Text-Slow-Food

Wochenendlektüren Nr.1 – XS1: S. 1-5/~53 [Update 2.3]

Am Wochenende ticken die Uhren anders. Da hat man Zeit, hat Muse und reichlich Gelegenheit für Kurzweil. Zeit also auch, um mal wieder ganz gediegen zu lesen. Und was bietet sich für die wochenendliche Schmökerei besser an als eine ordentliche Portion gut abgehangenes Text-Slow-Food, zumal es sich dabei auch noch um echte Originale handelt. Serviert werden die üppigen Portionen als bekömmliche Ration von je fünf Seiten pro Wochenende: Willkommen also in der ersten Ausgabe der Wochenendlektüren, einer Kombination aus TSF und Original in Serie und unter neuem Namen, innerhalb derer verschiedene Prosatexte veröffentlicht und zur Diskussion gestellt werden.

Den Anfang macht heute eine bereits vormals hier und sogar zweifach abgedruckte Geschichte, jedoch in einer so stark überarbeiteten Version, dass die urspünglichen beiden Entwicklungsstadien dieses Textes im direkten Vergleich alt und einfach aussehen. Eine literarische Skizze von einst entwickelt sich Schritt für Schritt zu einem Panorama, die Figuren werden lebendiger, Geschehen und Handlung stimmiger, die Sprache konsequenter und kompromissloser, was jedoch der Lesbarkeit nicht immer zuträglich ist. Dafür lernen wir einen stringent inszenierten Cyborg-Gelehrten kennen, dessen Leben aus den Fugen gerät und der dabei wider Willen zum Brennpunkt der Ereignisse in einer möglichen Zukunft einer solaren Menschheit wird. Es hätte so gewesen sein können steht sowohl als Arbeitstitel wie auch als Credo über dem literarischen Experiment, dessen erster von sieben Zugängen den Neumenschen Xaver S. ebenso porträtiert wie er die größeren Zusammenhänge und Hintergründe der fiktiven Zukunft darstellt und reflektiert.

Zukünftig werden mit wöchentlich fünf Seiten andere assoziierte Texte kapitelweise folgen: Inhaltlich anders gelagert, formal, funktional und sprachlich höchst divers wie different hierzu, führen neben Xaver S. (XS) sechs weitere Zugänge hinein in die vielfältige, postutopische Science-Fiction-Welt. Wir treffen auf die Zwillinge Yin & Yang (YY); begegnen der Schatzjägerin Alice Aqanda (AA); lernen Kjotho (KJ), den Regenten von Gor Thaunus, sowie die dort de facto herrschenden Oligarchen kennen; begleiten ein tierisches Trio (TVB), die Ente Trudie, den Raben Balthazar und den schwarzen Schwan Valerian auf ihrem politischen Trip; erleben das Drama rund um die Psychedeeler (PD), eine exzentrische Piratencrew, und nehmen Anteil am Leben und Leiden des Vektoren #42.3 (V8).

Nun aber eine gute erste Wochenendlektüre, Euer Satorius


1. Zugang XS – Schwere Ausnahmefehler im System

Mit jedem Tage und von beiden Seiten meiner Geistigkeit, der moralischen und der intellektuellen, näherte ich mich so ständig jener Wahrheit, durch deren teilweise Entdeckung ich zu einem so fürchterlichen Schiffbruch verdammt worden bin: daß der Mensch in Wahrheit nicht eins, sondern wahrlich zwei ist. Ich sage zwei, weil der Status meiner eigenen Erkenntnis nicht über diesen Punkt hinausgeht. Andere werden folgen, andere werden mich auf dieser gleichen Linie überflügeln. Ja, ich wage anzunehmen, daß die Menschheit sich schließlich bewußt werden wird eines ganzen Gemeinwesens vielfältiger, inkongruenter und unabhängiger Existenzen.

Robert Louis (Balfour) Stevenson (1850 – 1894), „Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde“ (1886)


„Die fehlerhafte und Unglück bringende Auffassung, als sei ein Mensch eine dauernde Einheit, ist Ihnen bekannt. Es ist Ihnen auch bekannt, daß der Mensch aus einer Menge von Seelen, aus sehr vielen Ichs besteht. Die scheinbare Einheit der Person in diese vielen Figuren auseinanderzuspalten gilt für verrückt, die Wissenschaft hat dafür den Namen Schizophrenie erfunden. Die Wissenschaft hat damit insofern recht, als natürlich keine Vielheit ohne Führung, ohne eine gewisse Ordnung und Gruppierung zu bändigen ist. Unrecht dagegen hat sie darin, daß sie glaubt, es sei nur eine einmalige, bindende, lebenslängliche Ordnung der vielen Unter-Ichs möglich. Dieser Irrtum der Wissenschaft hat manch unangenehme Folge, sein Wert liegt lediglich darin, daß die staatlich angestellten Lehrer und Erzieher sich ihre Arbeit vereinfacht und das Denken und Experimentieren erspart sehen. Infolge jenes Irrtums gelten viele Menschen für ’normal‘ ja für sozial hochwertig, welche unheilbar verrückt sind, und umgekehrt werden manche für verrückt angesehen, welche Genies sind. Wir ergänzen daher die lückenhafte Seelenlehre der Wissenschaft durch den Begriff, den wir Aufbaukunst nennen. Wir zeigen demjenigen, der das Auseinanderfallen seines Ichs erlebt hat, daß er die Stücke jederzeit in beliebiger Ordnung neu zusammenstellen und daß er damit eine unendliche Mannigfaltigkeit des Lebensspieles erzielen kann. Wie der Dichter aus einer Handvoll Figuren ein Drama schafft, so bauen wir aus den Figuren unsres zerlegten Ichs immerzu neue Gruppen, mit neuen Spielen und Spannungen, mit ewig neuen Situationen. Sehen Sie!“

Hermann Hesse (1877 – 1963), „Der Steppenwolf“ (1927)


Man starrte ihn an. Dabei saß der graue, alte Mann derzeit einfach nur ruhig da und wirkte, als schliefe er tief und traumverloren. Seine Augen waren geschlossen, sein Gesicht war glatt und er wirkte totenstarr. Nur wer genau hinsah, konnte ein minimales Zucken erkennen. Im fahlen, faltigen Gesicht verrieten es nur die Augen, auch wenn die Lider wie die übrige Muskulatur körperweit paralysiert waren: Die Augäpfel rollten unter der künstlich stabilisierten Mimik wild umher. Unablässig, aber weitgehend unsichtbar sprangen die blassblauen Iriden chaotisch hin und her; unstet, rasch und irritierend erratisch. Dabei weiteten sie sich, zogen sich wieder zusammen, der permanenten Dunkelheit scheinbar zum Trotz. Ein verborgener Widerspruch, ein störendes Detail das Wissenden vieles verraten hätten. Aber sie wussten es nicht, sahen es nicht; ahnten, argwöhnten es allerhöchstens. Verstehen würden sie es keinesfalls.

Neugierige bis verwunderte, bisweilen milde belustigte und häufiger nunmehr auch ärgerliche, jedenfalls kaum noch verstohlene Blicke streiften ihn, trafen ihn und blieben an ihm haften. Er bot ihnen Nahrung, lieferte ihnen den Stoff für ihr peinlichesu Mitvergnügen und taugte ideal als Objekt für sie, seine sogenannten Mitmenschen, hier und heute genauer Mitreisende. Man war bedürftig dieser Tage, denn viel Leid herrschte unter den Menschen; die Last der älteren und neueren Geschichte war kaum noch zu ertragen. Man war also dankbar für ein scheinbar so wehrloses Opfer, eine abnorme Ablenkung. Denn sie verzehrten sich schier nach Zerstreuung, nach simpler Ablehnung, danach, all das Falsche in ihnen und um sie herum zu kanalisieren, zu fokussieren und zuletzt zu projizieren, nach draußen, möglichst weit weg von sich. Heute wählten sie ihn als Objekt dafür aus; er bot sich an, hatte sich sogar ehrlicherweise förmlich aufgedrängt. Dabei war das, was er tat, weder verboten, noch lag es überhaupt in seiner Verantwortung, was hier mit ihm geschehen war, weiterhin geschehen würde.

Er litt unter einer Serie schwerer Systemfehler; aber auch das würden die wenigsten von ihnen überhaupt erkennen, geschweige denn anerkennen. Er wiederum sagte es ihnen nicht, fragte sie auch nicht nach Hilfe, beschwerte sich sogar bisher beim Personal nicht mal über seinen Zustand. Dabei unterlag die Sicherheit der Fluggäste logischerweise fremder Verantwortung und die Verantwortlichen wussten schließlich genauestens über seine Situation Bescheid; kannten die für seinen besonderen Fall geltenden Sicherheitsstandards. Sollte er also tatsächlich durch ein tumbes Unterlassen der Betreiber einen chronischen Schaden davontragen, außer derzeit weiterhin nicht eben angenehmer Reflexion ausgesetzt und diverser Symptomatik unterworfen zu sein, würde er charakterliche Milde und kultivierten Pazifismus fahren lassen. Er war nur ihretwegen so heftig gestört, total dysfunktional und nicht nur deshalb ziemlich gestresst. Sollten sie doch allesamt, die Mitarbeiter der Korporation ebenso wie die anonymen Mitmenschen, sich selbst wiedererkennen an ihm, gnadenlos in ihrer Widerwärtigkeit durch ihn gespiegelt. Er unterdes ließ sich nicht beirren, weder in seinen Prinzipien noch in seinen persönlichen Präferenzen und Paradoxien. Mit ihren törichten Meinungen über seinen Zustand zeigte sich der ihre umso eindrücklicher und damit untrüglicher. Ängste und Ambitionen brachen sich an ihm, bündelten sich um ihn herum und verliehen ihm hässliche Attribute: krank, gestört, gefährlich, bestenfalls noch dubios oder mysteriös. Er hingegen blieb sich auch praktisch treu: Ignorierte sie, größtenteils und wenn möglich technisch assistiert, indem er völlig in seine eigene Welt eintauchte oder wenigstens die allgemein verbindliche Außenwelt gründlich verzerrte, sie willkürlich manipulierte und somit bedarfsgerecht zurechtstutzte.

So gut es eben ging und so lange es gut ging, tat er das; aber dann gab es immer wieder diese kleinen und größeren Abstürze. Schwere Systemfehler solchen Ausmaßes hatte er seit Jahren nicht mehr ertragen müssen, nicht mal bei den regelmäßig heftigen Sonnenstürmen ging es ihm derart miserabel. Wie von gefräßigen Käfern, die sich gierig durch Silizium, Kunststoffe, Metalle und Fleisch fraßen, wurde er von Bugs überrannt, übermannt und von innen heraus lahmgelegt; seine neuronalen Netze litten effektiv seit kurz dem Start unter allerlei Interferenzen, insbesondere die vielen komplexen höheren Augmentate. Dabei drängte sich ihm, dem kühlen, sachlichen Denker, dieser ekelhaft lebendige Vergleich auf, obwohl er den letzten echten Käfer vor mehr als einem Jahrzehnt gesehen hatte. Er war kurz erstaunt über den Bilderreichtum und die Blumigkeit seines Denkens, verbuchte es dann aber als weiteren Effekt von Deaktivierung und Einsamkeit. Denken in Metaphern war ihm im Normalfall fremd. Mehr noch, er verachtete alle Tropen, sah in ihnen Verwirrungen und Spielereien des Denkens. Aber er riskierte es, dem aktuellen Drängen der rechten Hemisphäre nachzugeben; wollte dabei aus dem ungewollten Zustand wenigstens etwas über sich selbst lernen, sein rohes Ich erleben, bar jeder Assistenz und Modifikation wild denken und zugleich suboptimal existieren.

