisekasse gerissen. Dann kam einer der Redakteure auf noch zwielichtigere Ideen, wie wir diesen Zustand ändern könnten, und das Übel nahm seinen fantastisch-finsteren Lauf. Zwei Tage später befanden wir uns außer Landes in einem freundlichen Internierungslager und lernt neue Seiten und tiefe Abgründe kennen, bei uns und unseren Betreuern. Von diesem Zeitpunkt an werden die Erfahrungen von uns zwölf Handlungsreisenden so unterschiedlich, kontrovers und unzusammenhängend, dass wir uns nur noch auf wenige Stichworte und Wegmarken verständigen können: Ein Aufstand im Lager; Flucht und Rückkehr in die Zivilisation; ein Besuch in der deutschen Botschaft in Karakas; abermals ein Flug, der in einem nicht ganz zufälligen Absturz im Golf von Mexiko endete; sodann das vieltägige Überleben auf einer Rettungsinsel und das Anlanden am Strand einer namenlosen Insel, wo der mehrwöchige Aufbau überlebensfähiger Strukturen unter karibischer Sonne glückte; schließlich die Erkenntnis, nicht alleine auf dem Eiland zu sein, mit dem anschließenden Wunsch, doch wieder alleine sein zu wollen; schamanistische Rituale, exotische Drogen, schmerzhafte Träume und fröhliche Traumata sowie abermaliges, haarscharfes Entrinnen; schlussendlich die Flucht auf einem selbstgezimmerten Floß, die zur Rettung durch das weltbekannte Kreuzfahrtschiff AIDA führte; letztlich und unvermeidlich schlossen sich Quarantäne, Krankenhaus und viele Gespräche mit illusteren Behörden und deren eifrigen Beamten an. Am Ende gab es die offizielle Version unserer Erzählung, die narrativ vergleichbar lückenhaft ist, wie wir sie hier zum Besten geben. Mehr Details zu nennen ist unnötig, ist gefährlich, wird tunlichst unterlassen und bildet den Stoff für spannende Tagebucheinträge.

Insgesamt wurden so aus den 14 geplanten Tagen Betriebsausflug 77 ungeplante, ungeahnt abenteuerliche Tage der Odyssee, die sicher keiner von uns jemals wieder vergessen wird. Auch wenn einige der Kollegen seither psychotherapeutische Hilfe in Anspruch nehmen müssen, unsere Körper bis an ihrer Grenzen belastet und ausgezehrt wurden, so geht es nun allen 12 Redakteuren gesundheitlich wieder gut genug, um die Arbeit wieder aufzunehmen; zumal wir nun alle einige ruhige Tage mit unseren Familien verbringen durften.

Das alles bildet einen außergewöhnlichen Prolog zum Eigentlichen des Texts. Der urspüngliche Anlass für diesen Beitrag liegt nunmehr zwar über zwei Monate (15.10) in der Vergangenheit, nichtsdestotrotz sollte er nun endlich gebührend beschrieben und textuell gefeiert werden. Dabei geschieht der erste Schritt in Richtung einer Tradition, wenn die Katergorienübersicht aus dem Halbjahres-Fest-Artikel ihre erste Wiederkehr hat:


Herzlichen Glückwunsch zum 1. Geburtstag von Quanzland!

wünscht die gesamte Metatext-Redaktion


Thema (+0)       Anzahl der Beiträge: 99 (+99)       Format  (+2)

Denkwelten   32 (+7)

Text-Fast-Food   48 (+27)

NEU: Lyrik-Alarm   10 (+10)

Rätsel-Runde   1 (0)

Fiktionale Kleinode   70 (+46)

NEU: Originale   21 (+21)

Lichtrausch   28 (+24)

Quanzland-Zeitgeschehen   10 (+3)

Kulinarik    16 (+9)

Metatext   8 (+3)

Diskurse der Nacht   14 (+12)


Es hat sich viel getan und einiges entwickelt in Quanzland. Satorius sorgt brav und mal mehr, mal weniger fleißig für Inhalte und wir verwalten sein kreatives Chaos, bringen das in Ordnung, was er im fortlaufenden Blog produziert, schaffen dort Übersicht, wo diese verloren zu gehen droht. Wenn nötig schaffen wir auch neue Themen oder heben neue Formate aus der Taufe. Mit Lyrik-Alarm und Originale ist das im letzten Halbjahr gleich zweifach geschehen. Beide Schöpfungen reagieren auf Satorius sprunghafte Interessenlage, von der einzig abhängt, was, wie und wann wächst oder stagniert.

Kräftigen Aufschwung hat der ästhetische Bereich zu verbuchen. Literarische und bildende Meisterwerke und Machwerke laufen den anderen Themen den Rang ab, womit Wissenschaft, Philosophie und Politik etwas ins Hintertreffen geraten sind. Viele Zeilen guter Literatur wurde zitiert und noch mehr Zeilen eigener Gehversuche in noch nicht so guter Literatur unternommen. Aktivität und Passivität stehen hier in harmonischem Verhältnis, wenn nun noch Filme und Serien, Brett- und Computerspiele, Musik gar ein Platz bekämen, würde unser werter Herr Autor uns verzücken, aber rechnen wir damit? Nein!

