Wochenendlektüren Nr.9 – YY1: S. 8-11/~35 [Version 1.2]

Ein weiteres Wochenende bringt eine weitere Passage final überarbeiteten Text mit sich. Wir erfahren darin mehr über Yin und ihr Leben in der dystopischen Gemeinschaft, die ihre Existenz und Subsistenz einzig durch Sklaverei zu sichern vermag. Zwar bietet Gor Thaunus respektive seine noch farblosen Gründer ihren Bewohnern Schutz vor der menschenfeindlichen Umwelt und ein gesteigertes Maß an Zivilisation in einer verwüsteten Welt, dennoch zahlt die Mehrheit der Sklaven mit ihrer Freiheit und Arbeitskraft den Preis für diese Vorzüge. Mag sein, dass am Ende alle zusammen mehr Wohlstand haben – Stichwort: Trickle-down-Theorie -, aber wird dadurch eine drastische Ungleichheit zugusten der reichen Minderheit und zulasten der arbeiteten Mehrheit legitimiert? Welches Maß an Luxus ist im Angesicht der Armut noch erträglich? Wie viel sind die Hochkultur und der Fortschritt vor diesem Hintergrund noch wert?

Anklänge an die antiken Poleis mit ihrem Sklavenheer sind also ebenso kalkuliert, wie obiger Fragekomplex in die Lektüre inkorporiert und Assoziationen an eine ungleiche Verteilung von Wohlstand und Belastung in unserer globalisierten Lebenswelt inspiriert werden soll. Hiermit will ich – Autorenschaft hin oder her – jedoch weder Interpretationshoheit beanspruchen, noch verhindern, dass jeder Leser seine ganz individuellen Bedeutungen herein- und herauslesen wird. Wie auch, ist doch dieser wie jeder andere Text, und sei es der funktionalste Gebrauchstext, ab dem Moment semantisches Freiwild, in dem er den Geist seines Verfasser verlässt und sich in unserer Welt manifestiert.

Dennoch erlaube ich mir gelegentlich, auf das hinzuweisen, was ich neben Zertreuung und Schreibtraining auszudrücken beabsichtige und was eben nicht: So ist der Themenkomplex Flucht und Gastfreundschaft, mag er auch in der Eröffnungsphase offen anklingen, übrigens bestenfalls sekundär und wird rasch fallengelassen. Dieses zeitgenössische Thema in diesem fiktional-zukünftigen Kontext zu reflektieren ist m.E. nicht nötig. Eventuell hilft solcherart positive wie negative Erläuterung demjenigen, der sich fragt: Was soll das komische Geschreibsel denn eigentlich?!

Mit der doppelten Einladung, Eure Lektüreefrahrungen zu teilen und über unsere Rolle in der Welt zu reflektieren, Euer hoffentlich nicht zu pädagogisch-aufdringlicher Satorius


1. Zugang YY – Gor(e)

Ich stehe ganz oben, sogar weit über Hohenherz. Mir schwindelt und der Wind pfeift heftig. Ich bin auf Soma – Teufelswerk und Ambrosia –, und zwar derb. Wellen aus purer Wonne fluten durch Körper und Geist. Der Grund für beides heißt Mira Zorathule. Die jüngste Tochter der jüngst verstorbenen Helena Zorathule, die wohl die mächtigste Frau in Gor gewesen sein dürfte, hat mich direkt an meinem ersten Arbeitstag bei der Gründerfamilie mit hinauf auf den Thallum Gor genommen, vielmehr dorthin befohlen – ein Privileg, das nur den Eigentümern zusteht, bei mir aber nicht nötig gewesen wäre. Der Trip und der Ausblick trösten mich über alles andere hinweg, versöhnen mich für einen kurzen Augenblick mit der beschissenen Welt dort unten zu meinen Füßen, in der ich tagtäglich überleben muss. Die Siedlung interessiert mich nicht, ich ignoriere sie und blicke in die Ferne. Weit im Westen, auf halbem Weg zum Horizont, erstreckt sich ein ausgedehnter Dschungel. Ein bis hierhin sichtlich bunt gefleckter Pflanzenteppich windet sich dort bergauf durch das raue Hügelland. Sogar einige der unglaublichen Baumriesen sind zu sehen, ragen tausende Meter in die Höhe, bis hinauf in die Wolken und vielleicht sogar darüber hinaus. Unten in den Niederungen der Glasstadt und bei den wenigen Aufenthalten in der Berggasse habe ich nie so weit blicken können. Ich bin verzaubert, obwohl ich genau weiß, um was es sich dabei handelt: Es ist kein märchenhafter Zauberhain, sondern Ergebnis nüchternen Biotechnologie, eine ehemalige Naturlunge – funktional doch wunderschön. Damals und jetzt träume ich davon, wie ich, Simsalabim, aus Gor entkomme und, Abrakadabra, die Todeszone unbeschadet hinter mir lasse, um schließlich noch vor Sonnenuntergang dort anzukommen. Überall um mich herum ist Leben, allerlei Pflanzen und Tiere. Ich begebe mich schnurstracks zu einem der Riesenbäume, beginne mutig und kraftvoll, an seiner borkigen Rinde hinauf bis in die Wolkendecke hinein zu klettern. Dunkelheit und klamme, feuchte Luft umfangen mich und nach dem wundersamen Aufstieg komme ich erleichtert und nur leicht erschöpft mit den orangeroten Strahlen der wärmenden Sonne oberhalb der Wolkendecke an. Eine schier unendliche Wolkenlandschaft, Berge, Ebenen und Schluchten in Weiß, Grau und Schwarz erstrecken sich in alle Himmelsrichtungen. Die Krone des Baums beginnt bald über mir, wirft einen gigantischen Schatten nach Osten. Dort kann ich auf ausladenden Ästen seitwärts wie weiter aufwärts gehen. Voll Freude und mit Zuversicht suche ich nach einer günstigen Stelle, finde sie und blicke ich mich hier oben um, sauge den himmlischen Anblick, der sich mir bietet, tief in mich auf. Ich habe soeben eine überirdische Zauberwelt betreten, sehe nicht nur die anderen Baumkronen, die aus den Wolken ragen, sie überragen und teilweise ineinander übergehen, sondern nun auch glitzernde Luftschlösser, die überall in nah und fern sanft dahingleiten. Voll Freude und mit Zuversicht suche ich nach einer günstigen Stelle, finde sie und blicke ich mich hier oben um, sauge den himmlischen Anblick, der sich mir bietet, tief in mich auf. Ich habe soeben eine überirdische Zauberwelt betreten, sehe nicht nur die anderen Baumkronen, die ineinander übergehen, sondern nun auch glitzernde Luftschlösser überall in nah und fern. Sogar einige Orbitalkanäle winden sich im Hintergrund der Szenerie empor. Auch wenn ich zugleich um deren Existenz und die der Atmosphärenhabitate weiß, kann ich mich der Magie dieses Anblicks nicht entziehen. Ich atme die frische und reine Höhenluft ein, staune und schweige beeindruckt. Die glänzende Schönheit dieser sonnendurchfluteten Zwischenwelt, weit über der festen Erde, jedoch unterhalb der Orbitalstätten im Weltraum gelegen, erfüllt mich. Ich spüre deutlich, hier oben über den Wolken, wartet ein neues, besseres Leben auf mich. Ein Hauch von Frieden und Reichtum, Glück und Gerechtigkeit umgibt die sanft dahingleitenden Wolkenstädte, allesamt dahinhingestreut wie schimmernde Edelsteine in den Farben des Regenbogens. Ich streife auf den Pfaden, welche die meterdicken Äste der Bäume mir bieten, stundenlang umher, nähere mich erst dieser, dann jener Stätte. Währenddessen geht die Sonne unter, der Himmel lodert dabei in gleißendem Feuerschein und sein Azurblau dunkelt langsam auf das satte Schwarzblau des Weltalls ab. Einzig die Orbitalbauten darüber und dazwischen, die wenigen sichtbaren, vom Erdboden aus hinaufführenden Kanäle ebenso wie das erdumspannende Netzwerk an deren Ende, unterbrechen das traumhafte Panorama. Sie sind in kunstloser, metallen-schwarzer Einfachheit gehalten und ihre Positionslichter leuchten sporadisch auf. Die Baustile der vielen fliegenden Städte sind im Gegensatz dazu so vielfältig wie einzigartig, so schön wie sympathisch. All ihre farbenfroh glänzenden Oberflächen und die bunt gemischten Bewohner in ihren Straßen erwachen für mich zum Leben, bezaubern mich. Jede dieser atmosphärischen Heimstätte ist anders, aber alle gleichen sie sich, sind so behaglich, so sauber, so nett und freundlich wie die anderen. Auf paradiesische Art sind sie unwirklich – ich fühle mich im Inneren so, wie damals während und nach den tolldreisten Märchen, die unsere Eltern uns früher einmal zum Einschlafen vorgelesen haben. Abenteuer treffen auf Geborgenheit, Weite und Nähe fallen zusammen, eine Vereinigung von Gegensätzen findet statt – träumend erfasst mich ein Gefühl der Heimat, ja, es erfüllt mich.

Und schon falle ich jäh aus meinem Traumland, mein Wegträumen endet in Wehmut und Verzweiflung: Das waren bessere Zeiten, damals in unserem früheren Leben, in einer unwiederbringlich verlorenen Vergangenheit. So angenehm und tröstlich die damit verwobenen Erinnerungen und dazugehörenden Traumbilder auch sind, so falsch und unwirklich sind sie heute, so dumm und naiv bin ich, wenn ich sie mir vorstelle. Es gibt dort oben über den Wolken in Wirklichkeit genauso wenig Gutes zu finden wie überall da draußen in den Todeszonen. Nur Leid und Tod warten dort, der Rest ist Vergangenheit und bloße Vorstellung. Hinter und über mir liegen Schmerz und Trauer – und vor mir? Was wird wohl alles auf mich zukommen: Eine steile Karriere als Edelsklavin, vielleicht der fast unmögliche Aufstieg, ja Ausstieg, in die Freiheit, erworben durch herausragende Leistungen und Treue im Dienst für Gor Thaunus? Wohl kaum, alberne Vorstellungen spinne ich mir da zurecht, nicht einmal des Träumens wert. Hier unten im Schlamm der Außenstadt, gefangen im Glaskäfig sind Anfang und Ende gleich, ist ein für alle Mal Schluss. Der Höhepunkt, nein, das Ende meines Lebenswegs als Unfreie scheint mit der Anstellung im Haus der Zorathules endgültig erreicht – einmal Sklavin, immer Sklavin.

Diese Gedanken an die verlorene Vergangenheit, die raue Wirklichkeit und die festgelegte Zukunft holen mich unsanft zurück in die Außenwelt. Es regnet ununterbrochen und der allgegenwärtige Schlamm wird dabei zu knöcheltiefem Matsch, stinkt zudem noch abscheulicher als sonst und macht aus jedem Schritt einen Kampf. Der Schlick ist kriechender Vorbote der aggressiven Natur da draußen, die selbst die dicken Schutzwälle nicht aufhalten können, was sie hier bei uns wohl auch gar nicht tun sollen. In den weiter innen und weiter oben liegenden Stadtbezirken ist nichts mehr von all dem zu sehen. Außer an mir und den anderen dort beschäftigten Sklaven gibt es näher zum Zentrum der Stadt kaum noch echten Dreck. Hier jedoch sind alle schmutzig, selbst wenn sie sich um Sauberkeit bemühen. Kaum ist der Schlamm getrocknet und ausgebürstet, kommt ein neuer Arbeitstag und alles beginnt von vorne.

Bevor ich nun ernsthaft damit anfange, mich über meinen Arbeitsdienst zu beschweren, oder mich am Ende sogar noch über die neue Stelle zu freuen, will ich mich doch lieber wieder mit den Gegebenheiten um mich herum beschäftigen: Die vier Wanderer dort draußen müssen sich zuvor mühsam durch die hiesige Todeszone mit ihren Tonnen an Dreck und Horden von Ungeziefer geschlagen haben – vom tödlichen Rest ganz zu schweigen –, da bin ich mir absolut sicher, auch wenn ich seit Jahren nicht mehr hinter dem Wall gewesen bin. Unterwegs müssen sie sich ständig gefürchtet haben, von irgendetwas angegriffen und verletzt, wenn nicht sogar getötet zu werden. Alles andere wäre Verdrängung oder Dummheit gewesen, denn niemand bei klarem Verstand unterschätzt die Gefahren dort draußen. Vielleicht hatten sie Glück, sind gute durchgekommen, das aber ändert nichts an der instinktiven Angst vor der Todeszone, die ihren Namen verdient hat.