Jene Situation fußte auf einer Fehlerserie, welche den hyperrealen Weltenwanderer fesselte und band, ihn gnadenlos in die Konsensrealität zurückwarf; hineingepresst in das blasse Abbild, das von ihrem einst so leuchtenden Urbild noch übriggeblieben war: Ein goldenes Zeitalter war in tiefste Finsternis hinabgestürzt; so nostalgisch überzogen urteilte nicht nur er, so oder so ähnlich dachten die meisten seiner Zeitgenossen. Dass alles zu Bruch gegangen und total schief geraten war, war einer der wenigen unstrittigen Allgemeinplätze im Sonnensystem. Sonst hingegen war man sich in Wenigem derart einig; denn es herrschte Zwietracht und die vier Reiter marodierten, errichteten ihre Reiche in den Ländern der Sterblichen.

Dazwischen also, wenn er unweigerlich in diese Realität zurückfiel, abstürzte und hier bruchlandete, schützte er sich sensorisch so gut und so weit es ebengerade ging; denn immerhin, viele der makroskopischen Augmentate funktionierten noch leidlich zuverlässig. Aber das half alles nichts: Er brannte durch, weshalb sein sonstiges Verhalten immer wieder auffällig und tatsächlich abnorm gewesen war. Sein bisheriges Gebaren war bestenfalls noch affektiert zu nennen, schlechterdings wirkt es ungesund und widernatürlich, schlichtweg gestört. Er degenerierte körperlich, so viel war klar, und alle konnten sie seinem sukzessiven Verfall beiwohnen. Immer wieder aufs Neue, selten aufs Gleiche eskalierte sein Körper seit Beginn des Fluges. Er ekelte sie an, faszinierte sie damit zugleich, erregte Aufsehen und Abscheu gleichermaßen.

Es herrschte Chaos in ihm; Entropie zerfaserte, zerfranste, zerfräßte seinen Kosmos, sein Selbst deflagrierte: existenziell, physisch und psychisch, augmental wie hyperreal. Er litt, konnte nicht mehr, irrte mental wahllos umher. Stress, ein für ihn seltener Zustand, griff um sich. Dissoziative Anfänge stürzten hinab in assoziative Verwirrung und kulminierten dann irgendwann in den Fängen nostalgischer Melancholie. Gedankenschimären galoppierten, durchwaberten Schleiern gleich sein entfesseltes, unruhiges Bewusstsein und marterten in Summe mit handfesten Schmerzen seine kaputte Konstitution. Die Käfer wühlten sich unterdessen durch sein Abdomen, labten sich an den diversen Organen, folterten ihn in seiner eigenen Haut. Der Schmerz hämmerte als vielfarbiges Stroboskop. Er wanderte im Zwielicht. Unentwegt blitzten Erinnerungen und Erwartungen auf, abrupt, verbanden sich und drifteten davon, gemeinsam zwar, doch wahllos durcheinandergewürfelt. Sein sonst kontinuierlich und optimal unter Kontrolle gehaltener Leib nutzte den Ausnahmezustand ungehemmt aus. Das wilde Fleisch trumpfte auf, protzte mit sonst regulativ kompensierten Fehlern, erging sich in Marotten und Makeln. Es tat also schlicht, was es sonst nicht konnte, und überschüttete ihn schon seit einer subjektiven Ewigkeit – die sich objektiv auf exakt 95 Minuten, genau 17 Sekunden und gerundete 357 Millisekunden belief – mit einer exquisiten Auswahl an mitunter quälenden Symptomen. Physisch überwogen dabei bisher Juckreiz, Übelkeit, Kopf- und Gliedschmerzen, aber mit nahendem Niesen und beginnendem Augentränen kündigten sich gerade zwei Neuerungen in der gleichfalls unerwünschten wie unangenehmen Reihe an Leiden an. Früher hatte man dieses an sich unspezifische Syndrom als Technose beschrieben; damit meinte man einen instabilen Zustand, der sich bei Neumenschen aus unterschiedlichsten Gründen einstellte. Insbesondere nach dem Versagen eminenter Kernkomponenten trat gewiss Technose auf. Die Körper der durch und durch technisierten Menschen kannten kein autarkes Gleichgewicht, hatten in vielerlei Hinsicht verlernt, selbstständig zu funktionieren, zu leben, waren damit unfähig zur Homöostase geworden und kollabierten deshalb verschiedentlich. Dennoch waren Neumenschen langfristig robuster, langlebiger und leistungsfähiger, sodass der lebenslange Anreiz hoch genug gewesen war, die mitunter und nur mit Pech lebensbedrohlichen Risiken einzugehen. Nun erlebte er diese Kalamitäten am eigenen Leib, zahlte stellvertretend den Preis für den technologisch erzwungenen Evolutionssprung der Menschheit.

Vermutlich würde er also gleich wieder zum Blickfang aller werden. Ganz so, als ob er ein grotesker Clown in einem Zirkus der Absonderlichkeit wäre, der hier, in der nüchternen Sachlichkeit der Kabine, für den gemeinen Pöbel seine bizarren Kunststücke aufführte. Eine Posse für den Pöbel, dargeboten von einem Narren, der sich seit langem schon zum Magier gewandelt wähnte. Er hatte ein Faible für alte Esoteriken und spielte deshalb gerne mit solchen kuriosen Weltbildern; pflegte so den Umgang mit vormodernen Gedankengebäuden, jonglierte und kokettierte dabei munter mit ihren Begriffen und persiflierte rundheraus ihre kruden Ideologien – Tarot und die große Arkana beispielsweise.

Nunmehr reagierte er, deaktivierte per Mentalbefehl die künstliche Paralyse seiner Muskulatur, sonst würde er sich beim nächsten Technose-Schub womöglich unnötige Zerrungen, Hämatome oder dergleichen Ärgernisse zuziehen. Denn, was jetzt genau kommen würde, wusste er nicht und auf die üblichen Notfallmechanismen zur Schadensprävention wollte er sich hier und heute definitiv nicht mehr verlassen.

Schon passierte es; er stöhnte sofort laut auf; nieste daraufhin heftig, herzhaft, mehrfach: „Argh … Haaattschuu! … Haatschiiii! …“, so und ähnlich ging es die nächsten Minuten weiter. Glieder zuckten wild und Körpersäfte flossen ungehemmt, wurden daraufhin umständlich, dennoch effektiv beseitigt. Die ganze Zeit über ließ er seine Lider vor den salzdurchtränkten Augäpfeln, all den ungezügelten Tränen zum Trotz, weiterhin tunlichst geschlossen – diese anonymen Blicke! Sie sollten ihn eigentlich nicht interessieren, plagten ihn jetzt aber trotzdem zunehmend.

Die vielen Ionen in der unregulierten, natürlichen Tränenflüssigkeit schadeten einigen Augmentaten in den beiden Auge; aber was sollte er denn anderes tun als warten, hoffen und weiterhin befehlen. Entsprechend begannen die Augen nun auch spürbar zu schmerzen. Soweit es machbar war, leitete er den Überschuss an Tränenflüssigkeit über einen flexiblen Beipass in seinen Magen um, tat vom Nötigen damit aber nur das soeben und eingeschränkt Mögliche. Eigentlich müsste er jetzt eine gründliche Spülung der Augen vornehmen, ein neues Fluid herstellen und dieses letztlich applizieren, aber er war in seiner Körperkontrolle massiv eingeschränkt. Warum so kompliziert, rief er sich pragmatisch zur Räson und tat, was die Normalmenschen in solchen Fällen auch taten: Im Gegensatz zu ihnen weiterhin vom Außen isoliert, taub und blind, jedoch nicht mehr lahm, wischte er sich kurzerhand die überschüssigen Tränen einfach mit dem Ärmel seiner Adora weg, wobei das multifunktionale Nanitengewebe die Flüssigkeit zum Gros resorbierte und nahezu 100% der Materie für Xaver wiederverwertete.

Inzwischen hatte sein rebellischer Körper begonnen, hemmungslos zu jucken; dementsprechend kratzte er ihn unerbittlich. Versuchte es zunächst, dabei plump scheiternd, durch den mehr als solid zu nennenden Werkstoff der mehr als nur funktionalen Kleidung hindurch. Direkt aus der Starre heraus und gleich mal richtig tief rein in den Slapstick, dachte er nebenbei in einer Mixtur aus Selbstironie und ungewohnter Scham. Sollte er sich nun schlicht wieder sedieren und damit vor der Situation kapitulieren? Nein, er würde sich wehren! Also akzeptierte er den Zustand, dachte kurz nach und fuhr sodann mit der Hand durch die Ärmel unter die beigen Nanofasern seiner Kleidung, einer Tracht, die einer Mönchskutte gleich locker um seinen Körper fiel. Das intelligente Material weitete sich, sobald er in es hineingriff – es funktionierte also immerhin etwas. Der Juckreiz sprang unterdessen, als wollte er ihn verhöhnen, also disponierte er um. Er jagte ihn und kratzte, zaghaft und zerstreut zuerst, fixierte sich dann aber auf seinen Nacken. Seine Körperwahrnehmung transformierte schlagartig, Juckreiz unterlag heftiger Verspannung, krampfartig ansteigend. Dorthin, wo ihr Epizentrum lag, konnte er glücklicherweise gut mit seiner linken Hand gelangen; die Rechte hingegen war zwischenzeitlich taub geworden und deshalb derzeit nur mäßig hilfreich. Dergestalt gehandikapt massierte er sich noch eine Weile mit der Linken weiter – emsig, aber erfolglos; malträtierte dann zunehmend eine Stelle, weiter oben direkt am Haaransatz und rieb vehement dort, wo Juckreiz wieder die Oberhand zu gewinnen schien. Sollte er doch seine Nervenenden ausschalten, es zumindest optimistisch nochmals versuchen, das Problem augmental in den Griff zu bekommen? Es gab immerhin praktisch unendlich viele Optionen und Modifikationen, die er ausprobieren konnte, dazu bedurfte er nicht zwingend der Assistenz durch seine sieben Module oder gar des Zugangs zur Hyperrealität.

TSF Ein TFF-Mutant: #EB1.1 @ Unendliche Utopieforschung

Kaum entstanden, bis eben sogar noch singulär, und jetzt bereits im Wandel; das neue Format Text-Slow-Food ist quirlig. Aber nur so kann dieses Format seinen Inhalten, seinem neuen Inhalt gerecht werden. Denn ein Werk wie Ernst Blochs in drei Bänden erschienenes opus magnum Das Prinzip Hoffnung in einen einzigen Artikel packen zu wollen – sei er so slow, wie das nur denk- bzw. dehnbar ist -, wäre nur eines: schierer Unsinn! Alleine die Lektüre dieser schweren Kost wird Jahre dauern, immer wieder zu Verdauungsproblemen führen und bietet sich deshalb bestens für eine sporadisch fortzusetzende Serie an Text-Slow-Food-Artikeln an, die dann irgendwie verdächtig regressiv als Text-Fast-Food daherkommen. Die Schwere des Gegenstands sowie dessen logischer bis thematischer Zusammenhang und nicht zuletzt die prinzipielle (Text-Format-)evolutionäre Varianz und meine dementsprechende Toleranz sagen dennoch schlussendlich ganz klar: Das ist Text-Slow-Food! Nur eben eine kleine Variation des Ur-Typus (mit einer kleinen Neuerung):

0. Titel: #Autoren-KürzelBeitragsnummer(.Seriennummer) @ Beitragstitel

1. Ein markantes Beitrags-Bild zum Text (Umschlagbild, Faksimile, etc.) macht den Anfang und läd optisch in den Artikel ein.