Desweiteren ist erfreulich, berichten zu können, dass Satorius sich indes ins Zwielicht der Politik getraut und damit den Diskursen der Nacht erste ernsthafte Aufmerksamkeit geschenkt hat, wenn er auch die regelmäßige, originelle bis originale Textproduktion in dieser Kategorie noch immer schuldig bleibt. Wenn Sie wüssten, wie viele Diskussionen Satorius entert und in politische Gewässer lenkt, wie viele Artikelvorschläge und Eingaben er in dieser Richtung macht, nur um sie dann doch links oder höchstselten auch mal rechts liegen zu lassen. Wir bestärken ihn weiterhin konsequent und sind felsenfest davon überzeugt, dass auch das kleinste Wort, der nichtigste Gedanke, der bescheidenste Impuls es verdient hat gedacht, geschreiben und veröffentlich zu werden, mag er gelesen werden, mag er Wirkung entfalten oder auch nicht. Besonders in politischer Hinsicht ist diese kommunikative Offenheit und Signalfreude die entscheidente Komponente, ohne die demokratisch-diskursive Öffentlichkeit nicht denkbar, nicht praktikabel ist. Digitale Bürgerinitiativen sind ein mächtiges Phänomen geworden und damit eine massive Stütze für unsere Erbauungsversuche des politisch irgendwie desillusioniert und mutlos wirkenden Satorius. Ignoranz, Bequemlichkeit und Privatismus, die Rede vom Neo-Biedermeier kursiert bereits, machen sich unabhängig von Alter und Status unter den Staatsbürgern breit, möchte man passimistisch meinen. Angesichts von Weltklimagipfel und Flüchtlingskrise, Terrorismus und Pegida sowie vermeintlich multilateral gewordener internationaler Politik, die aus allen Fugen zu greaten droht, gibt es reichlich brandheiße Themen, die breit diskutiert, vielschichitig perspektiviert und gründlich deliberiert werden sollten. Also weiter so und dranbleiben an den Diskursen der Nacht. Wir beschließen diese wunschgeleitete Ausschweifung ein wenig populär-Kantisch mit dessen emanzipativen Ermunterung: Sapere aude! Habe Muth, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!

Die Häufigkeit der Beiträge korreliert auffällig mit unseren Motivationversuchen bei Satorius und ist demnensprechend eingebrochen, seit wir verschollen gewesen waren. Dieser Fakt überdeckt jedoch den vermutlichen Hauptgrund für die Schreibunlust unseres Autoren, eine Entwicklung oder besser Nicht-Entwicklung im ersten Jahr von Quanzland: ein eklantanter Mangel an Ressonanz und keinerlei Kommunikation – von wegen Web 2.0. Der traurige Tiefpunkt für unser Team rund um den tragischen Protagonisten in unserer Mitte war dann erreicht, als sich herausstellte, dass die wenigen zunächst seltsam anmutenden, aber dennoch dankbar angenommen Kommentare von englischsprachigen Rezipienten bloßer „Bullshit“ waren. So nannte es einer der Redakteure in einem impulsiven Ausbruch. Vorangegangen war dem eine Phase explosionsartiger Schwämme von ziemlich allgemein und generisch geschriebenem Lob in Form von Kommentaren zu diversen Artikeln von Satorius. Alle hatten wir uns immer darüber gewundert, warum eine in zum Teil hochidiomatischem Deutsch verfasste Seite so stetig Schmeicheleien in englsicher Sprache erfährt. Nachdem die ersten 20 Exemplare noch so einzigartig gewesen waren, dass sie emsig beantwortet und anerkannt worden waren, enthüllte die dreistellige, zuletzt nur noch plumpe Masse an Like-Spam das Wesen hinter den anfangs noch unterschiedlichen Ereignissen: Gefälschte Vernetzung durch Streuung von Backlinks, einzig um bessere Platzierungen der eigenen Seite zu erzielen – Pfui! Mit diesem nachträglichen Wissen verpuffte nun auch die Plausibilität der ersten Komplimente vollends und der motivierende Glaube, dass wenigsten annoyme Mitmenschen zaghaft begännen, sich auf Quanzland zu tummeln, war zerschlagen. Danach machten sich Ernüchterung und Unlust breit, zumal die unablässigen Kommentar-Attacken nur durch eine Erhöhung der Hürden für eine Kommunikation auf Quanzland unterbunden werden konnten. Wo so schon niemand geschreiben hat, können das jetzt nur noch registriete und angemeldete Nutzer. Wir mögen uns damit wiederholen, aber wir tun es nunmehr (pseudo-)öffentlich: Kopf hoch Satorius, der Selbstzweck heiligt deine Text-Taten allemal und lieber aufrichtig ungelesen als unaufrichtig geil auf bloße Backlinks.