Ob diese abgerissenen Figuren frische Jagdbeute oder verzweifelte Flüchtlinge sind, weiß ich nicht, am Ende ist das im Ergebnis sowieso gleich. Alle sind sie Opfer und verlieren spätestens in dem Moment ihre Freiheit und ihre Würde endgültig, in dem sie ihren Fuß in diese verfluchte Stadt setzen und dann nichts weiter anzubieten haben als ihr nacktes Leben, ihre wertlosen Hoffnungen und Träume.

Nüchterne Neuerung

Nach Krisen und Zerwürfnissen in den letzten und insbesondere im letzten Jahr ist es nunmehr offiziell: Die Metatext-Redaktion ist Geschichte. Quanzland ist damit ein Soloprogramm geworden.

Aufmerksame Beobachter hätten dies zuvor bereits ahnen können und haben spätestens mit dem Ausbleiben des feierlichen Blogbeitrags zum 5. Jubiläum, welches sich nunmehr still und bis hierhin wortlos in der Nacht vom 15. auf den 16. Oktober gejährt hat, einen klaren Beleg für diese Ernüchterung erhalten. Nach einer bereits drastischen Reduktion des Mitarbeiterstabes im vorangegangen Jahr waren die Vorstellungen und Ambitionen von mir und meinen ehemaligen Mitstreitern zu unterschiedlich, der weithin produzierte Inhalt zu eindimensional und geringfügig geworden sowie damit die Notwendigkeit einer redaktionellen Betreuung nicht mehr gegeben.

So ist es und so ist es auch gut. Sich unterdessen selbst zu gratulieren oder andere darauf hinzuweisen, dass man Geburtstag hat, ist nicht nur im realen Leben ebenso albern, wie armselig, deshalb wird es von nun an keinerlei seltsame Sentimentalitäten dieser Art mehr geben.

Der Blog wird damit zwar ärmer, weniger bunt und vielfältig, aber keineswegs gegenstandslos, sondern schlicht klarer und gradliniger. Ich schreibe über mich und meine Themen, wie es sich für ein digitales Tagebuch ursprünglich eben gehört. Wenn solche Inhalte anstehen, werde ich sie wie gehabt und gewohnt raushauen und gelobe hier und heute feierlich, gelegentlich auch mal wieder zu alten Interessensgebieten zurückzukehren – wobei ich verstohlen meine Finger überkreuze. Denn derzeit sind mir manche Themen einfach egal geworden oder haben keinen Platz mehr in meinem Leben, was aber nicht ausschließt, dass die altgediente Kulinarik, die neubegründeten Lebensräume wie auch die Wilden Trips wiederkehren könnten. Ebenso erleben die Diskurse der Nacht sowie die Denkwelten derzeit eine merkliche Rezession und insgesamt hat der Blog an Stellwert für mich verloren.

Trotzdem bleibt eines ganz gewiss: Quanzland lebt und wird so lange überleben, wie ich Satorius heiße und nicht gänzlich biedermeierisiert und von der Wirklichkeit vereinnahmt worden bin. Das aber steht nicht auf meiner Agenda und entspricht nicht meinem Wille.

Lasst Euch also überraschen, was hier in Zukunft geschehen wird, wie auch ich mich überraschen lasse, was mich neuerlich reizen und zum Schreiben animieren wird. Über eine meiner neusten Leidenschaften – das traditionelle Bogenschießen – vermag ich offen gestanden wenig zu sagen, noch weniger zu schreiben und tue es schlichtweg lieber. Über meinen seit einem Jahr mitunter größten Lebensinhalt – Vaterschaft und Familienfreunden wie -pflichten – wie auch meine tagtäglich Profession, die beide immerhin und wie bei uns allen zeitlich hochanspruchsvoll sind, breite ich weiterhin und strikt den Mantel der digitalen Diskretion, weshalb es derzeit vornehmlich die Fiktionalen Kleinode und dabei die Originale sind, die mutmaßlich auch weiterhin inhaltsstark bleiben werden und damit zum neuen Epizentrum von Quanzland avanciert sind.

So wie das Leben sich wandelt, tut es konsequent auch dieser Blog, der mittlerweile ohne fiktiv-fantastische Romantik, aber auch ohne eitlen Narzissmus primär meinem Leben les- und sichtbaren Ausdruck verleihen soll. Ich bin und bleibe ein Schreiberling, auch wenn sich mir der Verdacht aufdrängt, dass ich für mich und den Internet-Äther alleine schreibe, und, dass das sekundäre Ziel, nachhaltig ins Gespräch mit Euch – imaginierte wie latente Leserschaft – zu kommen, verfehlt worden ist und womöglich wird. Aber sei es drum, jeder Text ist es wert, geschrieben zu werden, selbst wenn ihn niemand ließt.

So viel zunächst und zuletzt zur nüchternen Neuerung, der dezidiert aber keine neuerliche Ernüchterung korrespondiert, denn selbst eine Welt mit nur einem Bewohner, bleibt eine Welt mit einem Bewohner: Hoch lebe Quanzland!

Nüchtern und nächtlich grüßt Euch Bewohner Nr.1, Euer Satorius

Wochenendlektüren Nr.8 – YY1: S. 5-8/~34 [Version 1.2]

Wohl erholt zurück aus dem einzigen offiziellen Jahresurlaub bin ich so frei und präsentiere das nächste Häppchen von YY1 als TSF ganz unumwunden, jedoch eingleitet mit diesem Monster-Satz, der für sich so inhaltsleer ist, dass ich ihn mir an sich hätte sparen können, was mir aber erst jetzt auffällt und zugleich so schwerfällt, dass ich ihn sein lasse, wie er geworden ist.

Seht es mir freundlich nach und wendet Euch dem nachfolgenden freudig zu, Euer Satorius


1. Zugang YY – Gor(e)

Während das Krachen des schweren Panzertors noch dumpf aus der Ferne widerhallt, rücken die beruhigenden Geräusche des prasselnden Regens von Neuem in den Vordergrund meiner Wahrnehmung: rhythmisch, wohltuend, beruhigend und angenehm einschläfernd. All die düsteren Gedanken an Kontamination, Revolution und die ganze Scheiße hier in Gor verstummen. Neugierde unterliegt unterdessen Müdigkeit und der wohlverdienten Unlust, mich noch ernsthaft mit der beschissenen Außenwelt zu beschäftigen. Vor allem dann, wenn sie sich so widrig gibt, so widerwärtig ist wie das Flüchtlingspack da drüben, das mich ignoriert und trotzdem interessiert. Dabei habe ich sie doch nur gebührend hier bei uns begrüßen wollen. Nach dem Fegefeuer der Todeszone sind sie nun im äußersten Kreis der Hölle angekommen – wow, erst Marxisten, nun Katholiken, es ist wohl mein Tag der Nostalgie. Neben den alten Sprachen kehren aktuell auch die alten Religionen und diverse obskure Weltbilder zurück, so auch das Christentum. Aber ich bin gefeit gegen solche Märchen. Wie dankbar bin ich in diesen Moment mal wieder dafür, vor all dem hier klassisch und kritisch von meinen Eltern ausgebildeten worden zu sein. Sonst erginge es mir wie den meisten anderen hier unten im Schlamm, sei er auch noch so nanohygienisch rein, und ich wäre wie sie blind, taub und verschlossen gegen die wirklichen Zustände im Sonnensystem. Würde mich vielleicht sogar in ideologische Illusionen flüchten. Dabei muss ich meinen Bruder leider mit einschließen, der intellektuell nie so viel Lust und Talent gezeigt hat wie ich und deshalb jetzt die eine oder andere recht eigenwillige Ansicht über unsere Lebenswelt vertritt. Zum Glück hat er für meine Erklärungen und Einflüsterungen meistens ein offenes Ohr, wenn auch ein stures Gedächtnis, das schnell vergisst.

Ach was solls, der Funke Neugier reicht doch dafür aus, mich wieder nach außen zu wenden. Regen und Nebel, das typische Scheißwetter bei uns eben, verhindern eine gute Sicht raus der Kuppel rüber zu den Fremden. Ich stehe also auf und gehe soweit zum Ausgang vor, dass ich nicht nass werde, und schaue genauer hin: Die vier dreckigen, kleingewachsenen Gestalten lungern still und unbewegt auf dem ebenfalls dreckigen, über und über mit Schlamm bedeckten Boden des Platzes direkt vor dem rostig-grünen Südosttor herum. Es sind lebendige Menschen, trotzdem wirken sie wie versteinert. Meine Gefühle ihnen gegenüber sind gemischt, immerhin, bin ich doch dank meiner Eltern als Humanistin erzogen worden und habe mir Reste dessen selbst hier erhalten können. Aber die Gesamtsituation des Sklavendaseins und die fortgesetzt dummdreiste Arglosigkeit der sogenannten Wachen gehen mir an die überreizten Nerven. Ich habe echt Angst vor dem, was wirklich da draußen hinter den Mauern lauert, und von dort kommen sie. Idealerweise sollte ich die Neuen, wie vorhin versucht, offen und freundlich begrüßen. Sollte sie keinesfalls grundsätzlich fürchten, mir besser selbst ein Bild von ihnen machen. Dabei sollte ich nicht auf die Absicherung durch Wachen und Waffen hoffen. Aber ich werde tatsächlich zunehmend unruhiger – nicht, dass die Gerüchte doch wahr und wir in Gor nun auch an der Reihe sind. Denn dann wäre es doppelt dämlich und selbstmörderisch, jetzt offenherzig und neugierig dort rüberzugehen, „Hallo“ zu sagen und auf gute Miene zu machen. Ach was, ich spinne schon wieder rum, werde wohl selbst langsam hysterisch. Es hat hier in den letzten Jahren kaum Zwischenfälle gegeben, ein paar gestörte Psychos, ja, aber die wurden schnell zur Vernunft gebracht oder wieder ausgesondert. Mehr Sicherheitsrisiken sind nicht von dort draußen zu uns hereingedrungen. Alles andere sind hausgemachte Probleme gewesen.

Dennoch das ist eh egal, jetzt dort raus und näher ranzugehen, traue ich mich nicht. Mein notorischer Drogenkonsum, all das elendige Soma, das verschnittene Amphetamin und der primitive Alkohol, sind relativ geduldete Regelverstöße. Sie bringen mir vermutlich einen Strich in irgendeiner langen Liste ein und führen ganz selten zu einem strafenden Schmerzreiz – wann genau und warum so selten versteht keiner von den vielen Junkies unter uns Sklaven. Das also ist eine Sache, aber ein direkter Kontakt zu Flüchtlingen ist ein ganz anderes Level! Außerdem bin ich gerade schon mutig genug gewesen, bin beim Regelsurfen ein ernstes Risiko eingegangen, als ich die Neuankömmlinge frei heraus angesprochen habe. Bevor die Wachen nicht ihre Sicherheitsshow abgezogen haben, ist uns sogar das Sprechen mit Heimatlosen untersagt, mit Freien oder Herren übrigens sowieso. Keine dieser vielen Regeln ist irgendwo aufgeschrieben, alles ungewiss. Wir lernen sie zufällig voneinander und nachträglich durch Bestrafung, seltener durch Nicht-Belohnung oder eine direkte Weisung von oben. Es gibt hierzu entsprechend viele Theorien und noch mehr Gerüchte, aber die wichtigsten Alltagsregeln sind noch jedem früher oder später schmerzlich klar geworden. Nach meinem Wagnis von eben, zumal es vermeintlich ungestraft bleibt, sollte ich mich nun wohl besser zurückhalten. Ich will heute sicher keinen mittelgradigen Regelbruch mehr riskieren. Yang könnte jetzt ruhig mal stolz auf mich sein, wo er mich ständig als ängstliches Hühnchen betitelt, wenn der Penner denn überhaupt mal seine Augen auf und seine Zähne auseinanderbekäme. Ich habe jedenfalls vorerst genug, genug provoziert und getan – und überhaupt, so heftig wie Yang genieße ich das Adrenalin beim Surfen dann auch nicht.