2. Sodann macht ein Happen Text-Fast-Food Appetit auf mehr und sorgt so für einen sanften Lese-Einstieg in das Werk des jeweiligen Autoren.

3. In einer (Kurz-)Besprechung  des vorgestellten Textes entwerfe ich (m)einen Zugang zum Text gewohnt essayistisch-verquer, mit dem Ziel einer Art Mini-Rezension.

4. Der Metadaten-Mix, also eine übersichtlich Zusammenstellung objektiver Informationen (auf Basis der Kataloge von Deutscher Nationalbibliothek und WorldCat) und subjektiver Wertungen, liefert kompakte Daten für Bibliografie- und Zahlenjunkies.

5. In einem Essenzsatz versuche ich mich an der semantisch-stilistisch beinahe unmöglichen Aufgabe, das ganze Werk angemessen in einem einzigen Satzgefüge auszudrücken – wohl an denn!

6. Die fortlaufenden Zitate aus dem Primärtext und ihre Zusammenstellung liefern überhaupt erst den Anlass für das alles hier und bilden somit den Kern des Ganzen. (Bei größeren Werken kann dieser Punkt auch auf eine Artikelserie ausgedehnt und dadurch ausgelagert werden.)

7. Kursorische Kontexte geben dem Werk des Autoren einen breiteren Rahmen und stillen damit den ersten, eklektischen Lesehunger des idealen Lesers, der am Ende des ausgedehnten Text-Slow-Foods noch Lust auf zukünftige Lektüre hat.

Zudem erfolgt am Ende dieser wahrscheinlich letztlich mehrjährigen Serie konsequent noch die vollständige Umsetzung des (erweiterten) Ideals für die Zubereitung von Text-Slow-Food. Damit ändert sich bei und mit diesem zweiten Exemplar der neuen Gattung lediglich der Schritt Nr. 6, also der formatprägende Zitatkorpus, indem dieser Punkt zeitlich ausgedehnt und somit in ein Vielfaches an Artikeln eingeschrieben in eine TSF-Serie ausgelagert wird: #EB1.x @ Unendliche Utopieforschung (wobei ich für „x“ keinen Definitionsbereich anzugeben wage).

Lassen wir also in angeblich so düsteren Zeiten das warme Licht der Hoffnung in unser Bewusstsein hineinstrahlen, denn mit nichts weniger hat sich Ernst Bloch in seinem Prinzip Hoffnung beschäftigt. Er wollte in Erfahrung bringen, spekulieren, analysieren, räsonieren und also philosophisch verstehen, was Werden und Willen verbindet, Subjekt und Objekt vermittelt, Mensch und Welt vereint. Sein Werk kreist folglich in weiten Spiralbahnen um große Fragen: Was gibt unserem Leben Sinn und Richtung? Was treibt die Menschen der verschiedenen Epochen und Kulturen an? Welchen kleinen und großen Utopien und Dystopien hängen wir nach, seien sie sozial, politisch, ästhetisch, technisch, sexuell und skaliert von epochal bis trivial? Wie und warum erhofft sich der homo utopicus all das für seine Zukunft? Was kümmert all das die Welt? Welche Ontologie steckt hinter den Hirngespinsten? Und warum haben Gott und Marx, Nietzsche und Aristoteles beim Zentralbegriff Heimat allesamt zusammen mit vielen anderen ihre schmutzigen kleinen Finger mit im Gedanken-Spiel?

Alles in allem, im Großen und Ganzen seelisch naheliegende, höchst spannende und vor allem zutiefst historische bis politische Fragen, die jede Zeit, jedes Zeitalter neu und anders stellen, neu und anders beantworten kann und sollte. Aber warum sollten gerade wir, die kurzweilige, -firstige, -konzentrierte und kürzende Internet-Generation, warum sollte die bequemste Generation der Menschheitsgeschichte das Rad neu erfinden? Warum überhaupt drehen, am blutigen Rad der Geschichte, am staubigen Rad der Zeit?

Während dieser definitiv nicht rhetorisch misszuverstehenden Fragenkomplex idealerweise wenigstens kurz zum Nachdenken provoziert, lausche ich schon Mal bedächtig den ersten Klängen einer ewigen Sinfonie, einer Musik der Hoffnung und des Hoffens, wie sie aus den Archiven der Geistes- und Ideengeschichte herauftönt. Lauschen wir doch gemeinsam dem Orchester und einem seiner mutigeren Dirigenten. Fangen wir an ihm zuzuhören, ihn zu lesen, vielleicht erfahren wir sogar, was sich bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts im kollektiven Bewusstsein unserer Zivilistation an Anworten auf den utopischen Fragenkomplex niedergeschlagen hatte. Lassen wir uns inspirieren von der unendlichen Geschichte der Utopieforschung, der Ernst Bloch viele, viele Meta-Kapitel hinzugefügt hat – eventuell ja sogar zu neuen Beiträgen, ob sie nun meta-, para– oder ortho-utopisch sein mögen.

Mit einer tiefen Verbeugung vor einem ehrenwerten Lebenswerk, Euer Satorius


Das Prinzip Hoffnung (Erster, Zweiter und Dritter Band): #EB1.1 @ Unendliche Utopieforschung


Geschehen wird Geschichte, Erkenntnis Wiedererinnerung, Festlichkeit das Begehen eines Gewesenen. So hielten es alle bisherigen Philosophen, mit ihrer als fertig-seiend gesetzten Form, Idee oder Substanz, auch beim postulierenden Kant, selbst beim dialektischen Hegel. Das physische wie metaphysische Bedürfnis hat sich dadurch den Appetit verdorben, besonders wurden ihm die Wege nach der ausstehenden, gewiss nicht nur buchmäßigen Sättigung verlegt. Die Hoffnung mit ihrem positiven Korrelat, der noch unabgeschlossenen Daseinsbestimmtheit, über jeder res finita, kommt derart in der Geschichte der Wissenschaften nicht vor, weder als psychisches noch als kosmisches Wesen und am wenigsten als Funktionär des nie Gewesenen, des möglich Neuen. Darum: besonders ausgedehnt ist in diesem Buch der Versuch gemacht, an die Hoffnung, als eine Weltstelle, die bewohnt ist wie das beste Kulturland und unerforscht wie die Antarktis, Philosophie zu bringen.

S. 4f.

 

Das utopische Bewusstsein will weit hinaus sehen, aber letzthin doch nur dazu, um das ganz nahe Dunkel des gelebten Augenblicks zu durchdringen, worin alles Seiende so treibt wie es sich verborgen ist. Mit anderen Worten: man braucht das stärkste Fernrohr, das des geschliffenen utopischen Bewusstseins, um gerade die nächste Nähe zu durchdringen. Als die unmittelbarste Unmittelbarkeit, in der der Kern des Sich-Befindens und Da-Seins noch liegt, in der zugleich der ganze Knoten des Weltgeheimnisses steckt.

S. 11

 

Ernst Bloch (1895 – 1977), Das Prinzip Hoffnung – Erster Band: Vorwort (1938 – 1947)

Das erste Text-SLOW-Food: #EK1 @ Zynischer Moralismus

Ein neues Format erhebt sich aus dem semantischen Chaos. In der brodelnden Ursuppe von Quanzland entstehen und vergehen Bedeutungen, ganze Formate und Themen bisweilen, wie es Lyrik-Alarm, Rätsel-Runde, Lichtrausch und Originale vorgemacht haben und es nunmehr ein neues Geschwisterchen nachzumachen trachtet. Sein Name spricht Bände, ist so unnatürlich klar, dass er kaum Fragen offenlässt: Text-SLOW-Food.

Nicht mehr um kleine Zitate und Aphorismen, auch nicht um die üblich gewordenen Kaskaden kurzer und mittlerer Texteauszüge, formatbedingt sogar gelegentlich ganzer Gedichte, geht es hierbei, sondern um einen gut durchgekochten Auszug langer und längerer Passagen eines umfangreicheren Werks. Was für die Attribute umfangreich und Werk qualifiziert? Meine Vorlieben, Launen und das erhoffte Quäntchen Objektivität zwischen, in, unter, hinter und neben all der wunderbaren Subjektivität und Kontingenz. In dem Auszug, die am Ende der komplexen, aber höchst unterhaltsamen Zubereitung von Text-Slow-Food herauskommen wird, sind die meisten Zutaten für sich zwar noch auszumachen, der Geschmack des Gerichtes an sich, das Ganze des Textes also, steht aber klar im Vordergrund der Darstellung.

Immerhin chronologisch geordnet führen Zitate starker Passagen erratisch durch und dabei tief hinein in den Textkorpus, mit aller unvermeidlichen Spoiler-Gefahr, die dort in den blutigen Eingeweiden des Werks in jedem harmlosen Wörtchen lauert, aber natürlich weitmöglich verhütet werden soll. Meistens wird sich dieses neue Format mit Exemplaren meines liebsten epischen Formates der Neuzeit befassen, dem schon häufig der bladige Tod nachgesagt wurde und dem weiterhin munter Siechtum attestiert wird: der Roman. In selten Fällen werde ich auch (längere) Kurzgeschichten, Essays und dergleichen mehr verwursten; vielleicht erweise ich sogar beizeiten sogenannten Sachtexte die zweifelhafte Ehre, quanzländisch verarbeitet zu werden.

Text-SLOW-Food wird als eine Variante des Formats zwar strukturell dem Text-Fast-Food zugeordnet, unterscheidet sich in aber neben Länge und Dauer der Zubereitung in einem weiteren Detail von seinem entschieden weniger aufwendigen Vor- und Mitläufer, dem großen kleinen Bruder TFF: Ähnlich wie für die Beiträge aus den Bereichen Lichtrausch (Galerien des Lichtsrausches) und Kulinarik (Archiv der Kulinarik) werde ich die Metatext-Redaktion darauf verpflichten, sobald wie möglich und so früh wie nötig eine Form der übersichtlichen Archivierung aufzusetzen und zügig zu lancieren. Struktur und Fülle der Beiträge bedingen einander und machen zusammen den Hauptunterschied zwischen Text-Fast- und Text-Slow-Food aus. Dabei übernehme ich für die Formatierung der Titel das bewährte Muster der Lichtrausch-Beiträge und füge darunter in einer gleichbleibenden Gliederung die verschiedenen Facetten der Werkbetrachtung zusammen:

 

0. Titel: #Autoren-KürzelBeitragsnummer @ Beitragstitel

1. Ein markantes Beitrags-Bild zum Text (Umschlagbild, Faksimile, etc.) macht den Anfang und läd optisch in den Artikel ein.

2. Sodann macht ein Happen Text-Fast-Food Appetit auf mehr und sorgt so für einen sanften Lese-Einstieg in das Werk des jeweiligen Autoren.

3. In einer (Kurz-)Besprechung  des vorgestellten Textes entwerfe ich (m)einen Zugang zum Text gewohnt essayistisch-verquer, mit dem Ziel einer Art Mini-Rezension.

4. Der Metadaten-Mix, also eine übersichtlich Zusammenstellung objektiver Informationen (auf Basis der Kataloge von Deutscher Nationalbibliothek und WorldCat) und subjektiver Wertungen, liefert kompakte Daten für Bibliografie- und Zahlenjunkies.

