Wochenendlektüren Nr.1 – XS1: S. 1-5/~53 [Update 2.3]

Am Wochenende ticken die Uhren anders. Da hat man Zeit, hat Muse und reichlich Gelegenheit für Kurzweil. Zeit also auch, um mal wieder ganz gediegen zu lesen. Und was bietet sich für die wochenendliche Schmökerei besser an als eine ordentliche Portion gut abgehangenes Text-Slow-Food, zumal es sich dabei auch noch um echte Originale handelt. Serviert werden die üppigen Portionen als bekömmliche Ration von je fünf Seiten pro Wochenende: Willkommen also in der ersten Ausgabe der Wochenendlektüren, einer Kombination aus TSF und Original in Serie und unter neuem Namen, innerhalb derer verschiedene Prosatexte veröffentlicht und zur Diskussion gestellt werden.

Den Anfang macht heute eine bereits vormals hier und sogar zweifach abgedruckte Geschichte, jedoch in einer so stark überarbeiteten Version, dass die urspünglichen beiden Entwicklungsstadien dieses Textes im direkten Vergleich alt und einfach aussehen. Eine literarische Skizze von einst entwickelt sich Schritt für Schritt zu einem Panorama, die Figuren werden lebendiger, Geschehen und Handlung stimmiger, die Sprache konsequenter und kompromissloser, was jedoch der Lesbarkeit nicht immer zuträglich ist. Dafür lernen wir einen stringent inszenierten Cyborg-Gelehrten kennen, dessen Leben aus den Fugen gerät und der dabei wider Willen zum Brennpunkt der Ereignisse in einer möglichen Zukunft einer solaren Menschheit wird. Es hätte so gewesen sein können steht sowohl als Arbeitstitel wie auch als Credo über dem literarischen Experiment, dessen erster von sieben Zugängen den Neumenschen Xaver S. ebenso porträtiert wie er die größeren Zusammenhänge und Hintergründe der fiktiven Zukunft darstellt und reflektiert.

Zukünftig werden mit wöchentlich fünf Seiten andere assoziierte Texte kapitelweise folgen: Inhaltlich anders gelagert, formal, funktional und sprachlich höchst divers wie different hierzu, führen neben Xaver S. (XS) sechs weitere Zugänge hinein in die vielfältige, postutopische Science-Fiction-Welt. Wir treffen auf die Zwillinge Yin & Yang (YY); begegnen der Schatzjägerin Alice Aqanda (AA); lernen Kjotho (KJ), den Regenten von Gor Thaunus, sowie die dort de facto herrschenden Oligarchen kennen; begleiten ein tierisches Trio (TVB), die Ente Trudie, den Raben Balthazar und den schwarzen Schwan Valerian auf ihrem politischen Trip; erleben das Drama rund um die Psychedeeler (PD), eine exzentrische Piratencrew, und nehmen Anteil am Leben und Leiden des Vektoren #42.3 (V8).

Nun aber eine gute erste Wochenendlektüre, Euer Satorius


1. Zugang XS – Schwere Ausnahmefehler im System

Mit jedem Tage und von beiden Seiten meiner Geistigkeit, der moralischen und der intellektuellen, näherte ich mich so ständig jener Wahrheit, durch deren teilweise Entdeckung ich zu einem so fürchterlichen Schiffbruch verdammt worden bin: daß der Mensch in Wahrheit nicht eins, sondern wahrlich zwei ist. Ich sage zwei, weil der Status meiner eigenen Erkenntnis nicht über diesen Punkt hinausgeht. Andere werden folgen, andere werden mich auf dieser gleichen Linie überflügeln. Ja, ich wage anzunehmen, daß die Menschheit sich schließlich bewußt werden wird eines ganzen Gemeinwesens vielfältiger, inkongruenter und unabhängiger Existenzen.

Robert Louis (Balfour) Stevenson (1850 – 1894), „Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde“ (1886)


„Die fehlerhafte und Unglück bringende Auffassung, als sei ein Mensch eine dauernde Einheit, ist Ihnen bekannt. Es ist Ihnen auch bekannt, daß der Mensch aus einer Menge von Seelen, aus sehr vielen Ichs besteht. Die scheinbare Einheit der Person in diese vielen Figuren auseinanderzuspalten gilt für verrückt, die Wissenschaft hat dafür den Namen Schizophrenie erfunden. Die Wissenschaft hat damit insofern recht, als natürlich keine Vielheit ohne Führung, ohne eine gewisse Ordnung und Gruppierung zu bändigen ist. Unrecht dagegen hat sie darin, daß sie glaubt, es sei nur eine einmalige, bindende, lebenslängliche Ordnung der vielen Unter-Ichs möglich. Dieser Irrtum der Wissenschaft hat manch unangenehme Folge, sein Wert liegt lediglich darin, daß die staatlich angestellten Lehrer und Erzieher sich ihre Arbeit vereinfacht und das Denken und Experimentieren erspart sehen. Infolge jenes Irrtums gelten viele Menschen für ’normal‘ ja für sozial hochwertig, welche unheilbar verrückt sind, und umgekehrt werden manche für verrückt angesehen, welche Genies sind. Wir ergänzen daher die lückenhafte Seelenlehre der Wissenschaft durch den Begriff, den wir Aufbaukunst nennen. Wir zeigen demjenigen, der das Auseinanderfallen seines Ichs erlebt hat, daß er die Stücke jederzeit in beliebiger Ordnung neu zusammenstellen und daß er damit eine unendliche Mannigfaltigkeit des Lebensspieles erzielen kann. Wie der Dichter aus einer Handvoll Figuren ein Drama schafft, so bauen wir aus den Figuren unsres zerlegten Ichs immerzu neue Gruppen, mit neuen Spielen und Spannungen, mit ewig neuen Situationen. Sehen Sie!“

Hermann Hesse (1877 – 1963), „Der Steppenwolf“ (1927)


Man starrte ihn an. Dabei saß der graue, alte Mann derzeit einfach nur ruhig da und wirkte, als schliefe er tief und traumverloren. Seine Augen waren geschlossen, sein Gesicht war glatt und er wirkte totenstarr. Nur wer genau hinsah, konnte ein minimales Zucken erkennen. Im fahlen, faltigen Gesicht verrieten es nur die Augen, auch wenn die Lider wie die übrige Muskulatur körperweit paralysiert waren: Die Augäpfel rollten unter der künstlich stabilisierten Mimik wild umher. Unablässig, aber weitgehend unsichtbar sprangen die blassblauen Iriden chaotisch hin und her; unstet, rasch und irritierend erratisch. Dabei weiteten sie sich, zogen sich wieder zusammen, der permanenten Dunkelheit scheinbar zum Trotz. Ein verborgener Widerspruch, ein störendes Detail das Wissenden vieles verraten hätten. Aber sie wussten es nicht, sahen es nicht; ahnten, argwöhnten es allerhöchstens. Verstehen würden sie es keinesfalls.

Neugierige bis verwunderte, bisweilen milde belustigte und häufiger nunmehr auch ärgerliche, jedenfalls kaum noch verstohlene Blicke streiften ihn, trafen ihn und blieben an ihm haften. Er bot ihnen Nahrung, lieferte ihnen den Stoff für ihr peinlichesu Mitvergnügen und taugte ideal als Objekt für sie, seine sogenannten Mitmenschen, hier und heute genauer Mitreisende. Man war bedürftig dieser Tage, denn viel Leid herrschte unter den Menschen; die Last der älteren und neueren Geschichte war kaum noch zu ertragen. Man war also dankbar für ein scheinbar so wehrloses Opfer, eine abnorme Ablenkung. Denn sie verzehrten sich schier nach Zerstreuung, nach simpler Ablehnung, danach, all das Falsche in ihnen und um sie herum zu kanalisieren, zu fokussieren und zuletzt zu projizieren, nach draußen, möglichst weit weg von sich. Heute wählten sie ihn als Objekt dafür aus; er bot sich an, hatte sich sogar ehrlicherweise förmlich aufgedrängt. Dabei war das, was er tat, weder verboten, noch lag es überhaupt in seiner Verantwortung, was hier mit ihm geschehen war, weiterhin geschehen würde.