Zum Abschluss möchten wir uns noch selbst digital auf die Schulter klopfen: Ein Kreisbogen schließt sich, denn zu den neuen Errungenschaften auf kategorieller Ebene – Originale & Lyrik-Alarm – die Anlass für die anfängliche Rede von Ordnung und Übersicht waren, gesellen sich noch zwei neue Unterseiten, die Übersichtlichkeit in Reinform zelebrieren und daher notwendig mit der Blogstruktur brechen müssen. Zum einen haben wir eine Archivseite für die mittlerweile 22 Koch-Rezepte geschaffen, da die Vertreter der Gattung Kulinarik ansonsten sicher in den Tiefen des Blogs unsichtbar geworden und damit verloren gegangen wären. Zum zweiten haben wir die Meistergalerien des Lichtrausches eröffnet, womit wir auf das rasante Anwachsen der Beiträge in der Kategorie Lichtrausch reagiert haben. Wer durch diese lichten Hallen der bildenden Kunst schlendert, bekommt nun auf intuitive Weise eine direkten Zugang zu jenen Künstlern, die Satorius sich mehrfach, genauer dreifach, vorgenommen hat.

Blog und (Web-)Seiten wachsen miteinander, wachsen dabei zusammen, ganz so wie es sein soll. Wie immer, wie überall im Leben herrschen auch hier in diesem Prozess Licht und Schatten. Da wir, da Satorius definitiv ein Kind der Nacht ist, sollte uns aber die gelegentliche Dunkelheit nicht schrecken, sondern im Gegenteil dazu einladen, sich ihr anheimzugeben, tief in sie einzutauchen und darin die Kraft der Muße zu suchen. Auf voran, weitere Runden quer durch Quanzland, rundherum und darüberhinaus, warten auf uns hier drinnen und Euch da draußen, wer auch immer, wo auch immer, wann, wie, warum auch immer ihr seid.

Bis bald mit ehrenvoller Verneigung und in der Hoffnung auf echte Kommunikation, Ihre Metatext-Redaktion

Achtung: Lyrik-Alarm!

Lyrik-Alarm!

Er schrillt unglaublich laut, durch die Gänge der Redaktionsräume von Quanzland. Die Mitglieder der Metatext-Redaktion verkriechen sich in ihren Büroboxen ganz tief unter ihrem Schreibtisch, die Hände fest auf die Ohren gepresst. Wie eine Schulglocke, wie eine Totenglocke, bedrohlich und lächerlich gleichermaßen.

Bisher war der Alarm eher selten erklungen, nun aber wird das öfter vorkommen – dafür sorge ich höchstselbst und mit diabolischem Genuss. Heute erst war ich für einen doppelten Alarm von beträchtlicher Länge verantwortlich. Die Töne hallen mir noch in den Ohren, aber das war es wirklich wert. Von der Banause zum Banausen-Sadist, ist mein derzeitige Leitmotiv im Umgang mit den Redakteuren.

Das schlichte Gedicht, damit eine der kräftigsten und ältesten Quellen dessen, was wir mindestens Literatur, manch einer überzogen gar Kultur nennt: Die gut alte Lyrik. Wer hat sie in der Schule nicht hassen gelernt? Eine Frage deren Umfrage mich wahrlich reizen würde. Ich jedenfalls bin seit Langem wortaffin, musste mich aber noch länge und zwar gründlich von der Lyrikunlust erholen, die mir die Schule, der Deutschunterricht in seiner Brillanz verpasst hatte.

Nun erwacht sie wieder, zaghaft aber stetig. Wo waren und sind Worte freier und fließender: im Roman, dem Internetvideo, dem Hörspiel oder dem Gedicht? In Allem potentiell und in der Gewichtung wohl immer individuell. Meine Gewichtung jedenfalls verschiebt sich ständig.

Diese Dynamik ist hart erarbeitet und erscheint aus anderem Blickwinkle womöglich als Rastlosigkeit, Sprunghaftigkeit oder sogar als Oberflächlichkeit. Vielleicht ist beides wahr, unwahrscheinlich nur eines von beiden oder vermutlich keines. Allerdings gibt es so viel zu entdecken, warum also: rasten, stillstehen oder versinken?

Die doppelte Dosis Dichtung,

derentwegen die demütigen Diener daniederknien,

darf durch die Düsternis der dunklen Dame dein Denken dekontaminieren.

Ein Lyrikalarm setzt an, droht aufzubranden, bricht aber sofort wieder ab: Fehlalarm – Puh, Glück gehabt!

Nun aber endlich zu den zwei Anlässen des nächtlichen Textes, den Dichtern Heine und Hoffmann von Hoffmannswaldau. Beiden gingen wohl offenen Ohres und Herzens durch ihre Welt. Deren Tendenzen in ihrer Vergangenheit und Zukunft aufzuspüren, den Zeitgeist einzufangen und allesamt sorgsam zu verdichten, gelang ihnen meisterlich: „Eins Plus“ – Aufgabe voll erfüllt und mit herausragendem Talent aufgefallen.