5. In einem Essenzsatz versuche ich mich an der semantisch-stilistisch beinahe unmöglichen Aufgabe, das ganze Werk angemessen in einem einzigen Satzgefüge auszudrücken – wohl an denn!

6. Die fortlaufenden Zitate aus dem Primärtext und ihre Zusammenstellung liefern überhaupt erst den Anlass für das alles hier und bilden somit den Kern des Ganzen.

7. Kursorische Kontexte geben dem Werk des Autoren einen breiteren Rahmen und stillen damit den ersten, eklektischen Lesehunger des idealen Lesers, der am Ende des ausgedehnten Text-Slow-Foods noch Lust auf zukünftige Lektüre hat.

(8. Eine Verlinkung oder Downloadoption der eigentlichen Primär-Quelle rundet bei gemeinfreien, freien oder online verfügbaren Werken das Format ab.)

 

Durch die angekündigte Archivseite soll den Vorstellungen lesenswerter Bücher auch das gleiche Schicksal erspart werden, das die Massen an Text-Fast-Food vor und nach ihnen letztlich ereilte, dass sie nämlich in der chronologischen Tiefe und semantischen Flut von Quanzland untergehen und zügig unsichtbar werden. Wo hier wohl die Grenze zwischen Slow und Fast verläuft und ob es denn auch ältere TFF’s gibt, die nun eher als TSF zu bezeichnen wären? Ich weiß es noch nicht im Detail, werde es aber sicher bald durch eifrige Tests zunächst am toten, dann am lebenden Text-Objekt herausfinden.

Bevor jedoch weitere Vertreter dieser neuen Gattung schlüpfen oder ältere Exemplare naträglich mutieren, also redaktionell auf die neue Linie gebracht werden, möchte ich Euch nun, nach erläuternder Vorrede, endlich das erste Text-Slow-Food präsentieren, den Prototyp des neuen Formats.

Viel Spaß und möge die Leselust mit Euch sein, Euer Satorius


Fabian. Die Geschichte eines Moralisten: #EK1 @ Zynischer Moralismus

Umschlag dtv


»Es gibt nichts Gutes
außer: Man tut es.«

 

Erich Kästner (1899 – 1974), Doktor Erich Kästners lyrische Hausapotheke (1936)

 

»Wem ist zu helfen?« fragte Fabian. »Du willst Macht haben. Du willst, träumst du, das Kleinbürgertum sammeln und führen. Du willst das Kapital kontrollieren und das Proletariat einbürgern. Und dann willst du helfen, einen Kulturstaat aufzubauen, der dem Paradies verteufelt ähnlich sieht. Und ich sage dir: Noch in deinem Paradies werden sie sich die Fresse vollhauen! Davon abgesehen, daß es nie zustande kommen wird … Ich weiß ein Ziel, aber es ist leider keines. Ich möchte helfen, die Menschen anständig und vernünftig zu machen. Vorläufig bin ich damit beschäftigt, sie auf ihre diesbezügliche Eignung hin anzuschauen.«

 

Erich Kästner (1899 – 1974), Fabian. Die Geschichte eines Moralisten, S. 54 (1931)


„Beim Eignungstest durchgefallen – so nicht, werte Erwachsene!, dann versuche ich es zukünftig halt mit subversiv Seichterem, schreibe lieber Gedichte, und Geschichten für Eure Kindern und sogar Drehbüchern zu eurer profanen Unterhaltung“ – dergleichen könnte sich unser ehrenwerter Autor vielleicht irgendwann in seinem Leben einmal gedacht haben. (Die historisch plausiblere Erklärung, dass jemand, der satirisch so vom Leder gezogen hatte und dann trotz der Verbrennung seiner Bücher das Wagnis eingegangen war, im natinoalsozialistischen Deutschland auszuharren, wohl kaum noch frei, vor allem politisch Schreiben konnte, lasse ich ihrer Nüchternheit wegen beiseite.)

Der sonst für recht kluge und brave Kinderbücher wie Emil und die Detektive, Pünktchen und Anton oder Das fliegende Klassenzimmer bekannte und dadurch weltberühmt gewordene Erich Kästner konnte nämlich auch anders: Satirisch frech, offenherzig bis derb, sogar obszön, dabei historisch wie politisch brisant, unterlegt mit existenziellen Tönen, dennoch immer leicht und einfühlsam, angenehm und anschmiegsam, trotzdem kritisch und ambivalent. Da die großen Themen des Romans – Leben, Sinn, (Gast-)Freundschaft, Familie, Arbeit und Liebe, Sex und Entfremdung, Einsamkeit, Feindschaft, Resignation, Tod – allesamt zeitlos und allgemein sind, lassen sie sich zwar beliebig aktualisieren, dennoch sind sie derzeit mal wieder hochaktuell im Angesicht von lokalen und globalen Entwicklungen wie Brexit und sogenannter Flüchtlingskrise, Kaltem Krieg 2.0 und sogenanntem Terrorismus. Insbesondere die Frage der persönlichen Verantwortung im Weltgeschehen wie im Alltag, der Geltungsbereich, die Ausdrucksformen, aber auch die Widerstände und Feind des je eigenen Ethos – Stichwort: Politikverdrossenheit und Medienmacht – spielen gerade mal wieder eine große Rolle im Welttheater.

Fabian mag nicht wie ein Vorbild wirken, ist aber keinesfallsein reiner Zyniker und Hedonist, sondern ein sensibler Mensch mit einer paradoxen Art der Selbstsorge nach dem Credo: Kontrollierte Selbst-Zerstörung und Welt-Provokation an der Grenze der Konventionen, statt risikobehaftetem Idealismus, enttäuschbarem Optimismus oder lebensgefährlichem Aktionsmus. Er tut, was er eben kann, setzt persönliche Zeichen der Menschlichkeit, arbeitet in Teilen den Tugendkatalog ab, ohne jedoch seiner vielschichten Zeitkritik radikale Formen de Widerstands folgen zu lassen, ohne mitzumachen, aber auch ohne dagegen- oder dafürzumachen. Er ist kein Mitläufer auf dem Weg in den Abgrund des 2. Weltkriegs, wie die meisten seiner moralisch weit härter verkommenen Mitmenschen, wäre wohl aber kaum Frontkämpfer des Widerstands geworden – wobei, wer weiß das schon zu sagen!

Im tagespolitischen Trauerspiel von Rechtspopulismus, Medienmisere und Politikdefiziten (Geltungsbereich, Akzeptanz, Lobbyismus, …) war es eine glänzende Idee des Atrium Verlags den Roman 2013 in seiner ungekürzten Urfassung und unter seinem eigentlich gewollten Titel Der Gang vor die Hunde neu herauszugeben. Dass dieser Urtext noch um einiges bissiger und kritischer ausfällt, als die seinerzeit vom Deutschen Verlags-Anstalt zensiert publizierte Version, wundert wenig. Wie die Urfassung da wohl ausgesehen haben mag?

 

Erich Kästners „Fabian“ gilt als politischster deutscher Roman vor 1945.

[…]

„Also zum einen ist es natürlich sehr viel expliziter, was jetzt Obszönitäten angeht sozusagen, was die Darstellung des sexuellen Bereichs angeht, die politische Kritik, die es auch gibt in einem gestrichenen Kapitel, ist ziemlich spannend, weil das jetzt keine parteipolitische Kritik ist, also die Richtung, der Kästner angehört oder vage angehört, konnte man dem nicht unbedingt entnehmen, sondern es ist einfach ‘ne unglaublich übermütige politische Kritik, die auch Spaß macht zu lesen.“ (Sven Hanuschek, Herausgeber der Neuaussgabe, die auf Basis eines originallen Typoskripts vor den Eingriffen rekonstruiert wurde)

[…]

Der Vergleich zwischen der Ausgabe von 1931 und der Urfassung zeigt: Die vom Verlag geforderten Kürzungen und Änderungen haben die satirischen Intentionen von Kästners Roman eher verunklart. Mehr als 80 Jahre nach der Erstausgabe ist das Werk nun von seinen Entstellungen und Entschärfungen befreit.

Oliver Pohlmann, Kästners „Fabian“ unzensiert, Deutschlandfunk [URL zuletzt besucht am 30.06.2016]

 

Von zwei Ausnahmen (Anahng 1 & 2) abgesehen, werde ich zunächst aber auf Basis der „entschärften“ 19. Auflage der Erstausgabe von 1931 schreiben und freue mich schon jetzt auf eine zukünftige Relektüre der noch radikaleren Urfassung. Die beiden Zitate aus dem Anhang machen Lust auf mehr allzuechte, allzumenschliche Schilderungen aus scharfer Feder. Ich bin überdies gespannt zu erleben, wie weit und wie tief vorstaatliche Zensur kurz vor der Machtergreifung in Deutschland gegangen ist, um den Text den Erwartungen anzupassen, gespannt darauf, wie heftig und wie listig Macht und Markt der Kunst zusetzen konnten, um sie nach ihren kruden Kriterien und gemäß ihrer minderen Motive zu verbiegen und dadurch zu verstümmeln.

Vitale Demokratie braucht solche Schriftsteller und ihre Leser, braucht Kulturbetrieb, Unterhaltungsindustrie und subversive Subkulturen gleichermaßen. Öffentlichkeit entsteht durch Zeugnis, durch Bericht und Erzählung, Diskussion und Kritik. In dieser Stoßrichtung hat Erich Kästner mit seinem Fabian einen ehrenwerten und höchst unterhaltsamen Versuch unternommen, Öffentlihckeit zu erzeugen, indem er die Zustände in Berlin und die Stimmung im Deutschland der kriselnden Weimarer Republik neusachlich eingefangen hat. Die angesprochene Zensur adelte dabei den leider selten als Satiriker arbeitenden Kästner und sicherte ihm im Gegenzug mitunter eventuell sogar das Überleben. So war ich nicht wie viele andere Autorenkollegen der Zeit ins internationale Exil geflohen, obwohl Fabians Erstfassung schon ziemlich hart in Richtung der braunen Gefahr persifliert hatte. Die offene wie verdeckt Ablehnung von politischem Aktionismus und fanatischem Militarismus, von Gewalt und Zwang spricht aus dem Verhalten Fabians, lässt ihn als teilweise sarkastischen und notwendig zynischen Beobachter des Geschehens sinn- wie hoffnungslos resignieren. Viel wichtiger ist aber, dass Fabian Pazifist und Humanist, mit einem Maß an fokussierter Zivilcourage und Humor, die einem Weisen würdig wären. Sein Freund Labude mag mit noblen Idealen und großen Ambitionen gesegnet für die Rolle des Helden vorsprechen und scheint Fabian zum Antihelden unter den Hauptfiguren zu degradieren, aber Fabian ist existenziell und lebensweltlich erfolgreicher im unvermeidlichen Scheitern am System der Welt. Er findet aber seinen eigenen Weg des Umgangs mit den persönlichen wie zivilisatorischen Katastrophen. Trotz allem und bis zuletzt bleibt er lebendig, ambivalent wie das Leben, Zyniker einerseits und Moralist andererseits, gehemmt und getrieben, auf der Suche nach seinem Platz in einer Epoche der Unsicherheit, der Depression und Isolation, einer untergehenden Welt.

Man verzeihe mir das sonst hoffentlich eher seltene Pathos – Satorius out!