Er litt unter einer Serie schwerer Systemfehler; aber auch das würden die wenigsten von ihnen überhaupt erkennen, geschweige denn anerkennen. Er wiederum sagte es ihnen nicht, fragte sie auch nicht nach Hilfe, beschwerte sich sogar bisher beim Personal nicht mal über seinen Zustand. Dabei unterlag die Sicherheit der Fluggäste logischerweise fremder Verantwortung und die Verantwortlichen wussten schließlich genauestens über seine Situation Bescheid; kannten die für seinen besonderen Fall geltenden Sicherheitsstandards. Sollte er also tatsächlich durch ein tumbes Unterlassen der Betreiber einen chronischen Schaden davontragen, außer derzeit weiterhin nicht eben angenehmer Reflexion ausgesetzt und diverser Symptomatik unterworfen zu sein, würde er charakterliche Milde und kultivierten Pazifismus fahren lassen. Er war nur ihretwegen so heftig gestört, total dysfunktional und nicht nur deshalb ziemlich gestresst. Sollten sie doch allesamt, die Mitarbeiter der Korporation ebenso wie die anonymen Mitmenschen, sich selbst wiedererkennen an ihm, gnadenlos in ihrer Widerwärtigkeit durch ihn gespiegelt. Er unterdes ließ sich nicht beirren, weder in seinen Prinzipien noch in seinen persönlichen Präferenzen und Paradoxien. Mit ihren törichten Meinungen über seinen Zustand zeigte sich der ihre umso eindrücklicher und damit untrüglicher. Ängste und Ambitionen brachen sich an ihm, bündelten sich um ihn herum und verliehen ihm hässliche Attribute: krank, gestört, gefährlich, bestenfalls noch dubios oder mysteriös. Er hingegen blieb sich auch praktisch treu: Ignorierte sie, größtenteils und wenn möglich technisch assistiert, indem er völlig in seine eigene Welt eintauchte oder wenigstens die allgemein verbindliche Außenwelt gründlich verzerrte, sie willkürlich manipulierte und somit bedarfsgerecht zurechtstutzte.

So gut es eben ging und so lange es gut ging, tat er das; aber dann gab es immer wieder diese kleinen und größeren Abstürze. Schwere Systemfehler solchen Ausmaßes hatte er seit Jahren nicht mehr ertragen müssen, nicht mal bei den regelmäßig heftigen Sonnenstürmen ging es ihm derart miserabel. Wie von gefräßigen Käfern, die sich gierig durch Silizium, Kunststoffe, Metalle und Fleisch fraßen, wurde er von Bugs überrannt, übermannt und von innen heraus lahmgelegt; seine neuronalen Netze litten effektiv seit kurz dem Start unter allerlei Interferenzen, insbesondere die vielen komplexen höheren Augmentate. Dabei drängte sich ihm, dem kühlen, sachlichen Denker, dieser ekelhaft lebendige Vergleich auf, obwohl er den letzten echten Käfer vor mehr als einem Jahrzehnt gesehen hatte. Er war kurz erstaunt über den Bilderreichtum und die Blumigkeit seines Denkens, verbuchte es dann aber als weiteren Effekt von Deaktivierung und Einsamkeit. Denken in Metaphern war ihm im Normalfall fremd. Mehr noch, er verachtete alle Tropen, sah in ihnen Verwirrungen und Spielereien des Denkens. Aber er riskierte es, dem aktuellen Drängen der rechten Hemisphäre nachzugeben; wollte dabei aus dem ungewollten Zustand wenigstens etwas über sich selbst lernen, sein rohes Ich erleben, bar jeder Assistenz und Modifikation wild denken und zugleich suboptimal existieren.

Jene Situation fußte auf einer Fehlerserie, welche den hyperrealen Weltenwanderer fesselte und band, ihn gnadenlos in die Konsensrealität zurückwarf; hineingepresst in das blasse Abbild, das von ihrem einst so leuchtenden Urbild noch übriggeblieben war: Ein goldenes Zeitalter war in tiefste Finsternis hinabgestürzt; so nostalgisch überzogen urteilte nicht nur er, so oder so ähnlich dachten die meisten seiner Zeitgenossen. Dass alles zu Bruch gegangen und total schief geraten war, war einer der wenigen unstrittigen Allgemeinplätze im Sonnensystem. Sonst hingegen war man sich in Wenigem derart einig; denn es herrschte Zwietracht und die vier Reiter marodierten, errichteten ihre Reiche in den Ländern der Sterblichen.

Dazwischen also, wenn er unweigerlich in diese Realität zurückfiel, abstürzte und hier bruchlandete, schützte er sich sensorisch so gut und so weit es ebengerade ging; denn immerhin, viele der makroskopischen Augmentate funktionierten noch leidlich zuverlässig. Aber das half alles nichts: Er brannte durch, weshalb sein sonstiges Verhalten immer wieder auffällig und tatsächlich abnorm gewesen war. Sein bisheriges Gebaren war bestenfalls noch affektiert zu nennen, schlechterdings wirkt es ungesund und widernatürlich, schlichtweg gestört. Er degenerierte körperlich, so viel war klar, und alle konnten sie seinem sukzessiven Verfall beiwohnen. Immer wieder aufs Neue, selten aufs Gleiche eskalierte sein Körper seit Beginn des Fluges. Er ekelte sie an, faszinierte sie damit zugleich, erregte Aufsehen und Abscheu gleichermaßen.

Es herrschte Chaos in ihm; Entropie zerfaserte, zerfranste, zerfräßte seinen Kosmos, sein Selbst deflagrierte: existenziell, physisch und psychisch, augmental wie hyperreal. Er litt, konnte nicht mehr, irrte mental wahllos umher. Stress, ein für ihn seltener Zustand, griff um sich. Dissoziative Anfänge stürzten hinab in assoziative Verwirrung und kulminierten dann irgendwann in den Fängen nostalgischer Melancholie. Gedankenschimären galoppierten, durchwaberten Schleiern gleich sein entfesseltes, unruhiges Bewusstsein und marterten in Summe mit handfesten Schmerzen seine kaputte Konstitution. Die Käfer wühlten sich unterdessen durch sein Abdomen, labten sich an den diversen Organen, folterten ihn in seiner eigenen Haut. Der Schmerz hämmerte als vielfarbiges Stroboskop. Er wanderte im Zwielicht. Unentwegt blitzten Erinnerungen und Erwartungen auf, abrupt, verbanden sich und drifteten davon, gemeinsam zwar, doch wahllos durcheinandergewürfelt. Sein sonst kontinuierlich und optimal unter Kontrolle gehaltener Leib nutzte den Ausnahmezustand ungehemmt aus. Das wilde Fleisch trumpfte auf, protzte mit sonst regulativ kompensierten Fehlern, erging sich in Marotten und Makeln. Es tat also schlicht, was es sonst nicht konnte, und überschüttete ihn schon seit einer subjektiven Ewigkeit – die sich objektiv auf exakt 95 Minuten, genau 17 Sekunden und gerundete 357 Millisekunden belief – mit einer exquisiten Auswahl an mitunter quälenden Symptomen. Physisch überwogen dabei bisher Juckreiz, Übelkeit, Kopf- und Gliedschmerzen, aber mit nahendem Niesen und beginnendem Augentränen kündigten sich gerade zwei Neuerungen in der gleichfalls unerwünschten wie unangenehmen Reihe an Leiden an. Früher hatte man dieses an sich unspezifische Syndrom als Technose beschrieben; damit meinte man einen instabilen Zustand, der sich bei Neumenschen aus unterschiedlichsten Gründen einstellte. Insbesondere nach dem Versagen eminenter Kernkomponenten trat gewiss Technose auf. Die Körper der durch und durch technisierten Menschen kannten kein autarkes Gleichgewicht, hatten in vielerlei Hinsicht verlernt, selbstständig zu funktionieren, zu leben, waren damit unfähig zur Homöostase geworden und kollabierten deshalb verschiedentlich. Dennoch waren Neumenschen langfristig robuster, langlebiger und leistungsfähiger, sodass der lebenslange Anreiz hoch genug gewesen war, die mitunter und nur mit Pech lebensbedrohlichen Risiken einzugehen. Nun erlebte er diese Kalamitäten am eigenen Leib, zahlte stellvertretend den Preis für den technologisch erzwungenen Evolutionssprung der Menschheit.