Wenn ich doch nur irgendwas zum Flashen hätte, wäre alles leichter – aber nein, es herrscht seit Tagen Flaute auf dem Schwarzmarkt. Bald reichts mir, dann trinke ich allen Ernstes wohl mal wieder den verfluchten Schnaps, den man, Nebenwirkungen hin oder her, leicht und sogar legal bekommen kann. Heute müsste ich, wenn ich mich vorhin nicht doch sträflich versurft habe, wieder eine Dosis von dem Dreckszeug zugeteilt bekommen. Irgendwann in den Abendstunden könnte das passieren, aber wann genau und ob überhaupt liegt nicht in meiner Hand, nur der Ort ist gewiss: Beim Lebensmarkt 5. Zwischenzeitlich kehre ich die wenigen Schritte vom Eingang zurück und wir ruhen wieder beide in den aktuell zu Sitzsäcken umfunktionierten Allzweckmöbeln in unserer transparenten Wohnkuppel mit der neongelben Nummer 423 über ihrem Eingangsportal.

Wie zu erwarten ist keine der Wachen aufmerksam geworden und da eine direkte Bestrafung auch ausgeblieben ist, lasse ich meinen Gedanken nun freien Lauf und sie laufen wie meist sehr weit weg von hier. Hier in der tristen Wirklichkeit des Sklavenlagers gibt es halt nicht viel Gutes zu holen, daher bekommt man rasch Übung im Weg-Denken. Und sowieso, was auch immer passieren will, wird auchff9200 ohne mich passieren, wie es eben geschehen wird, will oder soll oder womöglich sogar muss – ach, was weiß ich kleine Sklavin schon vom Schicksal und dem Lauf der Dinge, noch über den Gang der Zeit und die Zukunft!

Eines aber weiß ich ganz sicher: Ich will hier weg, raus aus dem Schlamm der Glasstadt, am besten ganz weg aus Gor oder doch wenigstens nach oben in die besseren Stadtteile. Ich habe lange gehofft, dass ich mich an das Sklavendasein gewöhnen könnte, dass mich der kleine Aufstieg, der uns möglich ist und den ich begonnen habe, vertrösten könnte. Aber ehrlicherweise halte ich die Scheiße des Alltags nur einigermaßen aus, wenn ich irgendwie flüchte, irgendwie verdränge. Solange ich nicht auf Droge sein kann, ist meine Phantasie der einzige Ausweg, ein geheimer Schlüssel zum Reich der Freiheit. Meine Vorstellungsgabe ist ein verborgener Pfad aus der Stadt heraus in die weite Welt hinaus. Der wirkliche Fernblick über die umliegende Todeszone in Richtung Horizont taugt kaum zum Tagträumen, ist aber der Anfang jedes mentalen Trips. Könnte man jetzt über die Streuner hinweg und durch den äußersten, sieben Meter hohen Schutzwall hindurchschauen, könnte man vor allem jenseits aber auch innerhalb der Ruinenfelder versteckt sehenswerte Plätze entdecken, wildromantische Kulissen, einer Hyperschnulze, wie sie Mama einst geliebt hat, würdig. Aber besonders die Erinnerungen an früher liefern mir den Stoff, meine Phantasie macht dann den Rest. So weiß ich mich perfekt zu erinnern, denn man prägt sich die schönen Dinge, die es im hässlichen Lagerleben kaum noch gibt, am besten gründlich und ganz tief ein. Ohne solche unschätzbar wertvollen Erinnerungen fehlen einem Rückzugsorte für Geist und Seele, ohne solche Schatzkammern des Glücks bleiben einem halt nur Drogen, legale wie illegale. Oder man ergeht sich eben in teils bedenklichen Hobbys wie dem Regelsurfing. Ansonsten verliert man schnell die Lust am Leben, am zermürbenden Alltag des 24/7-Sklavendaseins und am Ende versucht man lange und zunächst häufig erfolglos, sich das Leben zu nehmen. Denn trotz der diversen hochtechnologischen Sicherheitsvorkehrungen sterben die meisten Sklaven letztlich doch durch Freitod, nicht durch Krankheit, Unfall oder mordlüsterne Dritte. Nichts für mich, ich will wenigstens geistig gesund bleiben und da keine ordentlichen Drogen zu Hand sind, lehne ich mich nun komplett zurück, räkel mich bequem in den weichen Kunststoff unter mir und schließe meine Augen endgültig fest. Ich ergehe mich in einer längst überfälligen Tagträumerei, einer der wenigen Episoden, deren Ursprung nach meiner Enteignung liegt. Dieses Erlebnis ist noch frisch, ist kaum eine Woche vergangen:

Wochenendlektüren Nr. 7 – Das System: S. 1 – 11/11 [Version 1.0]

Heute möchte ich Euch ohne allzu viele begleitende Worte ein frisches TSF servieren. Inspiriert wurde die Kurzgeschichte durch ein wirkliches Erlebnis, also getreu und gemäß dem Motto: Das Leben schreibt die besten Geschichten schon selbst. Als Chronist habe ich mir erlaubt, das kuriose Vorkommnis stilistisch ein wenig zuzuspitzen und der Diskretion zuliebe moderat zu verfremden.

Viele Vergnügen beim Lesen und möge das System Euch mit dererlei Quereln verschonen, Euer (nicht immer stoischer) Satorius


Das System

Zuerst war er verblüfft, dann neugierig, zuletzt verärgert. Der Grund dafür war nicht der erwartete Brief seiner Krankenkasse, die ihn letzte Woche erst überrascht und sodann verärgert hatte, sondern ein Brief der Gerichtskasse in Gießen.

Seine Freundin hatte beide Schreiben von ihrem morgendlichen Spaziergang mit der gemeinsamen Tochter – nicht einmal ein Jahr alt, wild und zuckersüß, liebenswert und nervenaufreibend: ein furioser Wirbelwind – mit in die gemeinsame Wohnung im Erdgeschoss gebracht. Zuvor hatte das begeisterte Sturmklingeln der Kleinen den Großen entgeistert aufschrecken lassen. Er war nämlich ein ausgewiesener Langschläfer, bisweilen Morgenmuffel und wurde mit der allmorgendlichen Rückkehr seiner Lieben meistens zum zweiten Mal wach, nachdem er zu einer Uhrzeit, einer Unzeit zwischen sieben und acht Uhr morgens, zunächst mit seinen beiden Damen erstmals erwachte.

Es war der 23. September, Tag und Nacht lagen im Gleichgewicht und die Witterung stellte sich während seines noch schlaftrunkenen Kontrollblicks über den Balkon, durch das dort aufgespannte Katzennetz hindurch, als neutral im schlechtesten Sinne heraus: Die monotonen Wolkenschleier dort draußen waren tiefgrau, kein Fetzen blauen Himmels zu sehen, ein Wetter ohne Eigenschaften, das seine zerknitterte Stimmung schonmal nicht aufhellte. Dennoch schien der Rest der kleinen Familie den Spaziergang genossen zu haben, wenn er auch ohne den erhofften, erholsamen Schlaf für den Fratz geblieben war. Er begrüßte, nunmehr bereits milderer Stimmung, Frau und Kind – eine Wortwahl, die er nur ironisch verwendete, war ihm im Gegensatz zu ihr das Sakrament der Ehe ein Gräuel – kurz mit je einem Kuss, nahm besagte Post entgegen und ging voran ins Wohnzimmer, wo er die beiden Briefe mit seinen blassblauen Augen musterte.

Er wollte sie nacheinander öffnen. Zuerst die schlechte Nachricht, dachte er: Da ihm der Inhalt des anderen Schreibens vorab klar war, griff er also zunächst zu demjenigen mit dem unheilvollen Absender Gerichtskasse Gießen. Hatte er falsch geparkt, war er geblitzt worden, ohne es zu merken, was hatte es damit wohl auf sich? Gespannt riss er den Umschlag auf, warf das Papier achtlos auf den dunkelbraunen Tisch zwischen all das Chaos, das hier und auch sonst überall in der kleinen Wohnung die Oberhand gewonnen hatte, seitdem sie zu dritt waren, und begann zu lesen: Grundbuchsache lautete der Betreff, eine vage Ahnung über den Anlass der Mitteilung war gestiftet, allerdings stand rechts daneben, ebenfalls fettgedruckt und in gleicher Schriftgröße gesetzt, Mahnung. Von 20,90 € war die Rede, wobei es die zusätzlichen 5,00 € Mahngebühr waren, gefolgt von der Androhung einer Pfändung von Konten und Arbeitseinkommen durch einen Gerichtsvollzieher, die ihn erst irritierte und darauf schrittweise sprachlos, dann ärgerlich und zuletzt rasend machte. Dieser Vorgang vollzog sich in Minutenfrist, ungesehen, ungehört und erreichte die anderen erst mit dem der Tochter zuliebe immerhin mäßig unterdrückten Fluch: „Habt ihr sie nicht alle? Was soll denn dieser Scheiß – bitteschön!“

Während die Tochter lustig gluckste und rasch in seine Richtung krabbelte, steckte seine Gefährtin – eine Bezeichnung wiederum, die er liebte, und gänzlich unironisch vor dem Aussterben bewahren wollte – ihren rotblonden Kopf in den Raum und fragte mit tadelnder, trotzdem leicht amüsierter Miene: „Na! Nanu, was ist denn los?“

„Ich so allen Ernstes 5,00 € Mahngebühr für eine Rechnung zahlen, die ich nie bekommen habe. Vermutlich für diesen elendig-lästigen Erbschaftsdriss, der mich schon seit zwei Jahren heimsucht. Eigentlich sollte das beendet sein, ach, ich kann dazu nur eines sagen: Scheißverein!“, erwiderte er schon etwas beruhigter im Bauch, aber nunmehr vom Kopf her sauer, geladen in gerechtem Zorn – es ging ihm ums berühmt-berüchtigte Prinzip.

Dann schaute er nach unten, wo die Kleine sich an seinem Bein hinaufzog, lächelte zunächst bemüht, sodann doch von Herzen und nahm seine Tochter auf den Arm. Die Große lächelte ebenfalls, besänftigend, stimmte seinem Verdruss jedoch unumwunden, wenn auch fluchfrei zu.

Er beschloss daraufhin, es war jedoch bereits kurz vor Mittag, bei der verantwortlichen Behörde anzurufen, um seinem Ärger Luft und die Mahnung ungeschehen zu machen. Mit einer forschen, aber zutreffenden Eröffnung wollte er das Gespräch beginnen, eilig nicht bedenkend, dass er lediglich in einer Telefonzentrale landen würde. Gewählt, von einem Herrn Günnert matt und geschäftsmäßig desinteressiert begrüßt und plangemäß, vermeintlich rhetorisch spitz gefragt: „Ist es in ihrem Hause üblich, Mahnungen zu versenden, ohne zuvor eine Rechnung gestellt zu haben – denn genau das ist mir heute passiert?!“

„Ja … Das kommt schon mal öfter vor“, wurde ihm sofort und gänzlich unerwartet jeder Druck aus seinem Angriff genommen.

Humor und neuer Ärger rangen in ihm, vermischten sich und brachten ihn sogleich wieder in Rage: „Insbesondere dann sehe ich keinesfalls ein, die geforderte Mahngebühr zu bezahlen, und verlange eine ordentliche Rechnung, die ich ordentlich bezahlen kann. Wenn dieser Fall – wie Sie dreist zugeben – öfter eintritt, sollte immerhin das unproblematisch sein.“

„Moment, ich leite Sie an die zuständige Sachbearbeiterin weiter. Wie war nochgleich ihr Nachname?“

Quartz!“

Q also, dann verbinde ich Sie nun mit Frau Franjo …“, sagte der Telefonist und wurde abrupt von einem Amt ersetzt.

Nicht, dass er sich hätte verabschieden oder gar bedanken wollen, wartete er erneut, nunmehr ernüchtert von der anonymen Behördensachlichkeit, namentliche Begrüßung hin oder her. Und er wartete noch immer, mittlerweile war es 11:48, als das Amt zum zehnten Mal ertönte, woraufhin er abermals von der drögen Stimme angesprochen wurde: „Frau Franjo ist nicht in ihrem Büro erreichbar – wohl schon zu Tisch. Rufen Sie später nochmal an, ich gebe ihnen dafür ihre direkte Durchwahl: 2342.“

„Allerbesten Dank und auf nimmer Wiederhören“, verabschiedete er sich barsch, legte auf und pfefferte das Telefon in die Sofakissen.