Metadaten-Mix

Objektive Information (Links zu den Katalogseiten: DNB & WorldCat)

  • Autor (Lebensdaten): Erich Kästner (1899 – 1974)
  • Titel. Untertitel: Fabian. Die Geschichte eines Moralisten
  • Seiten: ca. 246
  • Zitierte Ausgabe: 19. Auflage, 2003, Deutscher Taschenbuch Verlag (dtv), ISBN 3423110066
  • Verlag der Erstausgabe: Deutsche Verlags-Anstalt (DVA), Stuttgart/München
  • Erstausgabe: 1931
  • Höchste Auflage: 31., 2015, Deutscher Taschenbuch Verlag (dtv)
  • Übersetzte Sprachen: 11
  • Verfilmung: 1 (1979)
  • Genre: Satirischer (Großstadt-)Roman
  • Epoche: (Späte) Neue Sachlichkeit.

Subjektive Wertung (0=“Schwach/leicht/einfach/wenig“ bis 10=“Stark/schwer/komplex/viel“)

  • Narration/Plot: 7
  • Relevanz/Aktualität: 9
  • Anspruch: 5
  • Sprachqualität: 7
  • Humor: 9
  • Spannung: 4
  • Sympathie: 8
  • Gesamtwertung: 7 von 10

Essenzsatz

Im Berlin der untergehenden Weimarer Republik und des gleichzeitig aufkeimenden Dritten Reichs (ver-)zweifelt der als Germanist ausgebildete und als Werbetexter respektive Propagandist tätige Dr. Jakob Fabian an seinem eigenen mit Hedonismus und Sarkasmus nur mässig kompensierten, von Phlegma und Melancholie genährten Weltschmerz, seinen von egoistisch über lasterhaft bis aggressiv verkommenen Mitmenschen und den präapokalyptischen Zuständen des von ökonomischen und poltischen Krisen gebeutelten Deutschlands, um im Laufe des episodisch-schnellen Romans nach einem gescheiterten Beziehungsversuch inklusive weiterer heftiger Schicksalschläge aus dem Sündenpfuhl Berlin in die Heimat Dresden zu fliehen, wo er nach einer seiner vielen alltäglichen Gefälligkeiten in seiner paradoxen Rolle des zynischen Moralisten im Strudel einer zerütteten Zeit unterzugehen droht.


»Fabian, Jakob, 32 Jahre alt, Beruf wechselnd, zur Zeit Reklamefachmann, Schaperstraße 17, herzkrank, Haarfarbe braun. Was müssen Sie noch wissen?«

»Haben Sie hinsichtlich der Damen bestimmte Wünsche?«

»Ich möchte mich nicht festlegen. Mein Geschmack neigt zu Blond, meine Erfahrung spricht dagegen. Meine Vorliebe gehört großen Frauen. Aber das Bedürfnis ist nicht gegenseitig. Lassen Sie die Rubrik frei.«

Irgendwo wurde Grammophon gespielt. Die üppige Dame erhob sich und erklärte ernst: »Ich darf Sie, bevor wir hineingehen, mit den wichtigsten Statuten bekannt machen. Annäherungen der Mitglieder untereinander werden nicht übelgenommen, sondern erwartet. Die Damen genießen dieselben Rechte wie die Herren. Von der Existenz, der Adresse und den Gepflogenheiten des Instituts ist nur vertrauenswürdigen Herrschaften Mitteilung zu machen. Den idealen Absichten des Unternehmens ungeachtet sind die Konsumkosten sofort zu begleichen. Innerhalb der Klubräume hat keines der Paare drauf Anspruch, respektiert zu werden. Paare, die ungestört zu bleiben wünschen, werden gebeten, den Klub zu verlassen. Das Etablissement dient der Anbahnung von Beziehungen, nicht den Beziehungen selber. Mitglieder, die einander vorübergehend zu gegenseitigem Befund Gelegenheit gaben, werden ersucht, das wieder zu vergessen, da nur auf diese Weise Komplikationen vermeidbar sind. Haben Sie mich verstanden, Herr Fabian?«

»Vollkommen.«

»Dann bitte ich Sie, mir zu folgen.«

S. 14f.

 

[…]

 

»Aber in Kalkutta haben doch gar keine Unruhen stattgefunden«, entgegnete Irrgang widerstrebend. Dann senkte er den Kopf und meinte fassungslos: »Vierzehn Tote.«

»Die Unruhen haben nicht stattgefunden?« fragte Münzer entrüstet. »Wollen Sie mir das erst mal beweisen? In Kalkutta finden immer Unruhen statt. Sollen wir vielleicht mitteilen, im Stillen Ozean sei die Seeschlange wieder aufgetaucht? Merken Sie sich folgendes: Meldungen, deren Unwahrheit nicht oder erst nach Wochen festgestellt werden kann, sind wahr. Und nun entfernen Sie sich blitzartig, sonst lasse ich Sie matern und der Stadtausgabe beilegen.«

Der junge Mann ging.

»Und so etwas will Journalist werden«, stöhnte Münzer und strich aufseufzend und mit einem Blaustift in der Rede des Reichskanzlers herum. »Privatgelehrter für Tagesneuigkeiten, das wäre was für den Jüngling. Gibt’s aber leider nicht.«

»Sie bringen ohne weiteres vierzehn Inder um und zweiundzwanzig andere ins Städtische Krankenhaus von Kalkutta?« fragte Fabian.

Münzer bearbeitete den Reichskanzler. »Was soll man machen?« sagte er. »Im übrigen, wozu das Mitleid mit den Leuten? Sie leben ja noch, alle sechsunddreißig, und sind kerngesund. Glauben Sie mir, mein Lieber, was wir hinzudichten, ist nicht so schlimm wie das, was wir weglassen.« Und dabei strich er wieder eine halbe Seite aus dem Text der Kanzlerrede heraus. »Man beeinflußt die öffentliche Meinung mit Meldungen wirksamer als durch Artikel, aber am wirksamsten dadurch, daß man weder das eine noch das andere bringt. Die bequemste öffentliche Meinung ist noch immer die öffentliche Meinungslosigkeit.«

»Dann stellen Sie doch das Erscheinen des Blattes ein«, meinte Fabian.

»Und wovon sollen wir leben?« fragte Münzer. »Außerdem, was sollten wir stattdessen tun?«     Dann kam der livrierte Bote und brachte den Wein und die Gläser. Münzer schenkte ein und hob sein Glas. »Die vierzehn toten Inder sollen leben!« rief er und trank. Dann fiel er wieder über den Kanzler her. »Einen Stuß redet unser hehres Staatsoberhaupt wieder einmal zusammen!« erklärte er. »Das ist geradezu ein Schulaufsatz über das Thema: Das Wasser, in dem Deutschlands Zukunft liegt, ohne unterzugehen. In Untersekunda kriegte er dafür die Drei.« Er drehte sich zu Fabian herum und fragte: »Und wie überschreibt man den Scherzartikel?«

»Ich möchte lieber wissen, was Sie drunter schreiben«, sagte Fabian ärgerlich.

Der Andere trank wieder, bewegte langsam den Wein im Mund, schluckte hinter und antwortete: »Keine Silbe. Nicht ein Wort. Wir haben Anweisung, der Regierung nicht in den Rücken zu fallen. Wenn wir dagegen schreiben, schaden wir uns, wenn wir schweigen, nützen wir der Regierung.«

»Schreiben Sie dafür!«    

»O nein«, rief Münzer. »Wir sind anständige Leute. Tag Malmy.«

Im Türrahmen stand ein schlanker eleganter Herr und nickte ins Zimmer.

»Sie dürfen ihm nichts übelnehmen«, sagte der Handelsredakteur zu Fabian. »Er ist seit zwanzig Jahren Journalist und glaubt bereits, was er lügt. Über seinem Gewissen liegen zehn weiche Betten, und obenauf schläft Herr Münzer den Schlaf des Ungerechten.«

Der alte Bote brachte wieder Schreibmaschinenblätter. Münzer griff nach einem Leimtopf, vervollständigte das Spruchband des Reichskanzlers und redigierte weiter.

»Sie mißbilligen die Indolenz Ihres Kollegen«, fragte Fabian Herrn Malmy. »Was tun Sie außerdem?«

Der Handelsredakteur lächelte, freilich nur mit dem Mund. »Ich lüge auch«, erwiderte er. »Aber ich weiß es. Ich weiß, daß das System falsch ist. Bei uns in der Wirtschaft sieht das ein Blinder. Aber ich diene dem falschen System mit Hingabe. Denn im Rahmen des falschen Systems, dem ich mein bescheidenes Talent zur Verfügung stelle, sind die falschen Maßnahmen naturgemäß richtig und die richtigen sind begreiflicherweise falsch. Ich bin ein Anhänger der eisernen Konsequenz, und ich bin außerdem …«

»Ein Zyniker«, warf Münzer ein, ohne aufzublicken.

Malmy hob die Schultern. »Ich wollte sagen, ein Feigling. Das trifft noch genauer. Mein Charakter ist meinem Verstand in keiner Weise gewachsen. Ich bedaure das aufrichtig, aber ich tue nichts mehr dagegen.« 

S.30ff.

 

[…]

 

Malmy stand auf, wankte ein wenig uns schlug ans Glas. Die Umsitzenden sahen ihn an.

»Meine Herrschaften«, rief er, »ich will eine Rede halten. Wer dagegen ist, der stehe auf.«

Münzer erhob sich mühsam.

»Der stehe auf«, rief Malmy, »und verlasse das Lokal.«

Münzer setzte sich wieder, Strom lachte.

Nun begann Malmy seine Rede: »Wenn das, woran unser geschätzter Erdball heute leidet, einer Einzelperson zustößt, sagt man schlicht, sie hat die Paralyse. Und sicher ist Ihnen allen bekannt, daß dieser äußerst unerfreuliche Zustand mitsamt seinen Folgen nur durch eine Kur heilbar ist, bei der es um Leben und Tod geht. Was tut man mit unserem Globus? Man behandelt ihn mit Kamillentee. Alle wissen, daß dieses Getränk nur bekömmlich ist und nichts hilft. Aber es tut nicht weh. Abwarten und Tee trinken, denkt man, und so schreitet die öffentliche Gehirnerweichung fort, daß es eine Freude ist.«

»Lassen Sie doch diese ekelhaften medizinischen Vergleiche!« rief Strom. »Ich bin nicht fest auf dem Magen.«

»Lassen wir die medizinischen Vergleiche«, sagte Malmy. »Wir werden nicht daran zugrunde gehen, daß einige Zeitgenossen besonders niederträchtig sind, und nicht daran, daß andere besonders dämlich sind. Und nicht daran, daß einige von diesen und jenen mit einigen von denen identisch sind, die den Globus verwalten. Wir gehen an der seelischen Bequemlichkeit aller Beteiligten zugrunde. Wir wollen, daß es sich ändert, aber wir wollen nicht, daß wir uns ändern. Wozu sind die andern da?, denkt jeder und wiegt sich im Schaukelstuhl. Inzwischen schiebt man von dorther, wo viel Geld ist, dahin Geld, wo wenig ist. Die Schieberei und das Zinszahlen nehmen kein Ende, und die Besserung nimmt keinen Anfang.«

»Ich bin ein Schwein«, murmelte Münzer, hob sein Glas und hielt es vor den Mund, ohne zu trinken. So blieb er sitzen.

»Der Blutkreislauf ist vergiftet«, rief Malmy. »Und wir begnügen uns damit, auf jede Stelle der Erdoberfläche, auf der sich Entzündungen zeigen, ein Pflaster zu kleben. Kann man so eine Blutvergiftung heilen? Man kann es nicht. Der Patient geht eines Tages, über und über mit Pflastern bepflastert, kaputt!«

Der Theaterkritiker wischte sich den Schweiß von der Stirn und sah den Redner bittend an.