Vermutlich würde er also gleich wieder zum Blickfang aller werden. Ganz so, als ob er ein grotesker Clown in einem Zirkus der Absonderlichkeit wäre, der hier, in der nüchternen Sachlichkeit der Kabine, für den gemeinen Pöbel seine bizarren Kunststücke aufführte. Eine Posse für den Pöbel, dargeboten von einem Narren, der sich seit langem schon zum Magier gewandelt wähnte. Er hatte ein Faible für alte Esoteriken und spielte deshalb gerne mit solchen kuriosen Weltbildern; pflegte so den Umgang mit vormodernen Gedankengebäuden, jonglierte und kokettierte dabei munter mit ihren Begriffen und persiflierte rundheraus ihre kruden Ideologien – Tarot und die große Arkana beispielsweise.

Nunmehr reagierte er, deaktivierte per Mentalbefehl die künstliche Paralyse seiner Muskulatur, sonst würde er sich beim nächsten Technose-Schub womöglich unnötige Zerrungen, Hämatome oder dergleichen Ärgernisse zuziehen. Denn, was jetzt genau kommen würde, wusste er nicht und auf die üblichen Notfallmechanismen zur Schadensprävention wollte er sich hier und heute definitiv nicht mehr verlassen.

Schon passierte es; er stöhnte sofort laut auf; nieste daraufhin heftig, herzhaft, mehrfach: „Argh … Haaattschuu! … Haatschiiii! …“, so und ähnlich ging es die nächsten Minuten weiter. Glieder zuckten wild und Körpersäfte flossen ungehemmt, wurden daraufhin umständlich, dennoch effektiv beseitigt. Die ganze Zeit über ließ er seine Lider vor den salzdurchtränkten Augäpfeln, all den ungezügelten Tränen zum Trotz, weiterhin tunlichst geschlossen – diese anonymen Blicke! Sie sollten ihn eigentlich nicht interessieren, plagten ihn jetzt aber trotzdem zunehmend.

Die vielen Ionen in der unregulierten, natürlichen Tränenflüssigkeit schadeten einigen Augmentaten in den beiden Auge; aber was sollte er denn anderes tun als warten, hoffen und weiterhin befehlen. Entsprechend begannen die Augen nun auch spürbar zu schmerzen. Soweit es machbar war, leitete er den Überschuss an Tränenflüssigkeit über einen flexiblen Beipass in seinen Magen um, tat vom Nötigen damit aber nur das soeben und eingeschränkt Mögliche. Eigentlich müsste er jetzt eine gründliche Spülung der Augen vornehmen, ein neues Fluid herstellen und dieses letztlich applizieren, aber er war in seiner Körperkontrolle massiv eingeschränkt. Warum so kompliziert, rief er sich pragmatisch zur Räson und tat, was die Normalmenschen in solchen Fällen auch taten: Im Gegensatz zu ihnen weiterhin vom Außen isoliert, taub und blind, jedoch nicht mehr lahm, wischte er sich kurzerhand die überschüssigen Tränen einfach mit dem Ärmel seiner Adora weg, wobei das multifunktionale Nanitengewebe die Flüssigkeit zum Gros resorbierte und nahezu 100% der Materie für Xaver wiederverwertete.

Inzwischen hatte sein rebellischer Körper begonnen, hemmungslos zu jucken; dementsprechend kratzte er ihn unerbittlich. Versuchte es zunächst, dabei plump scheiternd, durch den mehr als solid zu nennenden Werkstoff der mehr als nur funktionalen Kleidung hindurch. Direkt aus der Starre heraus und gleich mal richtig tief rein in den Slapstick, dachte er nebenbei in einer Mixtur aus Selbstironie und ungewohnter Scham. Sollte er sich nun schlicht wieder sedieren und damit vor der Situation kapitulieren? Nein, er würde sich wehren! Also akzeptierte er den Zustand, dachte kurz nach und fuhr sodann mit der Hand durch die Ärmel unter die beigen Nanofasern seiner Kleidung, einer Tracht, die einer Mönchskutte gleich locker um seinen Körper fiel. Das intelligente Material weitete sich, sobald er in es hineingriff – es funktionierte also immerhin etwas. Der Juckreiz sprang unterdessen, als wollte er ihn verhöhnen, also disponierte er um. Er jagte ihn und kratzte, zaghaft und zerstreut zuerst, fixierte sich dann aber auf seinen Nacken. Seine Körperwahrnehmung transformierte schlagartig, Juckreiz unterlag heftiger Verspannung, krampfartig ansteigend. Dorthin, wo ihr Epizentrum lag, konnte er glücklicherweise gut mit seiner linken Hand gelangen; die Rechte hingegen war zwischenzeitlich taub geworden und deshalb derzeit nur mäßig hilfreich. Dergestalt gehandikapt massierte er sich noch eine Weile mit der Linken weiter – emsig, aber erfolglos; malträtierte dann zunehmend eine Stelle, weiter oben direkt am Haaransatz und rieb vehement dort, wo Juckreiz wieder die Oberhand zu gewinnen schien. Sollte er doch seine Nervenenden ausschalten, es zumindest optimistisch nochmals versuchen, das Problem augmental in den Griff zu bekommen? Es gab immerhin praktisch unendlich viele Optionen und Modifikationen, die er ausprobieren konnte, dazu bedurfte er nicht zwingend der Assistenz durch seine sieben Module oder gar des Zugangs zur Hyperrealität.

Das deutsche Wahlsystem, seine Tücken und die latente Lust am Politikverdruss



Mein erstes Mal quasi, mein erster bescheidener Beitrag zur politischen Bildung, ganz sachlich und nüchtern, ohne Kunst (und zunächst ohne Verben), aber mit ganz viel Information und einer ordentlichen Portion Kritik!

(@Metatext-Redaktion: FreudianFakeNews! Sachlich falsche Aussage unseres werten Autoren, da dessen verdrängter Anspruch, politisch zu sein und politisch zu bilden, vor einigen Jahren mehrfach in Beiträgen auftauchte und latent immer wieder durchscheint. Zumal die „Diskurse der Nacht“ eine eindeutige Sprache sprechen. Kurios!)

Das politische System der BRD, insbesondere dessen Wahlrecht, also steht heute zur Debatte, soweit, so (un)klar. Ob diese Themen bei Euch vitales Allgemeinwissen sind oder als angestaubter Schulstoff dahinsiecht – sei’s drum, ich erkläre es mal eben ungefragt: Verhältnis- plus Mehrheitswahlrecht, zwei Stimmen, die erste davon für die Personenwahl vor Ort im Wahlkreis, die zweite sodann für die (gefühlt je Partei ab Listenplatz zwei bis fünf abwärts effektiv „anonyme“) Listenwahl, verleihen dem Wähler Macht und Einfluss. Denn hierzulande ist das Volk der Souverän und übt diese Rolle vornehmlich aus, indem es seine Repräsentanten in allgemeiner, freier, gleicher, unmittelbarer und geheimer Wahl in den Berliner Bundestag wählt. Dort angekommen stellen die Gewinner, nach dem mittlerweile fast postideologischen (AFD und Linke mal ausgeklammert) Koalitionsgeschacher, das mitunter 20% der Legislaturperiode verschlingen kann, die Regierung, bestehend aus vielen Ministern und einem Kanzler. Neben dieser Exekutive beherrscht die Siegerkoalition in der Regel auch die Legislative, das tut sie durch einfache Mehrheit (>50%) im Parlament mithilfe von Gesetzgebung. Damit werden zwei von drei Gewalten direkt dem Wirken von Parteien bzw. der gleichen Koalitionsparteien ausgeliefert und die effektive Regierungsarbeit im Sinne des KgV der jeweilien Wähleraufträge und Wahlprogramme kann losgehen. Das Regieren geht solcherart weiter, bis in gut drei bzw. knapp vier Jahren wieder gewählt wird oder ein außergewöhnliches Ereignis eintritt.