Die beiden dazugehörigen Alarme liegen bereits hinter den armen Teufeln, die unter mir und meinen Allüren leiden müssen, seit ich hier und jetzt tippe. Während meine Meta-Texter deshalb nunmehr zögerlich und verschüchtert, manche sogar sichtlich verstört, unter ihren Tischen hervorkriechen, schreite ich stumm tippend zur Text-Tat. Zwei erlesen Exempel deutscher Literatur, Text-Fast-Food möchte ich fast sagen, wären sie nicht so unglaublich nahrhaft und sättigend, wird pünktlich zum Frühaufsteher-Frühstück serviert.

In freudig-fieser Erwartung kommender Lyrik-Alarme, Euer Satorius

P.S. der geschundenen Metatext-Redaktion: Von nun an ist es gegen unsere ausdrückliche Bitte und zu unserem Leidwesen möglich, die lyrischen Exempel an Text-Fast-Food in der Unterkategorie Lyrik-Alarm (Direktlink) zu finden.


Ich kenne die Weise, ich kenne den Text,

Ich kenn auch die Herren Verfasser;

Ich weiß, sie tranken heimlich Wein

Und predigten öffentlich Wasser.

Ein neues Lied, ein besseres Lied,

O Freunde, will ich euch dichten!

Wir wollen hier auf Erden schon

Das Himmelreich errichten.

Wir wollen auf Erden glücklich sein,

Und wollen nicht mehr darben;

Verschlemmen soll nicht der faule Bauch,

Was fleißige Hände erwarben.

Es wächst hienieden Brot genug

Für alle Menschenkinder,

Auch Rosen und Myrten, Schönheit und Lust,

Und Zuckererbsen nicht minder.

Ja, Zuckererbsen für jedermann,

Sobald die Schoten platzen!

Den Himmel überlassen wir

Den Engeln und den Spatzen.

Und wachsen uns Flügel nach dem Tod,

So wollen wir euch besuchen

Dort oben, und wir, wir essen mit euch

Die seligsten Torten und Kuchen.

Heinrich Heine (1797 – 1856), Deutschland. Ein Wintermärchen: S. 6f (Caput 1; 1844)


Was ist die Welt und ihr berühmtes Glänzen?
Was ist die Welt und ihre ganze Pracht?
Ein schnöder Schein in kurzgefaßten Grenzen,
Ein schneller Blitz bei schwarzgewölkter Nacht,
Ein buntes Feld, da Kummerdisteln grünen,
Ein schön Spital, so voller Krankheit steckt,
Ein Sklavenhaus, da alle Menschen dienen,
Ein faules Grab, so Alabaster deckt.
Das ist der Grund, darauf wir Menschen bauen
Und was das Fleisch für einen Abgott hält.
Komm, Seele, komm und lerne weiter schauen,
Als sich erstreckt der Zirkel dieser Welt!
Streich ab von dir derselben kurzes Prangen,
Halt ihre Lust für eine schwere Last:
So wirst du leicht in diesen Port gelangen,
Da Ewigkeit und Schönheit sich umfaßt.

Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau (1616 – 1679), Die Welt (1647 – 1648)

Teil 1 – Wer es nicht lassen kann, sollte es nicht lassen

Er lässt es nicht, kann es nicht lassen! Wer bin ich, ihn aufzuhalten? Also Glückauf, munter weiter des Weges! Aber wo soll es eigentlich hinführen?

Nach den ersten Gehversuchen auf dem steinigen, langen Pfad zum noch namenlosen, unendlichen Roman bekommen wir heute einen ersten Teil eines neuen Kapitels zu lesen. Wie zuvor bei der ersten Version der Rückkehr des Fast-Magisters werde ich den Gesamttext in mehrere Teile zerhacken und nach und nach, Stück für Stück servieren. So wird der Textbrocken sicher bekömmlicher und vielleicht lässt er sich so besser verdauen.

Wieder gewinnen wir damit einen neuen Zugang. Ein anderer Blick schweift, andere Sinne erschließen sich eine Welt – ihre je eigene Welt. Bisher lernten wir neben der von Xaver Satorius, nur die Perspektiven von Yin und Yang kennen. Wer aber ist diese neue Figur aus der Feder des Dilettanten? Hat er dazugelernt oder nicht? Entsteht nun vielleicht sogar zaghaft so etwas wie eine Rahmenhandlung, oder begibt sich lediglich ein weiterer eigenständiger Handlungsstrang auf seinen ungewissen Weg in eine nebulöse Zukunft? Fragt und urteilt selbst, über Ruhe in Frieden.