»Lassen wir die medizinischen Vergleiche«, sagte Malmy. »Wir gehen an der Trägheit unserer Herzen zugrunde. Ich bin ein Wirtschaftler und erkläre Ihnen: Die Gegenwartskrise ohne eine vorherige Erneuerung des Geistes ökonomisch lösen zu wollen, ist Quacksalberei!«

»Es ist der Geist, der sich den Körper baut«, behauptete Münzer und warf sein Glas um. Dann schluchzte er laut auf. Er bekam jetzt das heulende Elend in ganz großem Maßstab. Und Malmy mußte, um den Kollegen zu übertönen, noch lauter sprechen. »Sie werden einwenden, es gebe ja zwei große Massenbewegungen. Diese Leute, ob sie nun von rechts oder links anmarschieren, wollen die Blutvergiftung heilen, indem sie dem Patienten mit einem Beil den Kopf abschlagen. Allerdings wird die Blutvergiftung dabei aufhören zu existieren, aber auch der Patient, und das heißt, die Therapie zu weit treiben.«

Herr Strom hatte von den Krankheitsbildern endgültig genug und suchte das Weite. Am Ecktisch stand mühsam ein dicker Mann auf, versuchte dem Redner den Kopf zuzuwenden, aber der Hals war zu massiv, und so sagte er in die verkehrte Richtung: »Mediziner hätten Sie werden sollen.« Dann plumpste er wieder auf seinen Stuhl. Dort packte ihn plötzlich die helle Wut, und er brüllte: »Geld brauchen wir. Geld. Und wieder Geld!«

Der Dicke vom Ecktisch konnte sich nicht beruhigen. »Einfach lächerlich«, knurrte er. »Geistige Erneuerung, Trägheit des Herzens, einfach lächerlich. Geld her, und wir sind gesund. Das wäre ja gelacht wäre das ja!«

Eine Frau, die ihm gegenübersaß und die genau so dick war wie er, fragte: »Aber wo kriegen wir denn das Geld her, Arthur?«

»Hab’ ich dich gefragt?« schrie er, schon wieder aufgebracht. Dann beruhigte er sich endgültig, hielt den Kellner, der vorbeiging, am Rockschoß fest und sagte: »Noch ein Sülzkotelett, und Essig und Öl.«

S. 36ff.

 

[…]

 

Labude blickte den Freund an und sagte: »Du müßtest endlich vorwärtskommen.«

»Ich kann doch nichts.«

»Du kannst Vieles.«

»Das ist dasselbe«, meinte Fabian. »Ich kann Vieles und will nichts. Wozu soll ich vorwärtskommen? Wofür und wogegen? Nehmen wir wirklich einmal an, ich sei der Träger einer Funktion. Wo ist das System, in dem ich funktionieren kann? Es ist nicht da, und nichts hat Sinn.«

»Doch, man verdient beispielsweise Geld.«

»Ich bin kein Kapitalist!«

»Eben deshalb.« Labude lachte ein bißchen.

»Wenn ich sage, ich bin kein Kapitalist, dann meine ich: Ich habe kein pekuniäres Organ. Wozu soll ich Geld verdienen? Was soll ich mit dem Geld anfangen? Um satt zu werden, muß man nicht vorwärtskommen. Ob ich Adressen schreibe, Plakate bedichte oder mit Rotkohl handle, ist mir und ist überhaupt gleichgültig. Sind das Aufgaben für einen erwachsenen Menschen? Rotkohl en gros oder en detail, wo steckt der Unterschied? Ich bin kein Kapitalist, wiederhole ich dir! Ich will keine Zinsen, und ich will keinen Mehrwert.«

Labude schüttelte den Kopf. »Das ist Indolenz. Wer Geld verdient und es nicht liebt, kann es gegen Macht eintauschen.«

»Was fang ich mit der Macht an?« fragte Fabian. »Ich weiß, du suchst sie. Aber was fange ich mit der Macht an, da ich nicht mächtig zu sein wünsche? Machthunger und Geldgier sind Geschwister, aber mit mir sind sie nicht verwandt.«

»Man kann die Macht im Interesse anderer verwenden.«

»Wer tut das? Dieser wendet sie für sich an. Jener für seine Familie, der Eine für seine Steuerklasse, der Andere für diejenigen, die blonde Haare haben, der Fünfte für solche, die über zwei Meter groß sind, der Sechste, um eine mathematische Formel an der Menschheit auszuprobieren. Ich pfeife auf Geld und Macht!« Fabian hieb mit der Faust auf die Brüstung, aber sie war gepolstert und plüschüberzogen. Der Faustschlag blieb stumm.    

»Wenn es eine Gärtnerei gäbe, wie ich sie mir erträume! Ich brächte dich, an Händen und Füßen gefesselt, hin und ließe dir ein Lebensziel einpflanzen!« Labude war ernstlich bekümmert und legte die Hand auf den Arm des Freundes.

»Ich sehe zu. Ist das nichts?«

»Wem ist damit geholfen?«

»Wem ist zu helfen?« fragte Fabian. »Du willst Macht haben. Du willst, träumst du, das Kleinbürgertum sammeln und führen. Du willst das Kapital kontrollieren und das Proletariat einbürgern. Und dann willst du helfen, einen Kulturstaat aufzubauen, der dem Paradies verteufelt ähnlich sieht. Und ich sage dir: Noch in deinem Paradies werden sie sich die Fresse vollhauen! Davon abgesehen, daß es nie zustande kommen wird … Ich weiß ein Ziel, aber es ist leider keines. Ich möchte helfen, die Menschen anständig und vernünftig zu machen. Vorläufig bin ich damit beschäftigt, sie auf ihre diesbezügliche Eignung hin anzuschauen.«

Labude hob sein Glas und rief: »Viel Vergnügen!« Er trank, setzte ab und sagte: »Erst muß man das System vernünftig gestalten, dann werden sich die Menschen anpassen.«     Fabian trank und schwieg.

Labude fuhr erregt fort: »Das siehst du ein, nicht wahr? Natürlich siehst du das ein. Aber du phantasierst lieber von einem unerreichbaren vollkommenen Ziel, anstatt einem unvollkommenen, das sich verwirklichen läßt, zuzustreben. Es ist dir bequemer so. Du hast keinen Ehrgeiz, das ist das Schlimme.«

»Ein Glück ist das. Stell dir vor, unsere fünf Millionen Arbeitslosen begnügten sich nicht mit dem Anspruch auf Unterstützung. Stell dir vor, sie wären ehrgeizig!«

Da lehnten sich zwei Trikotengel über die Brüstung. Die eine Frau war dick und blond, und ihre Brust lag auf dem Plüsch, als sei serviert. Die andere Person war mager, und ihr Gesicht sah aus, als hätte sie krumme Beine. »Schenkt uns ’ne Zigarette«, sagte die Blonde. Fabian hielt die Schachtel hin, Labude gab Feuer. Die Frauen rauchten, blickten die jungen Männer abwartend an, und die Magere konstatierte nach einer Pause mit verrosteter Stimme: »Na ja, so ist das.«

»Wer spendiert ’nen Schnaps?« fragte die Dicke.

S.52ff.

 

[…]

 

Labude sah starr in die Zweige des nächsten Baumes. »Rassow schrieb mir, er spräche im Hamburger Auditorium Maximum, vor Studenten aller Richtungen, über das Thema ›Tradition und Sozialismus‹. Und er schlug mir vor, als Korreferent oder im Rahmen der Diskussion von meinen politischen Plänen zu erzählen. Ich fuhr hinüber. Der Vortrag begann. Rassow berichtete den Studenten von seiner Rußlandreise und von seinen Erfahrungen und Gesprächen mit russischen Künstlern und Wissenschaftlern. Er wurde von den Vertretern der sozialistischen Studentenschaft wiederholt unterbrochen. Anschließend sprach ein Kommunist und wurde seinerseits von den Bürgerlichen gestört. Dann kam ich an die Reihe. Ich skizzierte die kapitalistische Situation Europas und stellte die Forderung auf, daß die bürgerliche Jugend sich radikalisieren und daß sie den kontinentalen Ruin, der von allen Seiten, passiv oder aktiv, vorbereitet wird, aufhalten müsse. Diese Jugend, sagte ich, sei im Begriff, in absehbarer Zeit die Führerschaft in Politik, Industrie, Grundbesitz und Handel zu übernehmen, die Väter hätten abgewirtschaftet, und es sei unsere Aufgabe, den Kontinent zu reformieren: durch internationale Abkommen, durch freiwillige Kürzung des privaten Profits, durch Zurückschraubung des Kapitalismus und der Technik auf ihre vernünftigen Maße, durch Steigerung der sozialen Leistungen, durch kulturelle Vertiefung der Erziehung und des Unterrichts. Ich sagte, diese neue Front, diese Querverbindung der Klassen sei möglich, da die Jugend, wenigstens ihre Elite, den hemmungslosen Egoismus verabscheue und außerdem klug genug sei, eine Zurückführung in organische Zustände einem unvermeidlichen Zusammenbruch des Systems vorzuziehen. Wenn es schon ohne Klassenherrschaft nicht abgehe, sagte ich, dann solle man sich für das Regime unserer Altersklasse entscheiden. Bei den Vertretern der extremen Gruppen erntete mein Vortrag die übliche Heiterkeit. Aber als Rassow den Antrag zur Bildung einer radikalbürgerlichen Initiative einbrachte, fand das doch Beifall. Die Gruppe kam zustande. Wir entwarfen einen Aufruf, der an alle europäischen Universitäten verschickt werden wird. Rassow, ich und ein paar Andere wollen die deutschen Hochschulen besuchen, Vorträge halten und analoge Gruppen bilden. Wir hoffen, mit den sozialistischen Studenten eine Art Kartellverbindung einzugehen. Wenn wir an allen Universitäten Gruppen gebildet haben, werden von diesen auch andere intellektuelle Körperschaften bearbeitet. Die Sache kommt in Gang. Ich habe dir gestern nichts davon erzählt, weil ich ja deine Skepsis zur Genüge kenne.« 

»Ich freue mich«, sagte Fabian, »ich freue mich sehr, daß du nun an die Verwirklichung deines Planes herangehen kannst. Hast du dich schon mit der Gruppe der Unabhängigen Demokraten in Verbindung gesetzt? In Kopenhagen ist ein ›Club Europa‹ gebildet worden, notier es dir. Und ärgere dich nicht zu sehr über meine Zweifel an der Gutartigkeit der Jugend. Und sei mir nicht böse, wenn ich nicht glaube, daß sich Vernunft und Macht jemals heiraten werden. Es handelt sich leider um eine Antinomie. Ich bin der Überzeugung, daß es für die Menschheit, so wie sie ist, nur zwei Möglichkeiten gibt. Entweder ist man mit seinem Los unzufrieden, und dann schlägt man einander tot, um die Lage zu verbessern, oder man ist, und das ist eine rein theoretische Situation, im Gegenteil mit sich und der Welt einverstanden, dann bringt man sich aus Langeweile um. Der Effekt ist derselbe. Was nützt das göttliche System, solange der Mensch ein Schwein ist? Aber was meinte Leda dazu?«

S.79ff.

 

[…]

 

»Wie kommen eigentlich Sie in diesen Saustall?« fragte Fabian.