Beispielsweise und nicht unwahrscheinlich kann ein effektiver Ungehorsam von Parlamentariern gegen die Praxis der sog. Fraktionsdisziplin und damit eine Ausübung der verbrieften Freiheit zur Gewissensentscheidung passieren oder eine fragile Koalition zerbricht an persönlichen Streitigkeiten oder ebensolchen Verfehlungen, woraufhin die Misstrauensfrage positiv beantwortet würde; eher unwahrscheinliche Gründe für vorzeitige Neuwahlen hingegen könnten Krieg, Revolution, Attentate oder Apokalypsen sein.

Schlimmstenfalls jedoch, weil sowohl tragisch als auch komisch, herrscht irgendwann eine „Demokratie, ohne Demos“ (leider vermag ich nicht mehr zu zitieren, von wem diese griffige Parole stammt), was schlichtweg bedeuten würde, dass Wahltag ist und niemand mehr hingeht. Auch wenn es ganz so schlimm wohl absehbar nicht kommen wird, aber gefühlt greift Politikverdrossenheit tendenziell bereits dieser Tage um sich und greift nach dem Herz jeder Demokratie – der Lust der Bürger an (Selbst-)Regierung. Wie komme ich dazu? Die Wahlbeteiligung bei der letzten Bundestagswahl betrug 75% und liegt regelmäßig unter 50% bei kommunalen sowie europäischen Urnengängen; Verschwörungswahn und postmoderne Verwirrung, Individualismus und Separatismus, Neo-Biedermeier und selektiver, manipulativer Medienkonsum sägen am Vertrauen gegenüber dem Politiker für sich und dem System der Politik an sich; Finanzkapitalismus, Globalisierung, Lobbyismus, Angst um den Arbeitsplatz und vor sozialem Abstieg lassen den marxschen Primat der Ökonomie vor der Politik als nicht eben unplausibele Einsicht erscheinen; der globale Siegeszug der Demokratie ist vorbei, Autokratie, Populismus und Fanatismus trump(f)en auf; zuletzt und vor allem erlebe ich Politikunlust bis Tabuisierung in vielen sozialen Milieus meiner eigenen Lebenswelt, seit Jahrzenten, hautnah und unsympathisch – die Zahl der Menschen, mit denen ich gepfelgt über Politik sprechen kann, ist klein, die Gelegenheit rar, in meiner Herkunftsfamilie herrscht ein thematisch einschlägiges Redeverbot gar, über das ich mich selbstredend notorisch hinwegsetze.

Glücklicherweise, kann man allen- und jedenfalls hoffen, gibt es gegenläufige Tendenzen und ambivalente Zukunftstrends, die ich hier aber aus rhetorischen Gründen unterschlage und performativ nur der Fairness halber pauschalisiert erwähne. Ach und ja, immerhin der drohende globale Umweltkollaps schafft es zunehmend und nachhaltig, die Menschheit zu aktivieren. Es geht hierbei aber ausdrücklich nicht um hehre politische Ideale, sondern um Sicherheit, ums Überleben und die schönde Stillung der eigenen, zukünftigen Grundbedürfnisse und Lebensgrundlagen.

Kommen wir von den spekulativen Höhenflügen über die politische Weltgeschichte hinweg zurück, wieder herauf aus den analytischen Niederungen der lebensweltlichen Demokratiekritik und insgesamt zurück zum Artikelanlass, dem politischen (Wahl-)System, das unser verfassungsmäßig garantiertes Mittel und generelles Medium der Politik ist: Dabei ist – zu allem Überfluss beim politischen Verdruss – die Sache mit dem Wählen im Detail dann doch nicht so einfach, so unschuldig; denn die Logik des Wahlsystems kann bisweilen sogar paradoxe Resultate zeitigen und auf den Schwachsinn mit den Überhangmandate will selbst ich bei aller Politik- und Schreiblust nicht mehr erklärend eingehen.

Es grüßt, diskursiv umnachtet und politisch erhellend, Euer Satorius


Die Verteilung der Mandate auf die Parteien entsprechend dem Verhältnis der Summen der Wählerstimmen darf im Grundsatz nicht dazu führen, dass die Sitzzahl einer Partei erwartungswidrig mit der auf diese oder eine konkurrierende Partei entfallenden Stimmenzahl korreliert (Effekt des negativen Stimmgewichts). Es ist zwar ohne Weiteres einsichtig, dass als mathematisch unausweichliche Folge eines jeglichen Verteilungsverfahrens (vgl. dazu BVerfGE 95, 335 <372>) einzelne Stimmen sich nicht zugunsten einer Partei auswirken können. Ein Sitzzuteilungsverfahren, das ermöglicht, dass ein Zuwachs an Stimmen zu Mandatsverlusten führt, oder dass für den Wahlvorschlag einer Partei insgesamt mehr Mandate erzielt werden, wenn auf ihn selbst weniger oder auf einen konkurrierenden Vorschlag mehr Stimmen entfallen, widerspricht aber Sinn und Zweck einer demokratischen Wahl (vgl. BVerfGE 121, 266 <299 f.>). Solche widersinnigen Wirkungszusammenhänge zwischen Stimmabgabe und Stimmerfolg beeinträchtigen nicht nur die Wahlrechtsgleichheit und Chancengleichheit der Parteien, sondern verstoßen auch gegen den Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl, da es für den Wähler nicht mehr erkennbar ist, wie sich seine Stimmabgabe auf den Erfolg oder Misserfolg der Wahlbewerber auswirken kann (BVerfGE 121, 266 <307>).

Bundesverfassungsgericht, Urteil des Zweiten Senats vom 25. Juli 2012 – 2 BvE 9/11 – Rn. (1-164), S. 86 (Direktlink)