Schaurig-schöne Lektüre, Euer Satorius

P.S der Metatext-Redaktion: Die älteren Ergüsse des Schreibgesellen finden sich in den vorhergehenden Beiträgen der neuen Unterkategorie Originale (Direktlink), da sie sonst in den tiefen des Archivs ungesehen verschwinden könnten. Aber Achtung, über 50 Seiten allererste Schreibexperimente lauern dort auf den unvorsichtigen Leser! Die Angaben in Klammern ordnen den Titeln ihre Kapiteldetails im Gesamtkontext des namenlosen Werkes zu.

Ein Neumensch im Ausnahmezustand (XS1)

Ein Sturm zieht auf (YY1 – V. 0.9)

Xaver mal anders (XS2)


Ruhe und Frieden

Erster Teil: Seiten 1 – 4

Die Sonne schickte sich soeben an, blutrot hinter den Ruinen der ehemaligen Wohntürme unterzugehen. Auf den Spitzen der erhalten gebliebenen Arkologien, die früher einmal zigtausenden Menschen eine Heimat geboten hatten, wuchsen nun Bäume und Pflanzen. Zusammen mit den Resten der kolossalen Architektur und den Höhenzügen der hügeligen Landschaft zeichneten sich die Silhouetten dieser jungen Wälder malerisch gegen den Horizont ab. Als Schatten lagen sie dunkel vor einem leuchtenden Himmel, der von Hellblau über Blassgelb bis Karmesinrot alle farblichen Nuancen und Abstufungen eines perfekten Sonnenuntergangs aufbot.

 

Sie genoss dieses Panorama, die besondere Situation. Sie war alleine hier draußen, hier oben, am Abgrund. Sie ließ sich während dieser wertvollsten Minuten des Tages von Frieden, Harmonie und Schönheit erfüllen. In der Umgebung gab es vermutlich nur wenige Menschen, denen es wie ihr vergönnt war, die Kraft dieses Anblicks in sich aufsaugen zu dürfen – zugleich atemberaubend und erholsam. So konnte sie Wärme, Energie und Zuversicht für die kommende Nacht tanken. Das war nötig.

 

Aus Erfahrung wusste sie, wie trügerisch diese idyllische Atmosphäre manchmal trotz des scheinbaren Friedens sein konnte; ein Wissen, ohne das sie sich weit tiefer hätte entspannen können. Vielleicht wäre sie sogar fähig gewesen, den Moment in meditativer Versenkung voll ausschöpfen zu können. Teilweise tat sie das hier und jetzt, aber eben nicht mehr als die zum Überleben nötige Anspannung ihr erlaubte. Da war im heraufdämmernden Zwielicht der nahenden Nacht – Friedenszeit hin oder her – natürlich entschieden weniger, als am lichten Tag.

 

Derzeit befand sie sich auf einer weiteren Beutetour durch eine weitere der vielen zerstörten Kulturlandschaften, die einst Zierde menschlicher Hochzivilisation gewesen waren. Sie wusste kaum noch zu sagen, die wievielte Region in ihrer Laufbahn sie hier gerade durchstreifte, ehrlicherweise eigentlich plünderte. Viel wichtiger war nämlich, dass hier wie anderswo Artefakte, Schätze und allerlei Botschaften aus der Vergangenheit nur darauf warteten, erst entdeckt und sodann geborgen zu werden – oder geplündert, was nur eine Frage des Blickwinkels war. Dinge und Informationen von unschätzbarem Wert lockten: Kleingeräte und Speichermedien, wertvolle Rohstoffe und Ressourcen, Kunstwerke sowie Dokumente und allerlei dekadenter Tand. All dies musste nur in Besitz genommen werden. Die handfesten Werte unter dem Beutegut konnte sie anschließend einträglich und problemlos verkaufen. Das nebenbei unablässig gesammelte Wissen und die gemachten Erfahrungen bereicherten hingegen ihren ganz privaten Schatz; und dieser wuchs weiterhin kräftig an.

 

Sie liebte die Zeit hier draußen, obwohl oder gerade, weil das Leben in der Todeszone so unvorhersehbar und abenteuerlich, so wild und gefährlich war. So ganz und gar verstand sie sich an diesem Punkt auch nicht. Es ging ihr wohl vor allem um drei Dinge: Freiheit, Autonomie und Stärke. Drei Werte, die zurzeit jedoch nur zu einem hohen Preis gelebt werden konnten. Stete Wachsamkeit war nötig, geistige Belastungen und physische Strapazen mussten duldsam getragen werden. Und trotz aller Erfahrung und Voraussicht ließen sich häufig auch Kämpfe nicht vermeiden. Auf diese folgten dann im Regelfall: Leid und Qual. Ein Duo, dem sie meistens sogar offen gegenübertrat – austeilen und einstecken, ehrenvoll und mit Würde. Ebenso hielt sie es mit Angst und Furcht; hier draußen ständige Begleiter, die sie mit einer grimmigen Lust am Nervenkitzel willkommen hieß. Blieben zuletzt Ekel und Abscheu, ein Duett, auf das sie gerne verzichtet hätte. Genau in beim Umgang mit diesen beiden Empfindungen befand sich ihre aktuelle Charakterbaustelle.