»Ruth Reiter und ich sind aus derselben Stadt. Wir gingen in die gleiche Schule. Neulich trafen wir uns zufällig auf der Straße. Und weil ich noch nicht lange in Berlin bin, lud sie mich zu Informationszwecken ein. Ich bin das letzte Mal hier oben. Die Information hat genügt.«

»Das freut mich«, sagte er. »Ich bin kein ausgesprochener Tugendbewahrer, und trotzdem betrübt es mich, wenn ich sehen muß, daß eine Frau unter ihrem Niveau lebt.«

Sie sah ihn ernst an. »Ich bin kein Engel, mein Herr. Unsere Zeit ist mit den Engeln böse. Was sollen wir anfangen? Wenn wir einen Mann liebhaben, liefern wir uns ihm aus. Wir trennen uns von allem, was vorher war, und kommen zu ihm.

Da bin ich, sagen wir freundlich lächelnd. Ja, sagt er, da bist du, und kratzt sich hinterm Ohr. Allmächtiger, denkt er, nun habe ich sie auf dem Hals. Leichten Herzens schenken wir ihm, was wir haben. Und er flucht. Die Geschenke sind ihm lästig. Erst flucht er leise, später flucht er laut. Und wir sind allein wie nie zuvor. Ich bin fünfundzwanzig Jahre alt, und von zwei Männern wurde ich stehengelassen. Stehengelassen wie ein Schirm, den man absichtlich irgendwo vergißt. Stört Sie meine Offenheit?«

»Es geht vielen Frauen so. Wir jungen Männer haben Sorgen. Und die Zeit, die übrigbleibt, reicht fürs Vergnügen, nicht für die Liebe. Die Familie liegt im Sterben. Zwei Möglichkeiten gibt es ja doch nur für uns, Verantwortung zu zeigen. Entweder der Mann verantwortet die Zukunft einer Frau, und wenn er in der nächsten Woche die Stellung verliert, wird er einsehen, daß er verantwortungslos handelte. Oder er wagt es, aus Verantwortungsgefühl, nicht, einem zweiten Menschen die Zukunft zu versauen, und wenn die Frau darüber ins Unglück gerät, wird er sehen, daß auch diese Entscheidung verantwortungslos war. Das ist eine Antinomie, die es früher nicht gab.«

Fabian setzte sich aufs Fensterbrett. Gegenüber war ein Fenster erleuchtet. Er blickte in ein mäßig möbliertes Zimmer. Eine Frau saß am Tisch und stützte den Kopf in die Hand. Und ein Mann stand davor, gestikulierte mit den Armen, bewegte schimpfend den Mund, riß den Hut von einem Haken und verließ den Raum. Die Frau nahm die Hände vom Gesicht und starrte auf die Tür. Dann legte sie den Kopf auf den Tisch, ganz langsam und ganz ruhig, als warte sie auf ein niederfallendes Beil. Fabian wandte sich ab und betrachtete das Mädchen, das neben ihm im Lehnstuhl saß. Auch sie hatte die Szene drüben im anderen Haus beobachtet und sah ihn traurig an.

»Schon wieder ein verhinderter Engel«, meinte er.

S. 89f.

 

[…]

 

Auf dem Tisch standen Blumen. Ein Brief lag daneben. Er öffnete ihn. Ein Zwanzigmarkschein fiel heraus, und ein Zettel. »Wenig mit Liebe, deine Mutter«, war daraufgeschrieben. In der unteren Ecke war noch etwas zu lesen. »Iß das Schnitzel zuerst. Die Wurst hält sich in dem Pergamentpapier mehrere Tage.«

Er steckte den Zwanzigmarkschein ein. Jetzt saß die Mutter im Zug, und bald mußte sie den anderen Zwanzigmarkschein finden, den er ihr in die Handtasche gelegt hatte. Mathematisch gesehen war das Ergebnis gleich Null. Denn nun besaßen beide dieselbe Summe wie vorher. Aber gute Taten lassen sich nicht stornieren. Die moralische Gleichung verläuft anders als die arithmetische.

Am selben Abend bat Cornelia ihn um hundert Mark. Im Korridor des Filmkonzerns sei ihr Makart begegnet. Er war wegen Verleihverhandlungen ins Gebäude der Konkurrenz gekommen. Er hatte sie angesprochen. Sie sei der Typ, den er schon lange suche. Für den nächsten Film seiner Firma, versteht sich. Sie solle ihn morgen Nachmittag im Büro aufsuchen. Der Produktionsleiter und der Regisseur würden auch da sein. Vielleicht probiere man’s mal mit ihr.

»Ich muß mir über Mittag einen neuen Jumper und einen Hut besorgen, Fabian. Ich weiß, du hast fast gar kein Geld mehr. Aber ich kann mir diese Chance nicht entgehen lassen. Denke dir, wenn ich jetzt Filmschauspielerin würde! Kannst du dir das vorstellen?«

»Doch«, sagte er und gab ihr seinen letzten Hundertmarkschein. »Hoffentlich bringt dir das Geld Glück.«

»Mir?« fragte sie.

»Uns«, korrigierte er ihr zu Gefallen.

S. 144f.

 

[…]

 

Das komplette 14. Kapitel „Der Weg ohne Türen – Fräulein Selows Zunge – Die Treppe mit den Taschendieben“ ist grandiose Literatur. Es handelt sich um eine kryptisch-dichte Traumszene, die der Zitation in dieser Auswahl mehr als würdig ist. Jedoch erlaubt mir das Urheberrecht trotz klarer Quellenangabe als Nicht-Wissenschaftler nur ein Kleinzitat (Auswahl unzusamenhängender Stellen für eigenes Sprachwerk von höchstens ~10% des Originaltextes) vorzunehmen und deshalb verweise ich hier nur auf dieses Kapitel.

S. 146 – 154

 

[…]

 

Nachmittags saß er in einem großen Zeitungsverlag und wartete, daß Herr Zacharias Zeit fände. Herr Zacharias war ein Bekannter, der, nach einer Debatte über den Sinn der Reklame, zu ihm gesagt hatte: »Wenn Sie mich mal brauchen, melden Sie sich.« Fabian blätterte gedankenlos in einer der Zeitschriften, die den Tisch des Warteraums zierten, und entsann sich des Gesprächs. Zacharias hatte damals der Behauptung von H. G. Wells, daß das Wachstum der christlichen Kirche nicht zuletzt auf geschickte Propaganda zurückzuführen sei, begeistert zugestimmt; er hatte auch Wells’ Forderung verfochten, daß es an der Zeit sei, die Reklame nicht länger auf die Steigerung des Konsums von Seife und Kaugummi zu beschränken, sondern sie endlich ausreichend in den Dienst von Idealen zu stellen. Fabian hatte geäußert, die Erziehbarkeit des Menschengeschlechts sei eine fragwürdige These; die Eignung des Propagandisten zum Volkserzieher und das Talent des Erziehers zum Propagandisten stünden außerdem in Frage; Vernunft könne man nur einer beschränkten Zahl von Menschen beibringen, und die sei schon vernünftig. Zacharias und er hatten sich förmlich gestritten, bis sie fanden, der Meinungsstreit trage allzu akademischen Charakter, denn beide möglichen Resultate – der Sieg oder die Niederlage jener idealistischen Aufklärung – setzten sehr viel Geld voraus, und für Ideale gebe Keiner Geld.

Boten liefen geschäftig durch das Labyrinth der Gänge. Papphülsen fielen klappernd aus Metallröhren. Das Telefon des Aufsichtsbeamten klingelte fortwährend. Besucher kamen und gingen. Angestellte rannten aus einem Zimmer ins andere. Ein Direktor des Betriebes eilte, mit einem Stab untertäniger Mitarbeiter, die Treppe hinunter.

»Herr Zacharias läßt bitten.«

S. 156f.

[…]

 

Wollte er die Besserung der Zustände? Er wollte die Besserung der Menschen. Was war ihm jenes Ziel ohne diesen Weg dahin? Er wünschte jedem Menschen pro Tag zehn Hühner in den Topf, er wünschte jedem ein Wasserklosett mit Lautsprecher, er wünschte jedem sieben Automobile, für jeden Tag der Woche eines. Aber was war damit erreicht, wenn damit nichts anderes erreicht wurde? Wollte man ihm etwa weismachen, der Mensch würde gut, wenn es ihm gut ginge? Dann mußten ja die Beherrscher der Ölfelder und der Kohlengruben wahre Engel sein!    

Hatte er nicht zu Labude gesagt:

Noch in dem Paradies, das du erträumst, werden sich die Menschen gegenseitig die Fresse vollhauen? War das Elysium, mit zwanzigtausend Mark Durchschnittseinkommen pro Barbaren, ein menschenwürdiger Abschluß? Während er, sitzenderweise, seine moralische Haltung gegen die Konjunkturforscher verteidigte, regten sich wieder jene Zweifel, die seit langem in seinem Gefühl wie Würmer wühlten. Waren jene humanen, anständigen Normalmenschen, die er herbeiwünschte, in der Tat wünschenswert? Wurde dieser Himmel auf Erden, ob er nun erreichbar war oder nicht, nicht schon in der bloßen Vorstellung infernalisch? War ein derartig mit Edelmut vergoldetes Zeitalter überhaupt auszuhalten? War es nicht viel eher zum Blödsinnigwerden? War vielleicht jene Planwirtschaft des reibungslosen Eigennutzes nicht nur der eher zu verwirklichende, sondern auch der eher erträgliche Idealzustand? Hatte seine Utopie bloß regulative Bedeutung, und war sie als Realität ebensowenig zu wünschen wie zu schaffen? War es nicht, als spräche er zur Menschheit, ganz wie zu einer Geliebten: »Ich möchte dir die Sterne vom Himmel holen!« Dieses Versprechen war lobenswert, aber wehe, wenn der Liebhaber es wahrmachte. Was finge die bedauernswerte Geliebte mit den Sternen an, wenn er sie angeschleppt brächte! Labude hatte auf dem Boden der Tatsachen gestanden, hatte marschieren wollen und war gestolpert. Er, Fabian, schwebte, weil er nicht schwer genug war, im Raum und lebte weiter. Warum lebte er denn noch, wenn er nicht wußte, wozu? Warum lebte der Freund nicht mehr, der das Wozu gekannt hatte? Es starben und es lebten die Verkehrten.

Im Feuilleton des Boulevardblattes, das auf seinen Knien lag, sah er Cornelia wieder. Juristin wird Filmstar, stand groß unter dem Photo. Fräulein Dr. jur. Cornelia Battenberg, war weiterhin zu lesen, wurde von Edwin Makart, dem bekannten Filmindustriellen, entdeckt und beginnt schon in den nächsten Tagen mit den Aufnahmen zu dem Film »Die Masken der Frau Z.«

S. 210f.

 

[…]

 

Nach dem dritten Glas wurde Wenzkat politisch. »So geht das nicht weiter«, schimpfte er.

»Ich bin im Stahlhelm. Das Abzeichen trage ich nicht. Ich kann mich, bei meiner Zivilpraxis, öffentlich nicht festlegen. Doch das ändert nichts an der Sache. Es gilt einen Verzweiflungskampf.«

»Zum Kampf kommt es gar nicht erst, wenn ihr anfangt«, sagte Fabian. »Es kommt gleich zur Verzweiflung.«

»Vielleicht hast du Recht«, rief Wenzkat und schlug auf die Tischplatte. »Dann gehen wir eben unter, kreuznochmal!«

»Ich weiß nicht, ob das dem ganzen Volk recht ist«, wandte Fabian ein. »Wo nehmt ihr die Dreistigkeit her, sechzig Millionen Menschen den Untergang zuzumuten, bloß weil ihr das Ehrgefühl von gekränkten Truthähnen habt und euch gern herumhaut?«

»So war es immer in der Weltgeschichte«, sagte Wenzkat entschieden und trank sein Glas leer.