Das Wahlsystem, in dem Elemente der Verhältnis- und der Mehrheitswahl über drei Ebenen (Wahlkreis, Land, Bund) kombiniert werden, ist insbesondere durch die anfallenden Überhangmandate wenig durchsichtig. Zudem motiviert es wegen der starren Kandidatenlisten Kandidierende sowie Wählerinnen und Wähler weit weniger zur Beteiligung, als dies in einer vitalen Demokratie wünschenswert wäre. Angesichts dieser fundamentalen Mängel des geltenden Wahlsystems und der gewachsenen Distanz zwischen Bevölkerung und Staat erscheint eine demokratische Wahlreform überfällig. Diese könnte ein erster Schritt dazu sein, verlorengegangenes Vertrauen in die repräsentative Demokratie wiederzugewinnen. Eine Chance hierzu bietet sich dadurch, dass das Bundesverfassungsgericht den Deutschen Bundestag aufgefordert hat, das Bundeswahlgesetz bis zum 30. Juni 2011 so zu ändern, dass keine negativen Stimmgewichte mehr entstehen können. [6] Voraussetzung einer solchen Reform wäre allerdings eine öffentliche Wahlsystemdiskussion. Die Bundestagsparteien behandeln die Problematik aber offensichtlich bisher so geheim wie möglich, mit dem Ziel, mit minimalen wahlrechtlichen Reparaturen über die Runden zu kommen; ja, allem Anschein nach fürchten sie eine öffentliche Diskussion über Wahlrechtsfragen. Die Sensibilität der Bevölkerung und der Medien für das problematische Verhältnis zwischen Bürgerinnen und Bürgern und dem Parteienstaat ist allerdings gewachsen. Zudem besteht ein Interessenkonflikt zwischen den Parteien darüber, wie negative Stimmgewichte beseitigt werden sollen: Während insbesondere CDU und CSU von der Erhaltung von Überhangmandaten profitieren, werden die anderen Parteien durch Überhangmandate benachteiligt. An diesem Interessenkonflikt scheiterte im Frühjahr 2009 der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen, das Problem durch die bundesweite Verrechnung von Überhangmandaten mit Listenmandaten derselben Partei zu lösen. [7] Umgekehrt treffen unionsnahe Optionen auf breiten Widerspruch, unverbundene Landeslisten einführen zu wollen, so dass keine negativen Stimmgewichte mehr anfallen, aber alle Überhangmandate erhalten bleiben. Hiermit wären nämlich nicht nur alle kleineren und mittleren Parteien benachteiligt; auch das auf die Annahme eines Staatsvolks gegründete Staatsverständnis der Bundesrepublik würde in Frage gestellt. Zudem ergäben sich andere normative und organisatorische Probleme, etwa mit Bezug auf die Handhabung der Fünfprozenthürde der Stimmenverrechnung. Ähnliche Probleme stellen sich Kompromissentwürfen einer schonenden Problemlösung. [8] Diese schließen negative Stimmgewichte nicht völlig aus, erfüllen insofern also nicht die Auflage des Bundesverfassungsgerichts, produzieren aber neue normative Komplikationen: So würde etwa nicht mehr jeder Wahlkreis durch den jeweiligen Wahlsieger im Parlament repräsentiert. Das Bundeswahlgesetz sollte daher nicht nur reformiert werden, um neues Vertrauen in den demokratischen Staat zu gewinnen; es geht auch darum, ein normatives und wahlrechtspolitisches Chaos zu vermeiden.
6. Vgl. www.bundesverfassungsgericht.de/entscheidungen/cs20080703_2bvc000107.html (2.12.2010).
7. Bundestagsdrucksache 16/885, online: http://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/16/118/1611885.pdf (2.12. 2010).
8. Vgl. Kai-Friederike Oelbermann/Friedrich Pukelsheim/Matthias Rossi/Olga Ruff, Eine schonende Verbindung von Personen- und Verhältniswahl zum Abbau negativer Stimmgewichte bei Bundestagswahlen. Institut für Mathematik, Universität Augsburg 2010, online: http://opus.bibliothek.uni-augsburg.de/volltexte/2010/1636/pdf/mpreprint_10_011.pdf (2.12.2010).

Volker von Prittwitz (1950 – ), Hat Deutschland ein demokratisches Wahlsystem? (Direktlink; vom 18.01.2011)

Astro(nomie)-Trip

Wer sind wir schon wir winzigen Menschlein? Nichts und nichtig, verglichen mit der Unendlichkeit des uns umgebenden Alls! So unbedeutend und zugleich zerbrechlich, sterblich und bedürftig zumal, dass starkes Selbstvertrauen und jedwede (meist verdeckte, versteckte) Form des Narzissmus wie heftigste Realitätsverleugnung daherkommen. Kosmisch gesehen sind wir „Firlefanz“, wie ein Freund kürzlich treffend bemerkte, Tand,  oder aber freundlich-positiv im Gegenteil ausgedrückt: Ornament, Zierde, Singularität – in Größe, Mächtigekeit und degleichen Machokategorien aber sind und bleiben wir die Opfer der kosmischen Hackordnung.

Dennoch, genau deshalb, wegen Einzigartigkeit, Vielfalt, Vergänglichkeit, Veränderlichkeit, Freiheit und Kreativität sind unsere Existenzen wenn auch winzig, zugleich so unglaublich kostbar, ist insbersondere auch Liebe zum Leben, der Eros Freuds, mehr als ein dahingesäuselte Leerformel. Ob diese tiefe Wertschätzung sich selbst, seinen Freunden, der Familie oder gar der Menschheit gilt, ist hierbei höchstens zweitrangig, denn all diese Formen der (potentiellen) Brillanz erhebt uns über jede bloße Quantität. In der Singularität eines jeden Menschenlebens liegt eine der unermesslichsten Qualitäten. Wir sind zudem physisch-psychische Doublette, ein aus elementarem Stoff(-gemisch) zusammengesetzes Ding, das potentiell aus den gleichen Atomen – vertraut man denn dem Model der modernen Physik bis hinuter auf die ontologischen-existenzielle Ebene – besteht wie all die anderen Entitäten der belebten und unbelebten Natur um uns herum: Steine, Sand, selbst die Sonne, zugleich Staphylokokken, Salamander und Sojaschnitzel und so weiter…

Genug geschleimt, jetzt reicht es, schluss mit dem Narzissmus! Schluss also mit der sanften Seelenmassage, zurück zum realistisch-faktenharten Eingangston: Wir sind aus Sternenstaub – ja! So lyrisch schön und zugleich naturwissenschaftlich zutreffend diese Aussage auch sein mag, so ethisch unermesslich, neural komplex und ontologisch hervorragend (intelligentes) Leben auch immer sein mag, wir sind: bloßer Staub. Verglichen mit den abstrakten, unvorstellbar gigantischen Dimensionen dessen, was zuvor die Philosophen noch schwärmerisch und nach ihnen nun auch die modernen Wissenschaftler tendenziell nüchtern-elegant Universum oder Kosmos genannt haben, sind wir aus nur Marginalien, kleine Lichter in einem Meer aus strahlenden Sternen, in einem Ozean aus gleißenden Galaxien und – hier bricht zwangsläufig jeder Hauch von Poesie – in einer Masse an (Super- & Mega-)Haufen.

Trotz aller unbestreitbaren Vorzüge der Erde und der sie bewohnenden Menschheit reicht bereits ein flüchtiger Seitenblick auf die realitve Skalierung unseres eigenen kleinen Planeten im kosmischen Kontext, um uns eine Lehre in Mäßigung und Demut zu erteilen. Zwei Tugenden, sehr alte Tugenden, die dieser Tage etwas aus der Mode gekommen sind, jedoch nur dann schädlich werden können, wenn man es mit ihnen moralisch übertreibt und sie predigt – Stichwort: (Welt-)Religionen. Die Tiefgläubigen unter uns sind deshalb auch gut gewappnet für die anstehende Reise, können einfach die Schönheit der Schöpfung geniesen, entdecken in ihr womöglich das Werk oder die Präsenz ihrer Konfession der Wahl oder des nachgeburtlichen Zufalls. Jeder (naive) Narzisst jedenfalls und/oder anderweitig Selbstwerbeschädigte sei hier vorsorglich sowie ausdrücklich gewarnt: Die tröstende Passage war kalkuliert platziert, von nun an wird wieder hart und heftig desillusioniert.

Zuvor aber noch eine ernsthafte Frage, eine durchaus rhetorische Frage, deren dennoch bemühte Beantwortung für Euch im Laufe dieses Artikels noch frappant bis brisant werden könnte: Wo befindet Ihr euch gerade? Eine simpel scheinende Frage, nicht wahr? Denkt kurz definitotrisch darüber nach und merkt Euch eure Antwort gut, insbesondere die Maße und Relationen, die das „Wo?–>Da!“ begleiten, und die vermutlich im Gros durch die Einheiten Meter und Kilometer oder mal mit Bezügen zur Erde oder sogar Sonne ausgefallen sein dürfen. Haltet Euch daran gedanklich fest.