 

In der erfolgreichen Bewältigung der vielen widerwärtigen Eindrücke, die sich hier draußen unvermeidlich durch alle Sinne aufdrängten, lag das große Kontra ihres Daseins. Denn hier waren unsägliche Hässlichkeit, Übel und Disharmonie allgegenwärtig und aufdringlich gleichermaßen. Soviel zur Reflexion dachte sie zufrieden – ein bisschen Katharsis schadete ihrer Stimmung nie. Um all das, was hier auf einen einstürmte, gesund und munter zu überstehen, bedurfte es gründlicher Psychohygiene, zudem unerschütterlicher Charakterstärke und fester Gewohnheiten. Ihre Rituale und Regeln unterstützen sie bei dieser Aufgabe. Somit gab es – Manitu sei dank – regelmäßig solche Momente wie diesen: Schönheit, Ruhe und Harmonie beseelten zwei Mal am Tag ein kurzes Zwischenspiel, morgens und abends herrschte fast eine ganze Stunde Frieden in der Todeszone. Dadurch gewann sie Zeit und Raum für reichlich Muße und ein wenig Müßiggang, die während der restlichen Stunden des Tages kaum einen Platz fanden. Die übrigen, nicht mehr ganz 22 Stunden, kämpfte sie um Beute und ihr Überleben, von den sechs Stunden Schlaf mal abgesehen. So war es und das war ihr Alltag, bestätigte sie mental die Gegebenheiten.

 

Bald jedoch musste sie aufstehen und ihren Lieblingsplatz der aktuellen Tour – so hatte sie eben spontan beschlossen – räumen. An diesen Ort und die epische Atmosphäre dieser Situation würde sie sich noch lange erinnern, so hoffte sie inständig: Mit dem Hintern lässig auf dem Kraterrand, die Beine im Abgrund eines Vulkans baumelnd, hatte sie einen grandiosen Sonnenuntergang vor einem widerstreitend-schönen Panorama genießen dürfen, das seines Gleichen suchte. Nein, korrigierte sie sich, sie genoss das alles noch immer, in vollen Zügen; genau jetzt und genau hier.

 

Hierauf musste sie sich eine Zuflucht für die kommende Nacht suchen, für sich und ihren Mjuhlie, der sie auf Beutetour stets begleitete. Jener war derzeit schon fast voll beladen, mit den unzähligen Beutestücken der letzten drei Tage. Leider lockte ihr tumber Transportrobot durch seine Andersartigkeit Fauna wie Flora unvermeidlich an. Mit seiner unnatürlichen Geräuschkulisse, seinen seltsamen Gerüchen, vor allem durch seine aufdringliche Erscheinung fiel der Koloss aus Metall und Kunststoff unweigerlich auf. Deshalb war sie es bereits gewohnt, bei ihrer Rückkehr nach der Pause eine Schar neugieriger Wesen vertreiben zu müssen. Die schlichen dann gewöhnlich argwöhnisch um den Kubus herum, der mit seinen drei mal drei mal drei Metern Volumen kaum zu übersehen war, und mussten dann vertrieben oder beseitigt werden. Ihn würde sie daher zuerst und sehr gründlich verstecken müssen, danach konnte sie in der Nähe ein gemütliches Lager für sich selbst einrichten. Eine verlassene Höhle oder ein freies Gebäude wären ein perfekter Unterschlupf für die Nacht, fantasierte sie entgegen Erfahrung und Erwartung zugleich. Dann endlich konnte sie sich in Ruhe hinlegen, einschlafen und hoffentlich gut und intensiv träumen. Die letzte Nacht war gut gewesen. Ja, Träumen war ein toller Ausgleich zur Realität, wie sie in einer Todeszone herrschte.

 

Klar, sie war freiwillig hier, und ja, sie konnte mit ihren Fähigkeiten und ihrer Ausrüstung problemlos überleben – aber wofür die Nacht im Freien verbringen? Es würde unnötig viel, zumal vermeidbare Kraft und überdies wertvolle Ressourcen kosten. Nachts waren erstens weitaus mehr Jäger unterwegs als im hellen Tageslicht und zweitens wollte sie den erholsamen Schlaf nicht aufschieben. Diesen Verzicht wollte und konnte sie auch nur begrenzt technologisch ausgleichen. Sich mindestens sechs Stunden Schlaf zu verordnen, hatte sich bewährt, also würde sie versuchen, es fortzuführen. Eine der Grundregeln des Kampfes, des Denkens und der Natur gebot ihr, überall dort Energie zu sparen und sich zu regenerieren, wo und wann das möglich war. Sparsamkeit war hier draußen unerlässlich, auch wenn sie mit diesem Prinzip nicht immer so konsequent war. Was waren schon Regeln ohne Ausnahmen – genau, keine Regeln sondern Gesetze und mit diesen wusste sie wenig anzufangen.