»Und so sieht sie auch aus von vorn bis hinten, die Weltgeschichte!« rief Fabian. »Man schämt sich, dergleichen zu lesen, und man sollte sich schämen, den Kindern dergleichen einzutrichtern. Warum muß es immer so gemacht werden, wie es früher gemacht wurde? Wenn das konsequent geschehen wäre, säßen wir heute noch auf den Bäumen.«

»Du bist kein Patriot«, behauptete Wenzkat.

»Und du bist ein Hornochse«, sagte Fabian. »Das ist noch viel bedauerlicher.«

Dann tranken sie noch ein Bier und wechselten vorsichtshalber das Thema.

»Ich habe einen glänzenden Einfall«, meinte Wenzkat. »Wir gehen ein bißchen ins Bordell.«

»Gibt es denn so etwas noch? Ich denke, sie sind gesetzlich verboten.«

»Freilich«, sagte Wenzkat. »Verboten sind sie, aber es gibt noch welche. Das eine hat mit dem andern nichts zu tun. Du wirst dich amüsieren.«

»Ich denke gar nicht daran«, erklärte Fabian.

»Wir trinken eine Flasche Sekt mit den Mädchen. Das Übrige ist fakultativ. Sei nett. Komm mit. Gib gut auf mich acht, damit ich meiner Frau keinen Kummer mache.« 

S. 224f.

 

[…]

 

»Wenn wir Sie engagieren«, sagte der Direktor, »erwarten Sie keine phantastischen Summen. Zweihundert Mark sind heute sehr viel Geld.«

»Für die Angestellten?« fragte Fabian neugierig.

»Nein«, sagte der Direktor, »für die Aktionäre.«

Fabian saß im Café Limberg, trank einen Kognak und machte sich Gedanken. Es war hirnverbrannt, was er plante. Er wollte, falls man die Gnade hatte, ihn zu nehmen, einer rechtsstehenden Zeitung behilflich sein, sich auszubreiten. Wollte er sich etwa einreden, ihn reize die Propaganda schlechthin, ganz gleich, welchen Zwecken sie diente? Wollte er sich so sehr betrügen? Wollte er sein Gewissen, wegen zwei Hundertmarkscheinen im Monat, Tag für Tag chloroformieren?

Die Mutter würde sich freuen. Sie wünschte, daß er ein nützliches Glied der Gesellschaft wurde. Ein nützliches Glied dieser Gesellschaft, dieser G.m.b.H.! Es ging nicht. So marode war er noch nicht. Geldverdienen war für ihn noch immer nicht die Hauptsache.

Er beschloß, den Eltern zu verschweigen, daß er bei der »Tagespost« unterkriechen konnte. Er wollte nicht unterkriechen. Zum Donnerwetter, er kroch nicht zu Kreuze! Er beschloß, dem Direktor abzusagen, und kaum hatte er sich dazu entschieden, wurde ihm wohler. Er konnte die restlichen tausend Mark von Labude nehmen, ins Erzgebirge hinauffahren und in irgendeinem stillen Gehöft bleiben. Das Geld reichte ein halbes Jahr oder länger. Er konnte wandern, soweit sein krankes Herz nichts dagegen hatte. Er kannte den Gebirgskamm, die Gipfel und die Spielzeugstädte von Schülerfahrten her. Er kannte die Wälder, die Bergwiesen, die Seen und die armen geduckten Dörfer. Andere Leute fuhren in die Südsee, das Erzgebirge war billiger. Vielleicht kam er dort oben zu sich. Vielleicht wurde er dort oben so etwas Ähnliches wie ein Mann. Vielleicht fand er auf den einsamen Waldpfaden ein Ziel, das den Einsatz lohnte. Vielleicht reichten sogar fünfhundert Mark. Die andere Hälfte konnte er der Mutter lassen.

Also los, an den Busen der Natur, marschmarsch! Bis Fabian wiederkehrte, war die Welt einen Schritt vorangekommen, oder zwei Schritte zurück. Wohin sie sich auch drehte, jede andere Lage war richtiger als die gegenwärtige. Jede andere Situation war für ihn aussichtsreicher, ob es Kampf galt oder Arbeit. Er konnte nicht mehr daneben stehen wie das Kind beim Dreck. Er konnte noch nicht helfen und zupacken, denn wo sollte er zupacken und mit wem sollte er sich verbinden? Er wollte die Stille zu Besuch und der Zeit vom Gebirge her zuhören, bis er den Startschuß vernahm, der ihm galt und denen, die ihm glichen.

Er trat aus dem Café. Aber war das nicht Flucht, was er vorhatte? Fand sich für den, der handeln wollte, nicht jederzeit und überall ein Tatort? Worauf wartete er seit Jahren? Vielleicht auf die Erkenntnis, daß er zum Zuschauer bestimmt und geboren war, nicht, wie er heute noch glaubte, zum Akteur im Welttheater?

S. 234f.

 

[…]

 

Anhang 1: Nachwort für die Sittenrichter

Dieses Buch ist nichts für Konfirmanden, ganz gleich, wie alt sie sind. Der Autor weist wiederholt auf die anatomische Verschiedenheit der Geschlechter hin. Er läßt in verschiedenen Kapiteln völlig unbekleidete Damen und andere Frauen herumlaufen. Er deutet wiederholt jenen Vorgang an, den man, temperamentloserweise, Beischlaf nennt. Er trägt nicht einmal Bedenken abnorme Spielarten des Geschlechtslebens zu erwähnen. Er unterläßt nichts, was die Sittenrichter zu der Bemerkung veranlassen könnte: Dieser Mensch ist ein Schweinigel.

Der Autor erwidert hierauf: Ich bin ein Moralist!

Durch Erfahrungen am eigenen Leibe und durch sonstige Beobachtungen unterrichtet, sah er ein, daß die Erotik in seinem Buch beträchtlichen Raum beanspruchen mußte. Nicht, weil er das Leben photographieren wollte, denn das wollte und tat er nicht. Aber ihm lag außerordentlich daran, die Proportionen des Lebens zu wahren, das er darstellte. Sein Respekt vor dieser Aufgabe war möglicherweise ausgeprägter als sein Zartgefühl. Er fand das ganz in der Ordnung.

Die Sittenrichter, die männlichen, weiblichen und sächlichen, sind wieder einmal sehr betriebsam geworden. Sie rennen, zahllos wie die Gerichtsvollzieher, durch die Gegend und kleben psychoanalytisch geschult, wie sie sind, ihre Feigenblätter über jedes Schlüsselloch und auf jeden Spazierstock. Doch sie stolpern nicht nur über die sekundären Geschlechtsmerkmale. Sie werden dem Autor nicht nur vorwerfen, er sei ein Pornograph. Sie werden auch behaupten, er sei ein Pessimist, und das gilt bei den Sittenrichtern sämtlicher Parteien und Reichsverbände als das Ärgste, was man einem Menschen nachsagen kann. Sie wollen, daß jeder Bürger seine Hoffnungen im Topf hat. Und je leichter diese Hoffnungen wiegen, umso mehr suchen sie ihm davon zu liefern. Und weil ihnen nichts mehr einfällt, was, wenn die Leute daran herumkochen, Bouillon gibt, und weil das, was ihnen früher einfiel, von der Mehrheit längst auf den Misthaufen der Geschichte geworfen wurde, fragen sich die Sittenrichter: Wozu haben wir die Angestellten der Fantasie, die Schriftsteller?

Der Autor erwidert hierauf: Ich bin ein Moralist!

Er sieht eine einzige Hoffnung, und die nennt er. Er sieht, daß die Zeitgenossen, störrisch wie die Esel, rückwärts laufen, einem klaffenden Abgrund entgegen, in dem Platz für sämtliche Völker Europas ist. Und so ruft er, wie eine Reihe Anderer vor ihm und außer ihm: Achtung, beim Absturz linke Hand am linken Griff!

Wenn die Menschen nicht gescheiter werden (und zwar jeder höchstselber, nicht immer nur der Andere) und wenn sie es nicht vorziehen, endlich vorwärts zu marschieren, vom Abgrund fort, der Vernunft entgegen: Wo, um alles in der Welt, ist denn noch eine ehrliche Hoffnung? Eine Hoffnung, bei der ein anständiger Kerl ebenso aufrichtig schwören kann wie beim Haupt seiner Mutter?

Der Autor liebt die Offenheit und verehrt die Wahrheit. Er hat mit der von ihm geliebten Offenheit einen Zustand geschildert und er hat, angesichts der von ihm verehrten Wahrheit eine Meinung dargestellt. Darum sollten sich die Sittenrichter, ehe sie sein Buch im Primäraffekt erdolchen, dessen erinnern, was er in diesem Nachwort wiederholt versicherte.

Er sagte wiederholt, er sei ein Moralist.

S. 239f.

 

[…]

 

Anhang 2

[…]

»Ich lebe«, sagte Fabian.    

»Leben nennen Sie das?« schrie der Direktor. »In Bars und Tanzsälen treiben Sie sich rum! Leben nennen Sie das? Sie haben ja keinen Respekt vorm Leben!«

»Nur vor meinem Leben nicht, mein Herr!« rief Fabian und schlug ärgerlich auf den Tisch. »Aber das verstehen Sie nicht, und das geht Sie nichts an! Es besitzt nicht jeder die Geschmacklosigkeit, die Tippfräuleins über den Schreibtisch zu legen. Verstehen Sie das?«

Fischer hatte sich auf seinen Stuhl gesetzt, war blaß geworden und tat, als schreibe er. Breitkopf hielt mit beiden Händen die Weste fest; er fürchtete offensichtlich, die Narbe könne vor Wut zerspringen. »Wir sprechen uns noch«, stieß er hervor, drehte sich um und wollte die Tür aufreißen. Sie öffnete sich nicht. Er rüttelte daran. Er bekam einen roten Kopf. Der Abgang war verunglückt.

»Sie ist verriegelt«, sagte Fabian. »Sie wurde von Ihnen verriegelt, des Blinddarms wegen.«

Der Direktor nickte, wurde noch röter, schob den Riegel zurück, riß die Tür auf, trat hinaus und warf sie zu.

»Da wackelt die Wand«, bemerkte Fabian und widmete sich erneut der Betrachtung des Kölner Doms und der daneben errichteten Zigarette.

Fischer schlug, nachträglich, die Hände über dem Kopf zusammen und rief: »Mensch, das grenzt ja an Majestätsbeleidigung. Dafür wurde man früher eingesperrt.«

»Dafür wird man heute ausgesperrt«, sagte Fabian.

»Na, Sie haben ja vorgebeugt. Er hat sicher eine Heidenangst, Sie könnten, wenn er Sie rausschmeißt, weitererzählen, daß er die Mädchen vom Büro langlegt. Ich dachte, ihn trifft der Schlag. Sie sind ein freches Luder! Aber was machen Sie, wenn er Ihnen trotzdem kündigt?«

»Denken Sie, ich habe mein Leben seit der Konfirmation damit verbracht, gute Propaganda für schlechte Zigaretten zu machen? Wenn ich hier fliege, such ich mir einen neuen Beruf. Auf einen mehr oder weniger kommt es mir nicht mehr an.«

S. 245f.


Kursorische Kontexte