Los geht’s also – bloß nicht festhalten! Hier und jetzt – wo und wann das bei Euch auch immer sein mag – beginnt der demütige Astro-Trip. Genau über eurem aktuellen Standort, knapp oberhalb unserer alltäglichen Lebenswelt starten wir, hinfort aus dem Alltag streben wir sogleich, weg von der Erde, hinaus in die Weiten des Weltalls (- ein, wie ich finde, guter Anwärter auf den Titel „Schönstes Wort der deutschen Sprache“). Wir verlassen dafür also zunächst rasch den Bereich unserer leiblich-wirklichen Sinnenumwelt – Meter Adé! Beinahe sofort, nach nur wenigen Sekunden Denkweg, landen wir fern der Anschauung bereits im reinen Denken. Dergestalt führt uns die eingeschlagene Reiseroute direkt hinein in und durch die Elfenbeintürme von Astronomie, Physik und Chemie. Eben noch standen/saßen/lagen wir im Arbeitszimmer/Bett/Wohnzimmer und fragten uns, wo wir sind oder was ich eigentlich von Euch will; vielleicht aber stellt Ihr euch auch schon vor, wie es dort droben wohl tatsächlich ist, da draußen in unserem heimischen Sonnensystem, der lieben Heimatgalaxis Milchstraße oder wagt euch noch weiter nach draußen in ein ominöses, unverschämtes und unbekanntes Universum.

Jetzt aber wirklich los und schwupps: Rocketjump! Mental rauschen wir ungehindert nach oben in den Himmel, kurz hinein in die Vogelperspektive, dann aber wird es plötzlich arg transzendent, deshalb lasse ich hier populärwissenschaftliche Grafiken für sich sprechen, deren Fund im letzten Jahr diesen Artikel hier überhaupt erst ausgelöst hat. Denn die Regionen, die wir betreten, in die wir uns wagen wollen, sind wie gesagt bloß noch vermittelt ansatzweise vorstellbar, eine nur durch Darstellung zugängliche Sphäre von Begriffen und Modellen, welche auf Messung, Gesetzen und gelehrten Spekulationen beruhen.

Bis (oder sogar ob jemals) eines Menschen Auge dieses atemberaubende All autonom erblicken wird, kann noch äonenlang leise-hallende, von fern her klingende Zukunftsmusik geduddelt werden. Derweil vergnügen wir uns mit hübschen Bildern plus klaren und erhellenden Grafiken, während wir uns unterdessen davor hüten sollten, diese Dimension wirklich verstehen, fühlen und begreiffen zu wollen. Es sei denn, wir staunen, oder, wie zuvor gespöttelt, wir erkennen in allem Folgenden das Wirken unseres Gottes, unserer Götter – dann nur zu: Euch allen wünsche ich gleichsam „bon voyage“!

1. Etappenziel: Die Grenzen unseres Heimatplaneten = Erde


Andrew Z. Colvin, Earth’s Location in the Universe (4. April, 201
Markus D., Luftschichten der Erde auf www.nfo-wetter-pohlheim.de (Link zur Originaldatei)

2. Etappenziel: Das heimische Planetensystem = Sonnensystem

Andrew Z. Colvin, Earth’s Location in the Universe (4. April, 2012)

3. Etappenziel: Die Nachbarsterne im galaktischen Spiralarm = Orion-Arm

Andrew Z. Colvin, Earth’s Location in the Universe (4. April, 2012)

4. Etappenziel: Unsere spiralarmige Heimatgalaxis = Milchstraße

Andrew Z. Colvin, Earth’s Location in the Universe (4. April, 2012)

5. Etappenziel: Unser angestammter Galaxien-Haufen = Lokale Gruppe

Andrew Z. Colvin, Earth’s Location in the Universe (4. April, 2012)

6. Etappenziel: Der Haufen der Haufen = Virgo-Superhaufen

Andrew Z. Colvin, Earth’s Location in the Universe (4. April, 2012)

7. Etappenziel: Der heimliche (Mega-)Superhaufen = Lanaikea

Andrew Z. Colvin, Earth’s Location in the Universe (4. April, 2012)

8. Etappenziel: Das Ende unserer Reise, die Grenzen der Ausdehnung (oder der Vermittlung)


Andrew Z. Colvin, Earth’s Location in the Universe (4. April, 2012

8. – 1. Die zurückgelegte Reiseroute im schonungslos ungeschönten Rück- und Überblick


http://www.astro.princeton.edu/universe/

Wow, was für ein Trip! Wenn wir, am Ziel angekommen, dann so im Nichts rumstehen, außerhalb des sich angeblich seit dem Urknall ausdehnenden Universums rumlungern, dann könnten wir hochgerechnet 70 Trilliaden (7*10²²=70000000000000000000000) Sterne gleichzeitig im Blick haben und aus selbigem verlieren. So jedenfalls das Paradigma der modernen Naturwissenschaft, keine Rede dort von Unendlichkeit, nur von super, mega, giga gigantisch großen Zahlen und Dimensionen.

Gemäß besagtem Weltbild ist die Geschichte von allem rasch erzählt, in einer exorbitanten Stauchung erzählter Zeit auf kaum eine Minute Lesezeit: Einst war alles in einem Punkt vereint – die sog. Singularität; dann passierte irgendwas seltsames, es wurde schief und krum, Zeit und Raum begannen – der sog. Urknall; in Raum und Zeit expandierte sodann die zuvor im Knall entstandene Materie, formte sich aus, erkaltete und differenzierte sich aus; bildete daraufhin nach und nach neue Formen, wie Sterne und Planeten, aber auch Schwarze Löcher und Dunkle Materie; brachte nunmehr an freundlichen Orten wie Mutter Erde (und womöglich auch dazwischen) allerlei Leben in seinen abgefahrensten Varianten und Variationen hervor; und schließlich evolutionierte alles Leben und das All expandierte glücklich bis ans Ende seiner Tage, wobei die Debatte über das Ende der Geschichte unter uns Erdenkindern derzeit offen bis kontrovers geführt wird.

Wir Sucher jedenfalls mäßigen uns demütig, werden still vor dem Antlitz des Alls und Angesichts unserer zuvor gegeben, nunmehr klein und irrelevant scheinenden Antwort auf die Frage „Wo?“; wir sind in der gefühlten und ungewissen Unendlichkeit gestrandet, sprechen von Myriaden und messen bei weitem nicht mehr in Metern, sondern in abstrakten, namenlosen Maßeinheiten. Die Äonen aber, die Zeit hingegen blieb stumm und wird das auch bleiben; wo doch schon der Raum uns derart überwältigt, würden die Untiefen der Zeit unseren Horizont wohl endgültig sprengen. Trösten wir uns also mit den warmen Worten vom Beginn, versichern uns somit gleichsam unseres Wertes, verbürgt durch unsere ganz persönliche Singularität; oder einfach dadurch, dass das All schlich unt einfach schön ist. Die Vorstellung zuletzt, dass unsagbar viele Lebewesen überall im All sich gleiche und ähnlich Fragen stellen oder nicht stellen, ist ebenfalls relativierend und kompensierend, Anker und Hafen zugleich.

Was auch immer das Weltall und der Rest im Kern auch sein mögen, gilt: Heilig sind die wortlos Staunenden, seelig noch die, die geflissentlich Gewissheit suchen, verflucht jedoch diejenigen, welche kosmische Wahrheit(en) ihr eigen nennen – ob sie Theologen, Astrologen oder Astronomen sein mögen, den Theos, Logos oder Nomos, also Gott, Sinn oder Gesetz gefunden zu haben glauben! Denn auch wenn mir die Gesetzessuche der Astro-Nomie durchaus sympathisch ist, sich zudem sehr viel mehr Mühe bei der Überzeugungsarbeit seiner Gläubigen gibt und sogar Selbstkritik übt und kultiviert, verbleibe ich in kindlichem Staunen über die große weite Welt des Weltalls – Demut und Maß hin oder her!