Jetzt musste er sich tatsächlich noch länger mit dieser bereits stark vorbelasteten Angelegenheit befassen, als hätten zwei Jahre Scherereien nicht vollkommen ausgereicht: Denn er war sich nun ziemlich sicher, dass sich die ominöse Rechnung auf das Umschreiben des unsäglichen Waldgrundstücks bezog. Er hätte davon vor sechsunddreißig Jahren ein Zwölftel geerbt – genauer und aktuell genommen zusammen mit zwei weiteren Miterben aus dem erweiterten Familienkreis exakt ein Sechsunddreißigstel –, wenn dieses wirtschaftlich irrelevante, weil nicht einmal einen Hektar große Grundstück seinerzeit nicht vergessen worden wäre. Aber seine Großeltern hatten es schlicht versäumt, dieses Stückchen Gemeinschaftswald bei der vertraglichen Überschreibung des sonstigen Eigentums an ihn zu erwähnen. Er war also, kaum auf der Welt, bereits Großgrundbesitzer geworden, da sein Vater wenige Monate vor der Geburt des eigenen Sohnes tragisch an Tuberkulose verstorben war. Deshalb war der Familienbesitz direkt vom Großvater, der wiederum kurz nach der Geburt des Enkels, somit nur wenige Monate nach seinem eigenen Sohn, verstorben war, an das Kind gegangen. Die Frauen der Familie waren hierbei zeittypisch relativ ignoriert worden, hatten immerhin Wohnrecht im Wohnhaus erhalten. Alles schien geregelt, bis auf den kleinen Gemeinschaftswald, der mehr oder minder allen Urfamilien des kleinen Dorfes in der osthessischen Provinz anteilig gehörte.

Nachdem dieses vermeintlich unbedeutende Versäumnis vor gut zwei Jahren bei der Inventur des Grundbuches einer fleißigen bis penetranten Beamtin – Frau Silberhorn – aufgefallen war, wurde er, gleichsam mit der Androhung eines Zwangsgeldes motiviert, dazu aufgefordert, eine Bereinigung des Grundbuches zu ermöglichen. Dazu sollte er entweder Testamente oder Erbscheine seiner Großeltern vorlegen. Die gab es jedoch nicht, woraufhin eine behördlich-juristische Odyssee ihren Anfang genommen hatte. In ihrem Verlauf waren viele Telefonate, etliche Besuche auf Amtsgerichten sowie Dutzende, teilweise kostspielige Urkunden nötig geworden und unterdessen hatten sich eine erstaunlich unerbauliche Menge an Missverständnissen, Fehlinformationen und Unzuverlässigkeiten von Seiten der Behörden, aber auch durch die Miterben ereignet. Am Ende war ein Notar zur Unterstützung engagiert worden und nach der fünften Fristverlängerung wähnte er den Vorgang mit der Überschreibung und Eintragung des Grundstückes auf ihn seit gut einem Monat endgültig abgeschlossen. Das Grundbuch war nun wieder konsistent und er um eine Reihe unerfreulicher Erfahrungen, nutzloses Wissen sowie letztlich ein enormes Zwölftel Land reicher.

Behörden und Bürokratien waren ihm seit jeher fremd, Beamte und insbesondere Polizisten suspekt gewesen und dieses Vorurteil hatte sich in der letzten Zeit derart bekräftigt, dass es drohte, sich in ein lebenslanges Urteil zu verfestigten. Er wusste zwar, wie wichtig derartige Berufe und ihre Institutionen für eine funktionierende Gesellschaft waren. Seine Erfahrungen in diesem Kontext waren beschränkt und womöglich nur zufällig miserabel ausgefallen, mit Anarchismus, Marxismus und anderen systemfeindlichen Ideologien hatte er nur in adoleszenter Schwärmerei geliebäugelt und auch das nur intellektuell, nie praktisch – dennoch er war zutiefst entnervt. Mehr als das, er empfand Abscheu vor diesen Strukturen, dem System als solchem, drohte in Zynismus oder gar Aggression abzurutschen.

Nun also schon wieder, nochmal – er musste es abermals mit ihm, dem System, mit ihnen, seinen Repräsentanten, aufnehmen, musste abermals zu Felde ziehen und musste dabei statt romantisch gegen monströse Windmühlen prosaisch gegen bedrucktes Papier, geltendes Recht und bürokratische Gesinnung ankämpfen. Er hielt sich trotzdem noch immer für einen Pazifisten, doch Situationen und Emotionen, wie gerade erlebt, ließen ihn ernsthaft an sich zweifeln. Frau Franjo hieß also heute seine erste Gegnerin, aber die war – Mahlzeit! – mutmaßlich verfrüht zu Tisch gegangen und er selbst wollte in einer Stunde arbeiten gehen, würde daraufhin nicht vor dem frühen Abend zurückkommen. Wider der Vermutung versuchte er es gleich nochmals, nahm den Hörer zur Hand und tippte die Durchwahl.

Nachdem es 13 Mal geklingelt hatte und während er mit jedem Amt gereizter wurde, fand er sich schließlich damit ab, erst morgen loszulegen. Er kehrte in seine alltäglichen Routinen zurück: Fütterte seine Tochter, bereitete seine Unterrichte als Hauslehrer vor, verabschiedete sich von seinen Damen und machte sich daraufhin mit seinem Fahrrad auf den Weg zum ersten Schüler des Tages.

Am Abend des Tages, die Tochter war gegen Acht, die Gefährtin gegen Elf zu Bett gegangen, hatte er, der er sich je nach Selbstdisziplin zwischen ein und drei Uhr anschließen pflegte, einen weiteren Zusammenstoß mit dem System, genauer einem Subsystem ganz ohne Beteiligung von genuinen Beamten: Er musste, wiederum aufbrausend, feststellen, dass der Freischaltcode für das Online-Portal seiner Krankenkasse, welcher ihn am Mittag im zweiten Brief erreicht hatte, nicht funktionierte. Es war schon sonderbar genug gewesen, als er letzte Woche nach Jahren der sporadischen, aber erfolgreichen Nutzung des Zugangs nach der Eingabe von Benutzer und Passwort unvermittelt aufgefordert wurde, jenen ominösen Freischaltcode einzugeben. Ohne, dass man das Phänomen hätte aufklären können, war ihm die Zusendung der Zahlenfolge als Lösung vorgeschlagen und sodann veranlasst worden. Nun also abermals in einer systemischen Sackgasse zu stecken, war schlicht obskur. Der trotz nächtlicher Stunde erfolgte Anruf bei der sogenannten 24/7-Hotline ergab die Auskunft, man sei zwar immer erreichbar, sein Anliegen könne jedoch nur durch den technischen Support bearbeitet werden und dieser sei selbstverständlich mitten in der Nacht nicht verfügbar. Solcherart abgefertigt, versuchte er noch rasch etwas anderes: Er gab den Code in ein zweites, vermeintlich identisches Textfeld ein, das er über einen im Schreiben erwähnten Link erreichte und welches ebenfalls nach einem Freischaltcode verlangte, und siehe da, es funktionierte. In einem insgesamt zwanzigminütigen Verlauf von Erwartung zu Überraschung, hinein in Ärger, welcher übergangslos in Zorn mündete, und nach dem Erfolg in zynischem Amüsement gipfelte, hatte er die Erkenntnis gewonnen, dass die gleich Aufforderung, das gleiche Wort in der Praxis eines anonymen, technischen Systems eben nicht gleichwertig war. Die angeblich wichtige Nachricht, die ihn laut letztwöchiger E-Mail in seinem persönlich Servicebereich erwartete und derentwegen er überhaupt so folgenreich versucht hatte, sich anzumelden, stellte sich als bloßer Hinweis heraus: Man habe die Funktionalität und Sicherheit der Online-Geschäftsstelle verbessert und wolle dies nun offiziell kundtun – woraufhin ihm nach Mitternacht die emotionale Energie versiegte, um weiterhin noch irgendetwas zu empfinden. Nach diesem Tage war er leer, legte sich taub und stumm ins Bett, jedoch nicht, ohne noch kurz an den morgendlichen Kampf gegen die ungerechte Mahnung zu denken. Wie immer und trotz allem schlief er in wenigen Minuten ein und träumte intensiv, aber unbeschreiblich seltsam.

Morgens erwachte er mit nebulösen Fragmenten im Kopf, konnte vor deren endgültigem Entschwinden noch eben entziffern und verständlich erinnern, dass er davon geträumt hatte, seinen Personalausweis samt Smartphone und Router hinter dem Haus in einem wider die Hausordnung entzündeten Freudenfeuer rituell verbrannt zu haben. Er spürte der wohl empfundenen, befreienden Genugtuung begierig nach, gleich einer Spur, vermochte allerdings nur noch die Spur des Verlöschens jener Spur zu erahnen. Dann war seine Tochter heran und überfiel ihn spielerisch-schroff mit ihrer frühmorgendlichen Energie, die jeden Morgenmuffel Fürchten und Staunen gleichermaßen lehren musste. Es war 6:42 und nach knapp 45 Minuten, die Mutter war unterdessen aufgestanden, hatte sich frisch und alles für den Tagesstart fertig gemacht, schlief er nochmals ein, um gegen zehn Uhr und damit heute tatsächlich vor dem späteren Klingelsturm aufzustehen. Leider hatte er den unterbrochenen Traum nicht fortsetzen können, so viel wusste er negativ, obwohl er sonst nichts Positives über seinen gewiss traumreichen REM-Schlaf zu fassen vermochte.

Morgentoilette und Familienidyll lagen bereits hinter ihm, als er neuerlich und leidlich gelassen mit der Durchwahl bei der Gerichtskasse anklingelte. Heute ging Frau Franjo ans Telefon und er schilderte ihr, ohne offene Provokation und schlagfertige Eröffnung schlicht sein Anliegen und wiederholte seine Forderung nach Gerechtigkeit.

Nachdem er geendet hatte, erwiderte sie mit lebendiger Stimme und offener Ungläubigkeit, damit ganz im Gegensatz zu ihrem Kollegen aus der Telefonzentrale vom Vortag: „So, Sie wollen also keine Rechnung erhalten haben und sehen deshalb nicht ein, die Mahngebühren zu bezahlen. Das kann ja jeder behaupten …“, stoppte sie, fuhr aber, bevor er scharf etwas erwidern konnte, fort: „Aber ich kann da sowieso erstmal nicht viel für Sie tun, denn wir sind nur die ausführende Gerichtskasse. Wenden Sie sich an das zuständige Amtsgericht, von dem die Rechnung ursprünglich veranlasst wurde. Dort klären Sie die Angelegenheit, fordern eine zweite Ausfertigung der Rechnung an, bezahlen diese und dann sehen wir beide weiter. Vorher werde ich die Mahngebühr nicht zurücknehmen.“

„Uff! Sie mahnen mich an, sind aber nicht im Stande … sind nicht verantwortlich dafür, ihren Fehler zu korrigieren? Denn ich habe definitiv nichts falsch gemacht und will das Problem einfach nur schnell gelöst sehen. Also gut, dann muss ich wohl woanders weitermachen. Ich rufe also selbst in Alsfeld an, bitten dort um eine Zweirechnung und wende mich dann wieder an Sie … habe ich das so richtig verstanden?“

„Genau! Wenn Sie das getan haben und von dort grünes Licht kommt, kann ich wieder aktiv werden. Auch wenn ich mir wahrlich nicht erklären kann, wie die Rechnung verlorengegangen sein soll“, zweifelte sie abermals, was seine Angriffslust nochmals anfachte.

„Das muss ich ihnen nicht erklären, noch gar beweisen, weil ich ehrlich bin und wohl kaum wegen fünf Euro mit einer dreisten Lüge hausieren gehe. Außerdem wurde die Rechnung sicherlich nicht als Einschreiben verschickt und solange gilt bei uns wohl noch immer der Grundsatz: Im Zweifel für den Angeklagten.“

„Als würde irgendjemand Rechnungen als Einschreiben verschicken, aber gut, wie dem auch sei – wenden Sie sich an Alsfeld und fragen dort nach.“

„Muss ich dann wohl und danke für ihr Bemühen. Auf Wiederhören!“, schloss er, wurde seinerseits verabschiedet und beendete das Gespräch wiederum höchst unzufrieden.

Nach einem neuerlichen Wurf des Telefons in die Sofakissen, der einen kleinen Wutanfall eröffnete, tobte er kurz verbal, fing sich mäßig und berichtete seiner zwischenzeitlich vom Spaziergang heimgekehrten Partnerin von dem unerquicklichen Telefonat. Diese suchte kurz und fand keine versöhnlichen Worte, teilte tröstlich und verständnisvoll seinen Verdruss. Die Kleine war wie immer unweit, kam heran und vermochte, ihn schnell abzulenken, und so kam er bald wieder zu sich, schickte sich sodann an, den nächsten Schritt auf dem lästigen Weg auf sich zu nehmen.