 

Sobald die Sonne untergegangen sein würde, musste sie den doppelsinnige Ausblick hinter sich lassen, in dem Verfall und Wachstum kollidierten, Leben und Tod symbolisch miteinander rangen, dabei war gänzlich unklar, welche Seite auf lange Sicht die Oberhand behalten mochte. Derzeit führte die Wildnis offensichtlich und klar mit weitem Vorsprung vor der Zivilisation. Es verdunkelte sich zusehends.

 

Bald würde sie dem schwindenden Licht des vergangenen Tages den Rücken zukehren und in Richtung der kommenden Nacht davoneilen. Bei diesem Gedanken schaute sie instinktiv kurz über ihre linke Schulter und erkannte, dass sich die Nacht hinter ihr in einer Front tiefster Dunkelheit ankündigte, die vom östlichen Horizont bedrohlich und scheinbar rasch heranrollte. Von der mächtigen Orbitalverbindung, die vor dem Horizont liegenden, sonst so aufdringlich war, sah sie wenig mehr, als sporadisch gestreute, bunte Lichter, eingefasst von dunklen Konturen vor einer satten Finsternis. Das Territorium einer der seltsamen europäischen Mächte mit einem Stadtmoloch, dessen Namen sich ebenfalls nicht eingeprägt hatte – irrelevant.

 

Sie wendete den Kopf wieder zurück und blickte versonnen hinab in den klaffenden Abgrund direkt vor ihr und unter ihren Füßen, wie er sich kilometerbreit, kreisrund und hunderte von Meter tief vor ihr aufspannte: ein düsteres Loch voll schroffer Felsen, an den Spitzen erleuchtet von vereinzelten Sonnenstrahlen. Die Luft hier oben war merklich heißer und schmeckte sie nicht sogar ein wenig nach Asche und Schwefel, oder bildete sie sich das bloß ein? Der letzte dokumentierte Ausbruch lag sicher schon eine ganze Weile zurück. Die rund um den Krater üppig wuchernde Vegetation belegte das doch eindrücklich. Auch wenn sie sich den Namen dieses gewaltigen Vulkans gar nicht erst gemerkt oder vielleicht auch nur sofort wieder vergessen hatte, der Ausbruch lag sicher schon länger zurück. An die wirklich wichtigen Fakten erinnerte sie sich immerhin leidlich, wenn auch bisweilen etwas vage. Für eine gute Schätzung hatte es meistens gereicht.

Ein halbes Jahr Quanzland – Evaluation und Perspektive

Ein gutes halbes Jahr ist es her. Damals entstand das hier. Aus dem ersten Anschlag wurde ein erstes Zeichen, daraus sodann ein erstes Wort, (zu) viele davon bildeten den ersten Satz, der schlussendlich wahllos vervielfacht den ersten Text von junger, noch zweifelhafter Qualität hervorbrachte. Von diesen ersten eigenen und einigen fremden Texten gibt es nunmehr unzählige; womit wir die aktuelle Marke von 48 Beiträgen und vier Seiten wirklich nicht maßlos übertreiben wollen.

Ein klein wenig Evaluation zu Beginn und etwas Perspektivarbeit zum Abschluss stehen heute an – und ja, hier spricht die Metatext-Redaktion, nicht Satorius. Da wir seit der Eröffnung nur sporadisch in Erscheinung getreten sind, sollte dieser Fakt früh betont werden. Unser Hauptaugenmerk lag zwischenzeitlich auf Schulung sowie Motivationsarbeit mit Satorius und galt  hauptsächlich einer Schwerstfehler-Korrektur seiner Sünden und Vergehen  gegenüber Text und Sprache.   Bei unseren überfallartigen Redaktionssitzungen ging es uns ehrlicherweise vorrangig darum, seine ausgeprägte Gastfreundschaft zu strapazieren und die dadurch eröffneten Vorräte an Genussmitteln auszuradieren. Daraus resultierte häufig ein rauschendes, für Quanzland jedoch unproduktives Gelage.

Wie hat sich die am Reisbrett erdachte inhaltliche Struktur der Seite entwickelt? Decken sich die Kategorien, mitsamt der Themen und Formate, aus denen sie zusammengesetzt sind, einigermaßen mit dem launischen Schreibinteresse unseres Autorengesellen? Diese zwei Fragen können wir fast restlos mit einem Blick in die Kategorien-Statistik erwägen:

Thema       Anzahl der Beiträge: 48       Format 

Denkwelten   25

Text-Fast-Food   21

Rätsel-Runde   1

Fiktionale Kleinode   24

Lichtrausch   4

Quanzland-Zeitgeschehen   10

Kulinarik   7

(Metatext   5)

Diskurse der Nacht   2

Damit wird bei 48 Beiträgen recht schnell einsichtig, dass im Normalfall ein Thema und ein Format pro Beitrag zugeordnet wurden. Es hat also nur wenige Beiträge mit vielfachen Kategorien gegeben. Dieser Aspekt und die Rückmeldung von Satorius, er habe immer eine gut passende Kategorie gefunden, stimmen positiv, wie auch die überraschende Quantität und Kontinuität der Beiträge. Die sanft ansteigende Qualität der Texte soll auch nicht unerwähnt bleiben.