In agnostisch-atheologischer Neugier, Euer spätnächtlicher Sternenkucker Satorius

#MCE9@Platon, Escher und der Klimawandel …

Maurits Cornelis Escher (1898 – 1972), Order and Chaos (1950; Lithografie)




Weit sind sie gekommen die Freunde der Ordnung. Seit Platons Zeiten sind gute 2,5 Jahrtausende vorübergegangen und der Mensch hat seine Ordnung über den ganzen Globus ausgebreitet. Die Menschheit hat dadurch aber ebenfalls ein nicht zu verleugnendes Maß an Unordnung gestiftet. Zumal ist die Weltordnung (historisch plus ökonomisch, politisch, sozial, usw. usf.) im steten Wandel.

Chaos also allenthalben. Erst ist die Ordnung und dann kommt unweigerlich, obsiegt am Ende doch noch das Chaos – „Order and Chaos …“, not „Chaos and Order …“ -, und sie lebten chaotisch bis ans Ende ihres Textes.

Genau das, den kognitiven Primat und damit menschlichen Narzissmus einer vernünftigen Ordnung als Prinzip des Bewusstseins, das sich aber letztlich reflexiv (und jenseits egalitärer Dialektik) der Unordnung der Wirklichkeit, des Nichtwissens über die Welt bewusst wird und schlussendlich so dem Ultimat des Chaos unterwirft, lese ich in #MCE9 herein. Wird doch das Symbol des europäischen Rationalismus schlechthin, die leicht sphärisch-variierten fünf platonischen Körper, von allerlei Profanem und Banalem aus allen Menscheitszeitaltern bedrängt, förmlich eingekreist und belagert; dadurch wird das ordentliche Objekt im Zentrum ästhetisch wie logisch vom (Bild-)Äußeren her in seiner zählbaren Endlichkeit durch eine chaotische Unendlichkeit überfordert.

Interpretation hin oder her, Fakt ist, dass Wissenschaft und Politik nach Platon auch ohne Philosophenkönige viele Erfolge gegen das Chaos errungen haben, nun aber zivilisatorisch aufs neue heraus- und hoffentlich nicht überfordert werden. Nicht irgendein beliebiges, besonderes Objekt, sei es im Detail noch so einzigartig und damit alles andere als platonisch einfach zu abstrahieren, fordert den Glauben an die vernünftige Ordnung der (menschlichen) Dinge heraus, sondern eine komplexe Relation, die ihrerseits zum Gegen-Symbol der Ordnung geworden ist: das chaotische System namens Klima. Dessen konkrete Realisation – das Wetter – vermag auch schon mal einen, zugegeben nicht eben hellen Präseidenten intellektuell zu überfordern. Die globale politische Lösung der hausgemachten Klimaproblematik hingegen würde vermutlich auch einen Platon und all seine imaginierten Philosophenkönige ordentlich ins Schwitzen bringen.

Was würde Platon, was Escher zum Klimawandel, insbesondere zur sich derzeit abzeichnenden zivilisatorischen Ohnmacht, wohl zu sagen haben, welche Ideen und Lösungsansätze würden sie ersinnen? Der Rest ist Schweigen …!

Das alles kann passieren, wenn man mitnächtlich munter anfängt, Kunst zu interpretieren: Das Denken kommt in Bewegung und nimmt Fahrt auf, windet sich in Spiralen und Serpentinen hinauf, hinab und jedenfalls hinfort vom gegebenen Kunstwerk und dessen materieller (oder in unserem Fall: virtueller) Faktiztität. Die mehr oder minder kreative, mehr oder weniger assoziative Fiktion, die am Ende herauskommt, ist nicht beliebig, jedoch ziemlich chaotisch durch die Person und Situation des Rezipienten kompliziert. Denn was Escher im Sinne hatte, als er „… und Chaos“ nach „Ordnung“ titelte oder als er zufällig mit 15 eine ungerade Anzahl an vermeintlichen Chaos-Exempeln um das platonische Zentrum herum gruppierte, ist trivialerweise unbestimmt; aber ebenso auch irrelevant, wie zudem Platons Antworten; denn wir sind es, die Anworten finden können, verantworten müssen.

Kunst ist und bleibt ein Kalleidoskop des Denkens (und natürlich Fühlens). Deshalb freue ich mich derart über die heutige Wiedererweckung des Formates Lichtrausch, dass ich nicht umhin konnte, entgegen meiner bisherigen Devise der interpretatorischen Zurückhaltung, auch mal wild auf ein Werk ein-zu-interpretieren: von Escher zum Klimawandel – immer wieder illuster, wo so ein Spaziergang auf einem der potentiell unendlichen Denkwege durch das mentale Chaos endet!

Euer lichtberauschter, nächtlicher Mental-Flaneur, Satorius

KGdM feat. Homo Deus: Harari’s History

Vor rund 13,5 Milliarden Jahren entstanden Materie, Energie, Raum und Zeit in einem Ereignis namens Urknall. Die Geschichte dieser grundlegenden Eigenschaften unseres Universums nennen wir Physik.

 

 

Etwa 300000 Jahre später verbanden sich Materie und Energie zu komplexeren Strukturen namens Atome, die sich wiederum zu Molekülen zusammenschlossen. Die Geschichte der Atome, Moleküle und ihrer Reaktionen nennen wir Chemie.

 

 

Vor 3,8 Milliarden Jahren begannen auf einem Planeten namens Erde bestimmte Moleküle, sich zu besonders großen und komplexen Strukturen zu verbinden, die wir als Organismen bezeichnen. Die Geschichte dieser Organismen nennen wir Biologie.

 

 

Und vor gut 70000 Jahren begannen Organismen der Art Homo sapiens mit dem Aufbau von noch komplexeren Strukturen namens Kulturen. Die Entwicklung dieser Kulturen nennen wir Geschichte.

 

 

Die Geschichte der menschlichen Kulturen wurde von drei großen Revolutionen geprägt. Die kognitive Revolution vor etwa 70000 Jahren brachte die Geschichte überhaupt erst in Gang. Die landwirtschaftliche Revolution vor rund 12000 Jahren beschleunigte sie. Und die wissenschaftliche Revolution, die vor knapp 500 Jahren ihren Anfang nahm, könnte das Ende der Geschichte und der Beginn von etwas völlig Neuem sein. Dieses Buch erzählt, welche Konsequenzen diese drei Revolutionen für den Menschen und seine Mitlebewesen hatten und haben.

 

 

Menschen gab es schon lange vor dem Beginn der Geschichte. Die ersten menschenähnlichen Tiere betraten vor etwa 2,5 Millionen Jahren die Bühne. Aber über zahllose Generationen hinweg stachen sie nicht aus der Vielzahl der Tiere heraus, mit denen sie ihren Lebensraum teilten. Wenn wir 2 Millionen Jahre in die Vergangenheit reisen und einen Spaziergang durch Ostafrika unternehmen könnten, würden wir dort vermutlich Gruppen von Menschen begegnen, die äußerlich gewisse Ähnlichkeit mit uns haben. Besorgte Mütter tragen ihre Babys auf dem Arm, Kinder spielen im Matsch. Von irgendwoher dringt das Geräusch von Steinen, die aufeinandergeschlagen werden, und wir sehen einen ernst dreinblickenden jungen Mann, der sich in der Kunst der Werkzeugherstellung übt. Die Technik hat er sich bei zwei Männern abgeschaut, die sich gerade um einen besonders fein gearbeiteten Feuerstein streiten; knurrend und mit gefletschten Zähnen tragen sie eine weitere Runde im Kampf um die Vormachtstellung in der Gruppe aus. Währenddessen zieht sich ein älterer Herr mit weißen Haaren aus dem Trubel zurück und streift allein durch ein nahe gelegenes Waldstück, wo er von einer Horde Schimpansen überrascht wird.