Er rief also gegen halb zwölf auf dem so verhassten Amtsgericht an, das ihn zwei Jahre lang wegen des nichtigen Erbes auf Trap gehalten hatte, vermied aber kalkuliert bis konfliktscheu, Frau Silberhorn direkt zu kontaktieren. Hoffend, dass er um ein Gespräch mit seiner bürokratischen Nemesis herumkommen möge, wählte er erstmal die Nummer der Zentrale.

Eine müde, unfreundliche und mundartlich plumpe Frauenstimme, an die er sich von zuvor noch vage erinnerte und die ihn Wort für Wort, ja Silbe für Silbe mehr strapazierte, empfing ihn:

Amtsgericht Alsfeld, Moog am Abbarad … bidde?!“

Er beherrschte sich, gab zum dritten Mal eine Kurzfassung seiner Situation zum besten Schlechten und wurde im gleichen Ton – angestrengt, lustlos, zermürbend unwillig – aufgefordert, das Aktenzeichen anzugeben.

Er hatte es befürchtet: „Dafür is‘ Frau Silberhorn zuständisch. Ich stelle’se dursch …“, schloss der Telefontrampel grußlos und sprach damit genau das aus, was er nicht hatte hören wollen. Nicht schon wieder die, seufzte er und fluchte innerlich. Auch wenn er in den zwei Jahren zuvor nur wenige Male direkt und zwischenmenschlich keineswegs übermäßig unerfreulich mit ihr gesprochen hatte, so hatte sie ihm ständig mit Briefen, die Aufforderungen, Ermahnungen und Vollzugsfristen enthalten hatten, nachgestellt.

Er tat einfach so, als kenne man sich nicht, schilderte sachlich seinen Fall und bat um Richtigstellung, woraufhin er nach seiner Adresse gefragt und ihm gesagt wurde:

„Also ihre Rechnungsanschrift ist korrekt und exakt so von mir an die Gerichtskasse übermittelt worden. Komisch, was sie behaupten … Ich habe noch nie erlebt, dass eine Rechnung verloren gegangen ist und deshalb eine unberechtigte Mahnung erhoben wurde. Mit der Mahnung habe ich im Übrigen nichts zu tun. Ich leite die nötigen Informationen, nachdem ich die Rechnung erstellt habe, einfach nur weiter und mehr nicht. Der Rest ist Sache der Gerichtskasse …“

„Ihr Ernst?! Sie können mir also auch nicht weiterhelfen und geben die Verantwortung wieder zurück? So langsam finde ich das Hin und Her echt nicht mehr witzig. Ich will doch einfach nur eine Zweitrechnung, damit ich diese bezahlen kann und die unberechtigten Mahngebühren erlassen bekomme. So jedenfalls hat es mir Frau Franjo von der Gerichtskasse vorhin noch erklärt.“

„Hat sie das? Um ehrlich zu sein, weiß ich gar nicht, wie das gehen soll, noch, was das bringen soll. Ich drücke hier nur auf ein Knöpfchen und irgendwo in einem Rechenzentrum wird dann eine elektronische Rechnung erstellt, ausgedruckt und postalisch versendet. Diese sieht dann sogar ganz anders aus, als ich das hier an meinem Bildschirm eingegeben habe. Selbst wenn ich wüsste, wie das geht, würde das nach meinem Wissen nichts an den Mahngebühren ändern. Selbst, wenn ich ihnen glauben würde, dass Sie keine Rechnung erhalten haben, wie Sie beteuern, weiß ich nicht, was eine zweite Rechnung bringen soll.“

Von der offenen Inkompetenz paradoxerweise besänftigt, zudem amüsiert von der Absurdität der verfahrenen Situation verabschiedete er sich ohne Ironie, beinahe freundlich. Ohne seiner Gefährtin zwischendurch zu berichten, lachte er nur hysterisch, herzte rasch seine Kleine und wählte abermals Frau Franjos Durchwahl:

„Hallo, nochmal, hier ist Herr Quartz. Wir hatten eben bereits telefoniert. Ich habe, wie Sie mich aufgefordert haben, in Alsfeld angerufen. Dort konnte man mir auch nicht weiterhelfen. Die Adresse sei korrekt an Sie übermittelt worden und eine neue Ausfertigung der Rechnung wäre weder sinnvoll noch machbar, hieß es von der Sachbearbeiterin. So langsam verliere ich meine Geduld. Ich will doch nur die läppischen 20,90€ zahlen, weiterhin und unbestritten, und sehe lediglich nicht ein, 25% unberechtigte Mahngebühren obendrauf zu zahlen.“

„Sie bekommen also keine Zweitrechnung?“

„Nein, wie eben gesagt, das wäre nicht nötig, noch wäre das technisch so einfach möglich, sagte man mir dort“, wiederholte er sich, nunmehr wieder ungehaltener ob der stumpfen Sturheit.

„So geht das nicht! Ich habe es ihnen doch eben schon klar gesagt“, beharrte sie mit verständnisloser, harter Stimme, „erst, wenn Sie den Rechnungsbetrag bezahlt haben, den normalen Betrag ohne die Mahngebühren, werde ich hier über die Mahngebühren eine Entscheidung fällen, nicht vorher. Ich bin ja bereit, ihnen entgegenzukommen, aber nicht ohne eine ordentliche Zahlung.“

„Mir fehlen langsam echt die Worte, von Verständnis gar nicht mehr zu sprechen. Ich bin ein kluger Mensch, aber langsam Zweifel ich an meinem Verstand. Hierüber werde ich definitiv eine Kurzgeschichte schreiben – das ist grotesk und buchstäblich kafkaesk, wenn Sie mich verstehen. Aber gut, dann wende ich mich gleich wieder an ihre Kollegin auf dem Amtsgericht und hoffe auf ein logisches Wunder!“

„Aha, dann schreiben Sie mal ihre Geschichte. Und wende Sie sich erst wieder an mich, wenn die Rechnung bezahlt wurde. Vorher werde ich nichts für Sie tun!“, sagte sie und man verabschiedete sich minimalistisch.

Sichtlich neben der Spur legte er auf, hatte nicht einmal mehr den Willen sich aufzuregen, lief einmal verwirrt durch die wenigen Zimmer der kleinen Mietwohnung und drückte im Tran die Wahlwiederholung, um ein zweites Mal direkt mit Frau Silberhorn zu sprechen.

Amtsgericht Alsfeld, Moog am Abbarad … bidde?!“, wurde er wider Erwarten und widerwärtig begrüßt, funktionierte aber dennoch leidlich, indem er fragte:

„Äh, Hallo … hier ist nochmal Quartz, ich müsste ein weiteres Mal zu Frau Silberhorn durchgestellt werden.“

„Wisse’se eigendlisch, wie späd es is‘? Wir ham‘s kurz nach zwölf und die is‘ sicher in de‘ Middagspaus‘. Ich stell’se jetzt nemmer zu ihr dursch. Ruf’se heude Mittach nochema an, die Durschwahl is‘ …“

„Ich kenne die Durchwahl und brauche sie nicht – Mahlzeit!“, legte er rüde auf, jetzt wieder energisch genug, um Laut durch die Wohnung zu brüllen: „Wrahhh! Das ist der rein Wahnsinn, so ein verfluchter Schwachsinn!“

Seine Tochter, die irgendwie immer und überall war, wo sie nicht sein sollte, kuckte entsetzt drein. Seine Gefährtin kam herbeigeeilt, schaute ihn böse an und schickte sich an, das erschrockene Kind zu trösten. Das allerdings, brüllte nun selbst herzhaft, strahlte schon wieder und grabbelte beherzt auf den Papa zu. Der nahm den Trost kurz aber freudig an, entschloss sich dann aber doch, es direkt mit der Durchwahl zu Frau Silberhorn zu versuchen, rücksichtslos gegen die Mittagspause und eigenwillig gegen den Amtsschimmel. Nach dreimaligem Klingeln hatte er erfreulicherweise damit Erfolg:

„Frau Silberhorn hier, was kann ich für Sie tun?“

„Abermals Quartz. Ich beginne zu verzweifeln. In Gießen sagte man mir nachdrücklich und eindeutig, ohne eine zweite Rechnung, die ich daraufhin ohne Mahngebühren bezahlen soll, würde man mir nicht helfen. Ich muss Sie also ebenso nachdrücklich bitten, auf Ihr Knöpfchen zu drücken – sonst wird das wohl nie was …“

Mit einem humorlosen Lachen antwortete sie: „ … mein Gott, ich beginne langsam, Sie zu verstehen. Das hat so keinen Sinn, am besten rufe ich selbst mal in Gießen an und kläre das mit der Kollegin. Wie war nochgleich ihr Name?“

„Frau Franjo heißt sie. Ich kann Ihnen auch gerne die Nummer mit der Durchwahl diktieren“, erbot er sich.

„Gerne, das macht es etwas leichter. Ich notiere …“, kündigte sie an und er diktierte ihr: „Also, die Nummer lautet: 0641 934-2342.“

„Gut, Herr Quartz, ich werde später versuchen, die Problematik aufzuklären, und rufe Sie dann noch heute oder spätestens morgen zurück.“

„Danke für Ihre Initiative und eine erholsame Mittagspause – auf Wiederhören“, beschloss er das Gespräch seinerseits, lauschte ihrer Verabschiedung und legte auf, erstmalig zufrieden und hoffnungsfroh, einer Lösung nähergekommen zu sein.

Zurück ging es in den Alltag: Brei füttern, Unterrichte vorbereiten, umziehen und wie meist mit moderater Verspätung in den Arbeitstag starten – just in diesem Moment klingelte das Telefon. Er schaute, gestresst von seiner unliebsten Marotte, dem schlechten Zeitmanagement, nur flüchtig auf das Display, erspähte die Vorwahl von Alsfeld 06631 – und beschloss sodann, durch die Tür stürmend, morgen früh zurückzurufen. Das System konnte warten, seine Selbstständigkeit hingegen nicht.

Abends, nach einem Tag selten zermürbender Mathematikunterrichte, in denen er direkt hintereinander bestenfalls am Intellekt von gleich zwei Achtklässlern, die partout nicht im Stande waren, zwei Punkte mit vier Koordinaten in die Steigungsformel mit eben diesen je zwei x- und zwei y-Werten einzusetzen, oder schlimmstenfalls an seiner Lehrbefähigung zweifeln musste, las er seiner Tochter vor dem Zubettgehen traditionsgemäß etwas vor. Auch wenn die Kleine mehr auf Bilderbücher und Lieder flog, kaum drei verständliche Worte mit kaum mehr als zwei Silben hervorbringen konnte, hatte er den Hang, ihr klassische Texte vorzulesen. Nachdem er mit dem recht blutrünstigen Sagenkreis der Griechen nach dem dritten Lebensmonat gebrochen hatte, war er zu Märchen, Gedichten und klingender Literatur übergegangen. Zumeist kam er nicht weit, weil sein Goldstück nicht eben leicht für derartige Schriften zu begeistern war. Sie bestätigte das pädagogisch geschulte Urteil der Mutter, in dem Alter seien solche Texte ebenso sinnlos wie witzlos, häufig durch rasche Flucht und respektive oder lautstarke Beschwerde. Daraufhin musste er sie regelmäßig mit ihrem Lieblingslied, Die Gedanken sind frei, wieder aufmuntern. So begann er mit seinem heutigen Exempel an bildungsvernarrter Lehrer-Schrulle und las vor, mit wohlmodulierter Stimme und komplett vergessend, dass er noch eine Rechnung mit dem System zu begleichen hatte:

Der Zauberlehrling, von Johann Wolfgang von Goethe:

Hat der alte Hexenmeister
sich doch einmal wegbegeben!
Und nun sollen seine Geister
auch nach meinem Willen leben.
Seine Wort und Werke
merkt ich und den Brauch,
und mit Geistesstärke
tu ich Wunder auch.

Walle! walle
Manche Strecke,
daß, zum Zwecke,
Wasser fließe …“


Wochenendlektüren Nr.6 – YY1: S. 2-5/~34 [Version 1.2]

Pflicht oder Lust, was sollte das Schreiben, ja mehr noch, das Leben anleiten? Ist eine Handlung authentischer, womöglich sogar moralischer, die aus positiver Neigung alá „Ja, darauf habe ich richtig Bock!“ getan wird oder eher diejenige, welche innerhalb eines vernünftigen Wertesystems erwogen und abschließend pflichtbewusst getroffen wird, wenn nötig im Unterschied zu erstgenanntem Hedonismus auch negativ alá „Wäre zwar geil, ist aber unklug oder gar ungerecht – also: Nein!“ bzw. „Eigentlich keine Lust, aber muss halt, deshalb: Ja!“?