Die thematische Ungleichverteilung der Beiträge zu Lasten von bildender Kunst (Lichtrausch) und Politik (Diskurse der Nacht) sowie das frühe Absterben der Rätsel-Runde aufgrund von Mangel an Kontrahenten wegen einer generellen Besucherknappheit sind die negativen Entwicklungen. Von denen stimmt uns vor allem letztere nachdenklich. Immerhin 12 Abonnenten, einen Gefolgsmann („Follower“) konnte Satorius bisher interessieren, aber leider nur einen sinnhaften Kommentar herauskitzeln. Stattliche 1092 Mal wurden die Pforten von Quanzland in Summe geöffnet, grob gerundet sind das also stattliche Fünfeinhalb Besucher pro Tag. Diese letzten zwei Zahlen taucht nur deshalb in diesem Absatz auf, da die meisten Besuche lange zurückliegen und das aktuelle Interesse sehr bescheiden ausfällt. Zwei Werbeaktionen in Satorius Umfeld waren wohl Auslöser eines frühen Strohfeuers gewesen, dem aber keine Resonanz folgte, denn so gut wie keiner dieser Menschen findet sich unter den Abonnenten.

Deshalb ein umso größeres Dankeschön an die interessierten Fremden. Satorius schreibt sowieso weiter, der ist da hartnäckig und asketisch, aber wir freuen uns für ihn mit. Daneben ist aller Anfang bekanntlich schwer. Nicht zuletzt sind die von uns gestiftete und kultivierte, intrinsische Motivation sowie sein brennende Leidenschaft für bessere Texte unerschütterliche Ressourcen für ihn. Trotzdem hofft Satorius auf mehr Kommentarfreude und wartet sehnlichst – das würde er nie offen gestehen, außer gegen Ende besagter, exzessiver Redaktions-Gelage – auf eine erste persönliche Reaktion seitens seines Umfelds.

Was war besonders, überraschend, irritierend und wie soll es nach dem Ende der Heimreise und der Ankunft in Quanzland nun weitergehen?

Sesshaft geworden und mit einer gewissem Trägheit geschlagen, tut sich in punkto Quanzland-Zeitgeschehen wohl nur wenig. Wenigstens war Satorius nach Überzeugungsarbeit bereit, sich ein neues Format vorzunehmen, das mit den Diskursen der Nacht eng verbunden sein wird. Dort sollen in enthüllender Manier zeitgenössische Ärgernisse angeprangert werden, bestenfalls in wöchentlichem Turnus.

Ob Satorius unsere Abgabefristen und Strukturvorgaben allerdings einhält, steht unter starkem Zweifel. Er hat unsere redaktionelle Arbeit in planerischer Hinsicht sabotiert und unterminiert, wie ein Meister in diesen Disziplinen. Es kam in der Summe weit mehr Text als al je erwartet, aber nie zu den erwarteten Zeiten und ohne kalkulierbare Kategorie. So haben wir ihn erfolglos zur Politik zu peitschen versucht und wurden im Gegenzug von Zitaten und Unmengen eigener Texte überhäuft. Mit Kulinarik ist er zudem mittelschwer überfällig: Je nach Schätzung liegen beim ihm sechs bis zehn Zutatenlisten für neue Rezepte herum. Und dort warten sie und vermehren sich, anstatt abgetippt zu werden. Die Gerichte, deren Zubereitung damit schon Monate zurückliegen könnte, sind notwendig auf Satorius Gedächtnis angewiesen, da er die Anleitung und deren Feinheiten immer nur aus der Erinnerung heraus formuliert. Nicht nur in dieser Hinsicht eigensinnig und unbelehrbar, ist auf Satorius Gedächtnis nicht immer Verlass. Aber ansonsten sind wir positiv überrascht und zugleich milde irritiert über die Textkanonaden, die er uns im letzten Quartal um die Ohren gehauen hat. Noch roh und ungeschliffen mag mit Ausdauer und  Disziplin, Passion und Muse ein echter Geschichtenerzähler heranreifen. Warten wir es ab und lächeln weiter über den angeblichen Kollegen aus unserer Mitte.

Bevor nun unser Einsatz ausartet, kommen wir gemächlich zum Ende dieser kleinen Bilanz, dem ersten kollektiven Resümee der Metatext-Redaktion. Wir hoffen allesamt inständig, dass Satorius seine kategorische  Absage an Zensur auch einhält. Die finalen Sätze in den Absätzen n minus zwei, n minus eins und n minus fünf sind drei bewusste Lackmustests hierfür – werter (Nicht-)Zensor in spe.

Bis irgendwann liebe Leserschaft und in gespannter Erwartung auf unseren nächsten Text, Ihre immer Feedback-hungrige Metatext-Redaktion (Metatext-Redaktion@quanzland.info)