Dieser Fragekomplex klingt nicht nur groß, er ist philosophiegeschichtlich epochal und auch psychologisch noch unabgeschlossen, wenn nicht unabschließbar. Ich komme darauf und drehe mich darum, weil ich in puncto Blog für sich und Schreiben an sich häufig zu trägem Hedonismus neige. Hierbei und ganz im Gegensatz zu anderen Bereichen des Lebens, die weniger ästhetisch und fakultativ sind, vermag ich kaum eine Pflichtethik anzuerkennen und anzuwenden. Warum auch, geht es hierbei, hierin doch weder um den potentiell leidenden Anderen, das größere Glück des Kollektivs oder um Fortschritt und Perfektion …

Und schon beginne ich meine zuerst so klare Trennung zwischen Lust und Kunst auf der einen sowie Ernst und ökonomischer Politik auf der anderen Seite des ethischen Terrains anzuzweifeln. Wahrscheinlich zurecht, ist doch ein naiver Hedonismus selten ein guter, weil erfolgreicher Lebensberater – trotzdem, begehre ich sodann wieder auf und beharre zuletzt: Ich schreibe nur, wenn ich Zeit und Lust, Muße und Muse habe.

Jetzt ist ein solcher Moment, heute ein solcher Tag. Also macht euch auf ein paar frische Inhalte gefasst. Den Anfang macht altbewährtes und neu überarbeitetes Material vom literarischen Dilettanten in mir. Es geht dabei heute zunächst weiter mit Yin & Yang (YY) in der zukünftigen Sklavenhalterstadt Gor Thaunus; währendessen wartet Xaver S. (XS) weiterhin im Erdorbit auf seine Landung und damit Fortsetzung; Alice Aqanda (AA) harrt gelassen im Grünen ihrer lange überfälligen Aktualisierung; von der noch ausstehenden Bekanntschaft mit Kjotho (KJ), dem tierischen Trio Trudie, Valerian und Balthazar (TVB), den Psychedeelern (PD) und dem noch namenlosen Vektoren (V8) nicht ganz konsequent geschwiegen.

In dieser Richtung kann also, das wollte ich oben just mal angedeutet haben, noch viel passieren; weswegen das Format Originale und die verbundenen Formate und Themen im Gegensatz zu manch anderem Aspekt von Quanzland und trotz aller hedonistischen Latenz und Leere eine rosige Zukunft haben. Am schlimmsten steht es dabei derweil um die „Kulinarik“ und die „Wilden Trips“ – erstere siecht modrig dahin, zweitere warten weiterhin auf Wachstum.

Nun also zum nächsten Streich, der mit Lust geführt und mit Grüßen komplettiert wird, Euer Satorius


1. Zugang YY – Gor(e)

Mit Yang ist heute kaum was anzufangen, der döst schon eine ganze Weile nur so vor sich hin oder tut jedenfalls erfolgreich so als ob – vielleicht nur, um mir im richtigen Moment dazwischenfunken und damit die Show stehlen zu können. Ich kenne mein Bruderherz nur zu gut, aber hier gibt es erstmal nichts zu stehlen. Mit meiner Eröffnung will ich auch üben, so cool, schlagfertig und selbstsicher zu wirken, wie er es ist und ich es nicht wirklich bin. Wie auch, in die Rolle einer Sache gezwungen, bloßes Eigentum, ist sowas wie echtes Selbstbewusstsein ein krasses Kunststück. Erst recht fällt es mir heute Abend schwer, eine Stunde nach dem Ende meiner erst achten Tagschicht in allerhöchstem Hause. Nach der ersten Woche in meiner neuen Funktion als Hausdienerin bin ich offen gestanden reichlich daneben, ziemlich übellaunig und noch fertiger mit der Außenwelt als schon zuvor – weit mehr und auf eine andere Art, als ich anfangs gedacht habe. Ich komme mir klein und wertlos vor, nichtig.

Außerdem sind die erbärmlichen Gestalten dort drüben kein allzu geiles Publikum für meine Ego-Show. Wenn sie mich überhaupt verstehen können, stutze ich, weil mir erst jetzt klar wird, dass hier keinesfalls jeder die Sprache der Gründer – Deutsch – spricht. Vielleicht sprechen sie Neolatein, Englisch oder sogar Solar, wobei all die anderen alten Sprachen und besonders die frühere Einheitssprache hier strikt verboten sind. Da ich keine weitere Runde Regelsurfing starten will und das Glückspiel Welche Sprache ist die richtige? einer bescheuerten Lotterie gleichkommt, bleibe ich still. Dank meines früheren Lebens spreche ich immerhin einige Sprachen, zumindest oberflächlich. Doch gibt es neuerlich wieder so viele verschiedene Sprachen, denn jeder popelige Zwergstaat will seine eigene haben. Auch wenn Deutsch die gängige Sprache in Gor und Umgebung ist, wer weiß schon, von woher die vier Typen gekommen sind. Die Fluchtwege sind bekanntlich lang und haben solares Ausmaß – fast jeder will auf die Erde zurück und dort in einer der Lebenszonen unterkommen. Wir sind zwar nur ein kleiner Vorposten irgendwo in der Wildnis, liegen aber so nahe an einer der Großen Sieben, dass hier reger Durchgangsverkehr herrscht. Auch hätten die verdammten Jägertrupps ihre Reviere mittlerweile weit nach Westen, sogar bis jenseits des Rheins ausgedehnt, so munkelt es zumindest die brühwarme Gerüchteküche in der Glasstadt, und zwar strikt auf Deutsch. Hunger drängt sich abermals auf, mein Magen knurrt vernehmlich.

Woran es auch immer liegen mag, verdränge ich meinen Körper nochmals, ob sie mich nicht verstehen können, anderweitig kaputt oder sonst irgendwie daneben sind, ich ernte weiterhin keine Reaktion auf meine tolle Ansprache. Nicht Mal die kleinste Regung dort drüben, überhaupt gar nichts. Wie die vier Gestalten in ihren sichtlich versifften Klamotten da herumlungern, gilt es hier wirklich weder jemanden zu beeindrucken, noch gibt es irgendwas zu gewinnen. Inzwischen verharren sie seit über fünf Minuten unbewegt im Eingangsbereich unseres Lagers, nachdem sich zuvor das schwere Panzertor mit einem unheilvollen Krachen fest und unwiderruflich hinter ihnen verschlossen hat. Davor war es wie immer geräuschvoll aber träge zur Seite und ebenso auch wieder zugeglitten, minutenlang in gähnender Langsamkeit und mit einem widerwärtigen Knarzen und Knirschen – nervig und spannend. Irgendeiner von den ach so tollen BeatBoyz musste zuvor also wenigstens so viel Aufmerksamkeit aufgebracht haben, das Tor zu öffnen und sie damit zu uns reinzulassen. Einfach mal so, frei nach dem Motto: Scheiß auf die Sicherheit der Wertlosen. Unsere Sicherheit bedeutet ihnen kaum etwas – das ist echt typisch. Den Rest der üblichen Prozedur, die man gelegentlich sogar mal miterleben darf, scheint man in der aktuellen Schicht kurzerhand und bequemerweise vergessen zu haben. Das ist so bezeichnend für das verstrahlte Pack.

Ich beginne nochmals herumzuspinnen, mache mir wieder allerlei Sorgen: Wer weiß schon, was die Neulinge uns hier gerade einschleppen. Myrte aus Kuppel 67 hat mir heute Morgen erst wieder grausige Gerüchte über die angeblich gebrochene Kontaminationsgrenze nicht weit im Westen direkt am Mittelrhein erzählt. Seitdem wären die bisher schon lebensgefährlichen Todeszonen noch tödlichere Orte geworden – wenn das halt stimmt, was sie berichtet hat. Es klang schon hart übertrieben und unglaublich. Yang hält Myrte, wie viele andere auch, für eine Spinnerin. Solche Gerüchte sind für ihn nur hysterisches Geschwätz von Dummköpfen oder sogar schlimmstenfalls konterrevolutionäre Propaganda.

Dass mein Bruder derartig abstrakte Idee denken und solch heftige Worte aussprechen kann, verblüfft mich immer wieder aufs Neue. Seit er mit den selbsternannten Marxisten abhängt, überrascht er mich häufiger mit schrägen Idee aus der europäischen Vorgeschichte, die aber meist gar nicht mal so daneben sind. Dabei bin ich von uns beiden für Denken und Wissen zuständig und er, ja er, ist eher praktisch veranlagt – ein kleines, halbstarkes Männchen eben. Wow, denke ich selbstzufrieden, meine Überheblichkeit fühlt sich gut an, wäre das doch nur immer so.

Wahrscheinlich träumt mein starkes Brüderchen gerade von einem weiteren, nutzlosen Aufstand der Sklaven. Diktatur des Proletariats, wie es seine neuen Freunde nennen müssten, wenn sie mehr als nur den Namen Marx und ein paar Schlagworte irgendwo aufgeschnappt hätten. Ich kenne diese Leute in Wirklichkeit überhaupt nicht persönlich, sehe sie nur aus der Ferne und höre von ihnen aus Yangs Erzählungen. Nachdem er vor ein paar Monaten in den Minen angefangen hatte, lernte er in seiner Schicht zwei Typen – Mike und Bob – kennen und fing an, mit ihnen und ihrer Clique abzuhängen. Wie auch immer man sich freiwillig für so bescheuerte Namen entscheiden kann, ist mir rätselhaft, wo doch die Wahl des Namens eine der wenigen Freiheiten ist, die wir Sklaven hier haben. Nach allem, was ich bisher mitbekommen habe, traue ich diesen Pseudorevolutionären kaum mehr als Halbwissen über die tatsächlichen Hintergründe zu. Aber wenn man so schwer schuften muss, wie diese Typen das unter Tage, auf den Feldern und in den Schwitzbuden tun müssen, dann braucht man wohl den Irrglauben an Widerstand als eine Art der Überlebensstrategie. Sollen sie nur weiterreden und vor sich hinträumen, solang sie und damit vor allen mein Bruder Yang nicht irgendwann wieder was handfest Dämliches versuchen. Das letzte Mal war eine derbe Sauerei mit viel Geschrei, Gewalt und zu vielen Toten gewesen. Als die letzten Möchtegernrebelen es vor ein paar Jahren, nur ein paar Monate nach unserer Ankunft, mit einem Aufstand versucht hatten, haben wir am Ende ziemlich viel Platz und auf einmal sogar größere Rationen bekommen – dann doch lieber Regelsurfing, denke ich mir und horche auf.

Von der Stoa das Leben lernen oder es fahren lassen

Was immer irgend jemand gut formuliert hat, ist mein Eigentum. Auch folgendes Wort stammt von Epikur: „Wenn du nach der Natur lebst, wirst du niemals arm sein: wenn nach Wunschvorstellungen, wirst du niemals reich sein.“ Wenig fordert die Natur, die Wunschvorstellung Unermeßliches. Gehäuft werde auf dich, was immer viele Reiche besessen hatten; über eines Privatvermögens Maß hinaus bringe dich das Schicksal, mit Gold bedecke es dich, in Purpur kleide es dich, zu einem Maß an Genuß und Reichtum bringe es dich, daß du die Erde mit Marmor verbirgst, nicht nur Reichtum zu besitzen dir erlaubt ist, sondern auch, auf ihn zu treten; hinzu mögen kommen Plastiken und Gemälde und was immer irgendeine Kunstfertigekeit an Luxus hervorgrebacht hat: Größeres zu wünschen wirst du davon lernen. Naturgegebene Bedürfnisse sind begrenzt; aus trügerischem Wunschdenken entstehende wissen nicht, wo sie aufhören sollen: keine Grenze nämlich gibt es für Trügerisches. Wer einen Weg geht, für den gibt es etwas Letztes: Irrtum ist unermeßlich. Zieh dich also zurück von Nichtigem, und wenn du wissen willst, ob, was du wünschst, naturgegebener oder blinder Sehnsucht entstamme, überlege, ob es irgendwo haltmachen kann: wenn du weit gegangen bist und immer noch etwas Weiteres übrig bleibt, so wisse, das ist nicht naturgegeben.

Lucius Annaeus Seneca (1 – 65), Briefe über Ethik, 16, 7-9 (S. 127f., Philosophische Schriften – Band 3, übersetzt von Manfred Rosenbach)


Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf der Erde. […] Gefährde nicht die Bedingungen für den indefiniten Fortbestand der Menschheit.

Hans Jonas (1903 – 1993), Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, S. 36 (1979)


Während ein ernstzunehmender Bruchteil der deutschen und auch der globalen Jungend anfängt, für ihre naturgegebenen Bedürfnisse in einer prognostisch-düsteren Zukunft einzustehen; nachdem Hans Jonas, wissend um die Dialektik der Aufklärung, Kants ehrwürdigen, aber zu individualistischen Imperativ notwendig erweitert hatte; wo bereits seit 1972 die trügerische Wunschvorstellung vom grenzenlosen Wachstum der Weltwirtschaft attestiert worden ist; hatten zwei Millenien zuvor die Weisen der klassischen Antike, sowohl der griechischen wie der römischen Kultur als auch der stoischen und epikureeischen Philosophie, klar erkannt und benannt, dass sehnsüchtig erstrebter und arglos angehäufter Reichtum widernatürlich ist. Von anderen Kulturen und ihren gleichtönenden Stimmen schweige ich der Prägnanz und der Redlichkeit zuliebe, denn hier herrschen Halbwissen und Vagheit.

Die Reichen und Mächtigen (es mag auch hier Ausnahmen geben, aber die diskriminiere ich kurzerhand) jedenfalls und jedoch waren seither entweder blind, taub, lahm und dumm oder schlicht unsittlich und dabei gemeingefährlich egoistisch bis schreiend generationenungerecht. Ihresgleichen, die gesellschaftlich relevanten Institutionen, aber auch der Pöbel aller Länder haben nicht nur die altvorderen Belehrungen ignoriert, sondern sind auf dem ziel- und uferlosen Weg des ewigen Wachstums und der unablässigen Ausbeutung stur weiter einem fatalen Trugbild nachgeeilt. Generation um Generation lebten den stupiden Alptraum einer ökonomischen, politischen und sozialen Dystopie, verfielen solcherart mehr und mehr einer fatalen Hybris, die in ihrer moralischen wie rationalen Verwerflichkeit irgendwo zwischen Prometheus und Narzissus changiert. Also sogar der vorphilosophische Mythos hatte sie, hatte uns eindeutig und lebensnah gewarnt und nachdrücklich zum Umdenken ermahnt.

Aber nein, wir wollten nicht hören; und so stehen wir heute im Angesicht der politisch wiedererwachenden Jugend bestenfalls kleinlaut, schlimmstenfalls leugnend da und müssen schahmvoll anerkennen: Wir haben uns versündigt, haben Mutter Natur geschändet und die Erde verwüstet.

Und was macht man dieser Tage in Deutschland, dem Land der Dichter und Denker, Förster und Erfinder, dort, wo vermeintlichen die ökologische Avantgarde zuhause ist, dort, wo Idee und Begriff der Nachhaltigkeit geprägt und gepflegt wurde: Man zaudert und hardert! Man fürchtet um Arbeitsplätze und Wettbewerbsvorteile, scheut den Unmut der Wähler und die Unzufriedenheit der Dekandenten. Man feiert rhetorisch tumb ein sogenanntes Klimapaket als „Durchbruch“, das nach pessimistischen oder realistischen Schätzungen – ich vermag das, Stichwort: Redlichkeit, nicht zu qualifizieren – läppische 50% der vertraglich vereinbarten und hart erkämpften CO²-Einsparziele gemäß Pariser Klimaschutzabkommen erzielen könnte. Unterdessen hofft man blind auf Innovationen, die uns dereinst womöglich retten könnten. Von Selbstvertrauen und Courage keine Spur, von Veränderung und Konsequenz keine Rede, der Rest ist Schweigen und Einerlei …

„Verzicht“ und „Verbot“, sogar „Mäßigung“ werden im öffentlichen Diskurs größtenteils wie Todsünden behandelt und verteufelt, „Konsum“ und „Wachstum“, „Freiheit“ und „Markt“ hingegen als Tugenden gefeiert und geadelt. In diesem Kontext noch ernsthaft von naturgegebenen Bedürfnissen zu reden und solche zu kritisieren, die trügerische Wunschvorstellungen konservierend, die Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden gefährden, ist mir ehrlicherweise das Tippen nicht weiter wert. So evident, so grotesk, so irrig und fatal ist die Lage, wenn man nur noch abschließend hinzudenkt, dass Deutschland, dass Europa nur ein kleines Zahnrad im Getriebe der Weltverschrottungsmaschinerie ist.

Warum für die Zukunft demonstrieren, warum stoisch, weise und klug handlen, ich habe eine viel bessere, eine durch und durch tröstliche Idee: Lasst uns doch einfach alle mit unseren SUV’s kurz beim Drive-In haltmachen, fünf Burger kaufend und zwei bis drei wegwerfend, bevor wir auf der AIDA einchecken, wo uns achselzuckend einfällt, dass wir zuhause in der Villa Licht, TV, Rechner und Heizung an- und die Fenster aufgelassen haben, was wir aber nach Sauna und Whirlpool, beim üppigen Abendbankett unter’m Wärmepilz an Deck sitzend und schlemmend, mit dem Cocktail-to-go im Plastikglas in der Hand schon wieder vergessen haben.

Ein Hoch auf die Jugend, möge ihnen späterhin der zivilisatorische Abgrund nicht zu unbehaglich werden, Euer entnervter Satorius

P.S.: Nicht, dass ich deratig Utopisches zu unseren Lebzeiten noch erwarten würde, aber wie wäre es hiermit – klar, kritisch, jedoch unkonkret!

Wochenendlektüren Nr.5 – YY1: S. 1-2/~34 [Version 1.2]

Während der Plot fast ausgereift ist, die Konflikte und Motive grob geklärt sind, letzte Justierungen an Erzählstruktur, Stil und Personal – bisweilen schmerzhaft und definitiv langwierig – vorgenommen und umgesetzt worden sind, lasse ich die Wochenendlektüren freimütig wiederauferstehen. Texte für die Füllung gibt es nunmehr genug, sogar für eine echte Kontinuität sollte es langen; ob die Artikel aber immer so zeitig, ordentlich und ausführlich kommentiert sein werden, wissen nur die Moiren und Musen.

Zuvor hat eine andere Figur aus dem selben (nicht gleichen) Kosmos, der Neumensch Xaver S., den literarisch-dilletantischen Reigen mit vier schweren Takten eröffnet, aber auch ihm und seiner Geschichte ergeht es nun zum dritten oder vierten Mal so, wie es YY1 sogleich ein zweites Mal ergehen wird: Es folgt auch bei diesen beiden das Update heraus aus der Betaphase hinein in die erste finale Version 1.0 (mittlerweile im Update 1.2), bei jenem schleicht sich bereits die Version 2.3 in den Tiefen des Blogs still und heimlich heran. Deshalb erlaube ich mir frei heraus eine Empfehlung in Richtung des Updates der ersten vier Teile von XS1, denen sich bald irgendwann die restlichen Sequenzen des ersten Kapitels und zukünftig unbestimmt auch einmal des zweiten, abgeschlossenen und des entstehenden dritten Kapitels im Rahmen der Wochenendlektüren anschließen werden – vom nur imaginierten vierten oder gar dem vorgenommenen fünften Kapitel beinahe geschwiegen. Hier also findet ihr die Aktualisierung der Urzelle meiner literarischen Ambitionen, welche demgemäß auch der am weitesten entwickelte Text innerhalb der sieben so unterschiedlichen Zugänge zum namenlosen Experimental-Sandkasten-Epos sein dürfte: Wochenendlektüren Nr.1 – XS1: S. 1-5/~46 [Update 2.3]

Nun aber zurück zum Zentrum diese Artikel und des angekündigten Textes, einer Erzählung über das Schicksal des angeblichen Zwillingspaars Yin und Yang. Die beiden illustrieren mit je eigenem Stil, Blick und Gebahren die dystopische Sklavenhaltergesellschaft in Gor Thaunus, gelegen in der apokalyptisch-düsteren Eifel des (Solar-)Jahres 133. Eine andere Erzählsituation als bei XS und der erklärte Wille, beiden Protagonisten eine prägnantere, markantere Stimme zu verleihen, leiten die Überarbeitung des aus der Betaphase her bekannten Stoffs an.

Im Rahmen der noch jungen TSF-Reihe Wochenendlektüren ist es zwar die Premiere für YY, das Format Originale jedoch hat schon mehrere Versionen (ohne nachzuschauen schätze ich: ca. drei) von YY1 dokumentiert und archiviert. Zuletzt erschien hiervon die erste, fast-final zu nennende Version 0.9 und wer sich hart spoilern will, der kann sich bereits jetzt den gesamten Textkorpus des ersten Kapitels auf einmal reinziehen. Nunmehr jedoch möchte ich schrittweise versuchen, dem Inhalt eine lebendigere und echtere Form zu verleihen. Mal sehen, ob diese hehren Ambitionen weit tragen – man darf gespannt sein!

Euer leselahmer, blogverhaltener zugleich dennoch spiel-, seh- und derzeit schreibwütiger, Satorius


1. Zugang YY – Gor(e)

„Hey ihr! Kommt mal rüber. Herzlich willkommen im schönen Gor Thaunus, wo NÄCHSTENLIEBE und FREIHEIT großgeschrieben werden! Wir zwei sind eins, mein Bruder Yang und ich – Yin, einfach nur Yin“, beginne ich den süßsauren Begrüßungsversuch der vier Fremden mit einem meiner einstudierten Sprüche für die Gattung Frischfleisch. Nichts rührt sich.

Rauch liegt in der Luft. Es riecht würzig, nach Reisig, Brot und sogar Fleisch, wohl aus den Backhäusern, in denen die Höheren ihre Nahrung zubereiten. Ich habe dabei natürlich schon wieder heftigen Hunger, aber meine Tagesration an Synthoschleim vorhin bereits komplett aufgegessen – am späten Nachmittag! Dieser ekelhafte, graubeige Nährbrei macht mich bestenfalls satt, reicht aber selten bis zum Abend. Ich versuche, den fiesen Duft zu verdrängen, der von oben aus Hohenherz und der Berggasse zu uns herunterweht, und werde sogleich von aufdringlichen Erinnerungen an früher heimgesucht. Erinnerungen an Mamas asiatisch-arabische Wokgerichte überfallen mich stattdessen, sind mir gleichzeitig Trost und Qual. Also lasse ich auch sie weiterziehen, schiebe sie vielmehr mühevoll beiseite. Da ich gerade überhaupt keinen Stoff, was auch immer, mehr gebunkert habe, ist Regelsurfing eine gute, ehrlicherweise sogar die einzige Alternative zum Ablenken. Das ist eine bei uns Niederen sehr beliebte Abwechslung, in der sich eine Portion Gefahr mit Genugtuung vermischt. Unser und mein größter und allzeit verfügbarer Freizeitspaß besteht im bewussten Provozieren der Ordnung. Wir spielen dabei mit den vielen, so seltsamen Regeln, die uns die sogenannten Eigentümer auferlegt haben. Die meisten dieser Gesetze kennen wir, das Eigentum, aber eben nicht alle, weshalb man immer mal wieder überrascht wird. So habe ich eben bereits bewusst gegen eines der weithin bekannten Verbote verstoßen, als ich meine abgegriffenen Worte über den halben Platz hinweg Richtung Südosttor gebrüllt habe, so laut und so weit ich mit meinem sanften Stimmchen eben brüllen kann.

Es sind neuerlich viele Obdachlose hierher gekommen, dabei sind die meisten Wohnkuppeln mittlerweile beinahe wieder aufgefüllt und bald wird es deshalb wohl noch enger darin werden, als es bisher zu zweit schon ist. Na, warte ich weiterhin gespannt ab, kommt heute eine Konsequenz? Nervenkitzeln flasht mich dabei angenehm, ich warte nervös und bin erregt – komplett egal, ob noch eine Strafe folgt. Und wie meistens, wenn einer von uns sich laut hörbar bemerkbar macht, interessiert das die patrouillierenden Wächter in der Nähe überhaupt nicht, ganz im Gegensatz zu dem leblosen, gelben Ding zwischen meinen Augen. Ich verfluche diesen verdammten Ring in meiner Nase, den ich nicht übersehen kann und auf dem alles über mich gespeichert wird. Mein Name – Yin – und eine fünfstellige Nummer – 24017 – sind sogar mit bloßem Auge zu lesen, der Rest sind unsichtbare Daten. Diesem Ding gegenüber, also der darin verbauten Überwachungstechnik, erlaube ich mir gerade den Regelverstoß und riskiere damit eine Bestrafung durch das teuflische Gerät. Geht meine Aktion schief und ich werde erwischt, wird es vermutlich schmerzhaft ausgehen. Aber den kleinen Einsatz ist der kurze Rausch wahrlich wert und so schlimm ist die Strafe dann auch wieder nicht. Ein kleiner Moment der Pein kommt immerhin einem kurzen Lebenszeichen gleich. Wir sind nämlich sonst sowas wie lebende Leichen, allesamt irgendwo zwischen Leben und Tod, schuften vor uns hin, funktionieren bestenfalls einwandfrei, sind dabei kaum der menschlichen Aufmerksamkeit wert und werden also, wo das möglich ist, zwischenmenschlich ignoriert. Auf diese eine Art sind wir hart unsichtbar, werden aber auf allen anderen Ebenen heftig durchleuchtet: Mein Puls, mein Hautwiderstand und die Zusammensetzung von Blut, Schweiß, Speichel und sogar meiner Scheiße werden jederzeit aufgezeichnet, irgendwo registriert und analysiert, machen mich so zum Opfer meines Körpers und zur Geisel meiner Vergangenheit. Ein altes, verblasstes Bild fällt mir ein, auch wenn es sogar hier in den Niederungen der Stadt nanotechnologisch rein ist und beides nicht gibt: Ich sitze hier fest wie eine Mücke im Spinnennetz, unsicher und ängstlich, sobald ich mich zu viel rühre, weiß die mörderische Spinne sofort Bescheid, kommt herbei und sorgt gründlich für Ruhe. So richtig verstehe ich das große Ganze mit der Technik, den Regeln und den Strafen aber auch nicht. Aber Yang und die Älteren halten sich für klüger und haben es mir grob erklärt. Bisher hat ihre Theorie meistens gestimmt, also muss sie irgendwie wahr sein, es passt zu häufig und zu gut zusammen.

Erwartungsgemäß beachten mich die Wächter dort drüben auf dem Wall nicht ein Stück weit – warum auch. Ich meinerseits sehe sie, habe jedoch keine Ahnung, wer sich unter den schwarzgrünen Körperpanzern mitsamt geschlossenem Helm versteckt – sicher irgendwelche Mitläufer aus der Berggasse. Dass sie mich in Ruhe regelsurfen lassen, ist also gerade nicht das Ungewöhnliche, sondern die Tatsache, dass ich dieses verbotene Gespräch überhaupt eröffnen konnte, und auch, dass ich weiterhin ohne jede körperliche Folge davonkomme. Glück gehabt, freue ich mich noch, als sich ein neuer Gedanke aufdrängt: Von wegen Glück, das kann anderweitig schief gehen! Am Ende könnte ihre Unfähigkeit, ihre Faulheit unser aller Pech sein! Wenn dieses Pack jeden Streuner einfach so hier reinlässt, ohne ihn zuvor ordentlich oder überhaupt mal zu kontrollieren, haben wir die Folgen zu tragen. Ihre Aufgabe ist es, die vier Eindringlinge zu überprüfen und so für Sicherheit zu sorgen. Aber was tun die Scheißer stattdessen: Nichts, außer die meiste Zeit über dumm rumstehen und bloß gelegentlich wichtigtuerisch hin und her laufen.

Oder übertreibe ich gerade mal wieder heftig, spinne mir was zurecht und alles ist in bester, schlechter Ordnung? Was soll’s, es sind ja bloß gruselige Geschichten, vertröste ich mich. Die Ankunft der vier Neulinge ist erstmal nicht mein Problem, vielleicht ja sogar überhaupt kein Problem. Im Gegenteil, es ist eine Gelegenheit und die serviert mir am frühen Abend eine willkommene Abwechslung zum normalen Regelsurfen. Trotzdem, die Lust am Risiko des Erstkontakts ebbt schon wieder ab und so krass wie mein Bruder bin ich dann doch nicht. Noch mehr zu wagen, wage ich jetzt nicht mehr, bin aktuell leidlich zufrieden mit mir und meinem Dasein: Es ist beschissen, aber es war schon schlimmer.

Sommerliche Abgründe

Der Konflikt zwischen der gesellschaftlichen immanenten und der universalen Ethik wurde zwar im Laufe der Menschheitsentwicklung schwächer, aber es bleibt doch so lange ein Konflikt zwischen diesen beiden ethischen Formen bestehen, wie es der Menschheit nicht gelingt, eine Gesellschaft aufzubauen, in der die Interessen der „Gesellschaft“ mit den Interessen aller ihrer Glieder identisch geworden sind.

Erich Fromm (1921 – 1993), Psychoanalyse und Ethik, S. 263 (1954)


Wenn denn alle Glieder überhaupt wüssten, was ihre wesentlichen Interessen und, mehr noch, ihre wahrhaften Bedürfnisse sind. Wer kann von sich behaupten, jene ominöse universale Ethik zu kennen und sich von ihr konsequent leiten zu lassen? Zumal, worin differenzieren sich „universell“ und „universal“? Vermutlich ein Bastard aus Hybris, Hypostase und Hysterie wie Platons höchste Idee des Guten, Kants Sittengesetz, ein beliebiger guter Gott oder bspw. die FDGO in unserer BRD. Ich jedenfalls bin da als Agnostiker bequemerweise intellektuell fein raus …

… allerdings mit dem diabolischen Lächeln des Moralisten wieder drin bei einer augenfällig rhetorisch überspitzten Gegenwartskritik im Geiste von Fromm, Jonas und Greta. So klage ich an und frage mit hallender Donnerstimme mein altes – immerhin in dieser Hinsicht beinahe alter – Ego: Muss ich mit dem Auto jederzeit überall hinfahren; brauche ich ein, zwei oder gar drei Flugreisen zum beliebigen Urlaubsort der Mittelstrecke – ach was, gönnen wir uns mal was -, die Kreuzfahrt als zweimonatige Weltreise; sind 150m² für drei Personen bei meinem sozialen Status noch angemessen; betreibe ich dutzende spannende, teure und aufwendige Hobbies und kaufe ich mir täglich dies oder das, gönne mir montalich jenes oder welches, was eben gerade meine ablenkbare Lust bindet, Begehren auf Eigentum weckt, mehr und mehr, obwohl ich jetzt bereits in Produkten und Waren versinke; verbrauche ich insgesamt meine Konsumgüter im Nu und werfe sie als Müll zusammen mit den etlichen schnelllebigen Gebrauchsgütern mit offer wie arglistiger, eingebauter Obsolenz oder minderwertiger Qualität zum billigen Preis achtlos weg; sollte ich zudem tatsächlich Tonnen an Tieren verwursten und vertilgen, Zucker, Palmöl, Soja und Weizen wegen die Wälder (brand-)roden und monokultivieren; ist es zuletzt wirklich unumgänglich pro Tag und Person Dutzende Kilowatt an überwiegend brauner Energie in Geräte und Maschien, Akkus und Bildschirme zu stecken, damit Bewegung, Information, Wärme und Licht uns überall hin begleiten?

(Geschellschaftlich immanenter) Chor: „Ja, Mann – genau dafür arbeite ich, Tag ein, Tag aus! Das ist mein Geburtsrecht und unsere normale Wirklichkeit, denn wir sind die Erste Welt! Wer gewinnt, nimmt sich seinen Gewinn – voll Stolz und mit gutem Recht… „

In Fromms hochgeschätzten Worten sowie meinerseits grob, ganz und willkürlich in den Blick genommen, ist die historische Realität, auf die obiges Fragengewimmel abzielt, wohl sowas wie die pessimistische Schattenseite unserer gesellschaftlichen immanenten Ethik in puncto globler Ökonomie und Ökologie. Wir versagen als Kosmumente ebenso wie als Weltgemeinschaft und damit als Haushälter der Erde in zunehmendem und frappierendem Maße, möchte man meinen.

(Geschellschaftlich immanenter) Chor: „Wären da nicht dieser verfluchte Klimawandel, das Artensterben, die Verwüstung, Überfischung, Vermüllung, all diese zufälligen Naturkatastrophen, wir könnten einfach so weiter machen wie die 666 (3000 Jahrhunderte Menschheitsgeschichte geteilt durch ~ 4,5 Generationen pro Jahrhundert) Generationen des Homo Sapiens vor uns. Aber nein, Schluss aus, wir nicht mehr, wir sollen verzichten, sparen und zurückstecken. Dabei sind wir doch so prächtig gewachsen, haben so viel Fortschritt gestiftet, Gerechtigkeit und Geist in die Welt gebracht, expandiert, kolonisiert und zivilisiert, uns seit der Renaissance und spätestens mit der Aufklärung scheinbar unaufhaltsam in Richtung universaler Ethik voranentwicklet – und jetzt, all die schöne Zivilisation soll nun schlecht sein, faul und madig in ihrem Kern, stehend auf tönernen Füßen und gebaut auf Sand? Pah! – wir sind Gottest Kinder und haben uns die Erde Untertan gemacht – Basta!“

Ihr vernehmt es ungeschönt: Mein Sommerloch war tief und mein Aufenthalt dort lang, ein asketischer Abgrund aus Verzicht, Grübelei und ökologisch-harmloser Zerstreuung liegt gähnend und klaffend hinter mir. Was sieht mein entsandeter Kopf: Der Amazonas brennt, Millionen Menschen flüchten, unterdessen beuten Populisten, Diktatoren und Oligarchen die Bevölkerung und die Umwelt weiterhin hemmungslos aus und spalten die Menscheit millionenfach, beim Handel tobt offener Krieg“, Europa ist längst keine Utopie mehr, sondern droht Geschichte zu werden.

Wenn ich solcherart böswillig die schlechten Nachrichten über das Weltgeschehen zusammenschreibe, und wirklich nur dann, höre ich bisweilen, aber ganz selten den (Gesellschaftlichen immanenten) Chor leise summen. Ansonsten bietet das Kleinod der privaten, zumeist heilen Spähre ein Antidot gegen als das bittere Gift das die (nachrichten)-mediale Kanäle pessimistisch-permanent vermitteln.

Trotzdem und deshalb harre ich aus, bleib auf dem Posten und glaube unbeirrt, dass individuelles Handeln und dessen utopische Veränderung eine notwendige Bedingung für analoge globale Veränderung ist; auch wenn das Individuum wie ich lediglich ökonomischen und ökologischen Idealen nacheifert und somit keine hinreichende Bedingung für besagte Veränderung darstellt. Denn es bedarf ebenso notwendig der politischen Aktion, ob als Reform oder Revolution – jedoch nicht durch mich: Ich diskutiere, informiere und multipliziere meine tagespolitischen Präferenzen und gehe schlussendlich wählen. Genug der Politik.

Der Rest ist politische Ökonomie, hätte Marx freudestrahlend attestiert, wenn auch in meinem Einzelfall betrachtet quantitativ und womöglich gar qualitativ unbedeutend. Dazwischen also übe ich diese sanfte Macht aus, bin frei und verantwortlich in meinem ökonomischen Handeln. Zeige mein Ethos durch meinen Konsum und meinen Lebenstil: Ich fahre weiterhin Fahrrad; essen so wenig Fleisch, wie es für einen dörflich durchsozialisierten Fleischfresser eben geht; bleibe mit meinen sieben Sachen zuhause, reise in der Region und höchstens europäisch, wo es zwar prinzipiell schön ist, aber das Wetter häufig beschissen; und finde somit höchstoffiziell und abschließend wohlbehalten und nur mäßig sonnengegerbt zurück nach Quanzland.

Mache mich gedanklich frei und lege die Füße hoch, beanspruchen hier doch weder gesellschaftliche immanente noch universale Ethik Geltung und Gewissen. Bestenfalls interessieren sie, schlimmstenfalls werden sie persifliert oder ignoriert. Aber draußen in der wirklichen Welt gelten andere Gesetze, vorortet jenseits und dieseits jedweder Ethik. Basale Tatsachen des Plausibilitätskalibers von: Wer im Sommer über seine Verhältnisse lebt, der hat im Winter nicht genug Vorräte zum Überleben; wer sein Haus vernachlässigt oder gar in Brand setzt, der wird obdach- und heimatlos; alles hat ein Ende, nur die Wurst hat Zwei.

Mit samstäglich Grüßen, insbesondere an alle gefallenen Idealisten und bösen Gutmenschen, Euer Satorius