 

 

(Kapitel 1: Ein ziemlich unaffälliges Tier)


 

Vor 70000 Jahren war der Homo sapiens ein unbedeutendes Tier, das in einer abgelegenen Ecke Afrikas seinem Leben nachging. In den folgenden Jahrtausenden stieg es zum Herrscher des gesamten Planeten auf und wurde zum Schrecken des Ökosystems. Heute steht er kurz davor, zum Gott zu werden und nicht nur die ewige Jugend zu gewinnen, sondern auch göttliche Macht über Leben und Tod. Leider hat die Herrschaft des Sapiens bislang wenig hinterlassen, auf das wir uneingeschränkt stolz sein könnten. Wir haben uns die Umwelt untertan gemacht, unsere Nahrungsproduktion gesteigert, Städte gebaut, Weltreiche gegründet und Handelsnetze errichtet. Aber haben wir das Leid in der Welt gelindert? Wieder und wieder bedeuteten die massiven Machtzuwächse der Menschheit keine Verbesserung für die einzelnen Menschen und immenses Leid für andere Lebewesen.

 

 

Trotz unserer erstaunlichen Leistungen haben wir nach wie vor keine Ahnung, wohin wir eigentlich wollen, und sind so unzufrieden wie eh und je. Von Kanus sind wir erst auf Galeeren, dann auf Dampfschiffe und schließlich auf Raumschiffe umgestiegen, doch wir wissen immer noch nicht, wohin die Reise gehen soll. Wir haben größere Macht als je zuvor, aber wir haben noch immer keine Ahnung, was wir damit anfangen wollen. Schlimmer noch, die Menschheit scheint verantwortungsloser denn je. Wir sind Selfmade-Götter, die nur noch den Gesetzen der Physik gehorchen und niemandem Rechenschaft schuldig sind. Und so richten wir unter unseren Mitlebewesen und der Umwelt Chaos und Vernichtung an, interessieren uns nur für unsere eigenen Annehmlichkeiten und unsere Unterhaltung und finden doch nie Zufriedenheit.

 

 

Gibt es etwas Gefährlicheres als unzufriedene und verantwortungslose Götter, die nicht wissen, was sie wollen?

 

 

(Nachwort)

 

 

Yuval Noah Harari (1976 – ), Eine kurz Geschichte der Menschheit (2011), passim


Alles begann vor etwa 70.000 Jahren, als die kognitive Revolution die Sapiens in die Lage versetzte, über Dinge zu sprechen, die nur in ihrer Vorstellungswelt existierten. In den folgenden 60.000 Jahren flochten sie zahlreiche fiktionale Netze, doch diese blieben klein und lokal begrenzt. Der Geist eines verehrten Ahnen, der vom einen Stamm angebetet wurde, war bei den Nachbarn völlig unbekannt, und Muscheln, die an einem Ort wertvoll waren, wurden wertlos, sobald man die nächste Bergkette überquert hatte. Geschichten über die Geister von Ahnen und wertvolle Muscheln verschafften den Sapiens durchaus einen enormen Vorteil, weil sie es Hunderten und mitunter sogar Tausenden von ihnen ermöglichten, effektiv zusammenzuarbeiten, wozu Neandertaler oder Schimpansen nicht in der Lage waren. Doch solange die Sapiens Jäger und Sammler blieben, konnten sie nicht wirklich massenhaft kooperieren, denn es war schlicht unmöglich, eine Stadt oder ein Königreich allein mit Jagen und Sammeln zu ernähren. Folglich waren die Geister, Feen und Dämonen der Steinzeit relativ schwache Wesenheiten.

 

 

Die landwirtschaftliche Revolution, die vor ungefähr 12.000 Jahren begann, lieferte die erforderliche materielle Grundlage, um die intersubjektiven Netzwerke zu vergrößern und zu stärken. Der Ackerbau ermöglichte es, Tausende von Menschen in dicht besiedelten Städten und Tausende von Soldaten in disziplinierten Armeen zu ernähren. Doch dann standen die intersubjektiven Geflechte vor einer neuen Hürde. Um die kollektiven Mythen zu bewahren und massenhafte Kooperation zu organisieren, setzten die frühen Bauern auf die Datenverarbeitungsfähigkeiten des menschlichen Gehirns, und die waren nun einmal recht begrenzt.

 

 

Bauern glaubten an Geschichten über große Götter. Für ihren Lieblingsgott errichteten sie Tempel, zu seinen Ehren hielten sie Feste ab, sie brachten ihm Opfer dar und ließen ihm Land, Getreide und Geschenke zukommen. In den ersten Städten im antiken Sumer, vor rund 6000 Jahren, waren die Tempel nicht nur Zentren der Anbetung, sondern auch die wichtigsten politischen und ökonomischen Knotenpunkte. Die Götter der Sumerer erfüllten eine ähnliche Funktion wie moderne Marken und Unternehmen. Heute sind Unternehmen fiktive juristische Personen, die über Eigentum verfügen, Geld verleihen, Arbeitnehmer beschäftigen und ökonomische Risiken eingehen. In den antiken Städten Uruk, Lagasch und Schuruppak fungierten die Götter als solche Rechtspersonen, die Felder und Sklaven besitzen, Kredite vergeben und aufnehmen, Löhne bezahlen und Dämme sowie Kanäle bauen konnten.

 

 

(Kapitel 4: Geschichtenerzähler)

 

 

[…]

 

 

Vor 70.000 Jahren veränderte die kognitive Revolution des Geist des Sapiens und machte damit aus einem unbedeutenden afrikanischen Affen den Herrscher der Welt. Der verbesserte Geist des Sapiens hatte plötzlich Zugang zum riesigen Bereich des Intersubjektiven, was uns in die Lage versetzte, Götter und Unternehmen zu schaffen, Städte und Imperien zu errichten, die Schrift und das Geld zu erfinden und schließlich das Atom zu spalten und zum Mond zu fliegen. Soweit wir wissen, resultierte diese weltbewegende Revolution aus ein paar kleinen Veränderungen in der DNA des Sapiens und einer geringfügigen Neuverdrahtung im Gehirn. Wenn das so ist, so der Techno-Humanismus, reichen ein paar weitere Veränderungen in unserem Genom und eine weitere Neuverschaltung unseres Gehirns aus, um eine zweite kognitive Revolution ins Werk zu setzen. Die geistigen Neuerungen der ersten kognitiven Revolution verschafften Homo sapiens Zugang zum Bereich des Intersubjektiven und machten uns zu Herrschern über den Planeten. Eine zweite kognitive Revolution könnte Homo deus Zugang zu unvorstellbaren neuen Sphären verschaffen und uns zu Herren der Galaxie erheben.

 

 

Diese Idee ist eine aktualisierte Variante der alten Träume des evolutionären Humanismus, der schon vor einem Jahrhundert die Schaffung von Übermenschen forderte. Doch während Hitler und sein Gefolge solche Übermenschen mit Hilfe von Zuchtwahl und ethnischer Säuberung produzieren wollten, hofft der Techno-Humanismus des 21. Jahrhunderts, dieses Ziel weitaus friedlicher zu erreichen, nämlich mit Hilfe von Gentechnik, Nanotechnologie und Schnittstellen zwischen Gehirn und Computer.

 

 

(Kapitel 10: Der Ozean des Bewusstseins)

 

 

[…]

 

 

Kombiniert man die praktische Fähigkeit, den Geist zu manipulieren, mit unserer Unkenntnis des mentalen Spektrums und den eng gefassten Interessen von Regierungen, Armeen und Unternehmen, sind Probleme vorprogrammiert. Es könnte gut sein, dass wir unsere Körper und unsere Gehirne erfolgreich optimieren, dabei aber unseren Geist verlieren. Tatsächlich könnte der Techno-Humanismus die Menschen am Ende «downgraden». Denn das System dürfte zurückgestufte Menschen bevorzugen, nicht weil sie über irgendeinen übermenschlichen Knacks verfügen, sondern weil es ihnen an einigen wirklich störenden menschlichen Eigenschaften fehlen würde, die das System behindern und es verlangsamen. Wie jeder Bauer weiß, sorgt üblicherweise die schlauste Ziege für die größten Probleme, weshalb zur landwirtschaftlichen Revolution auch gehörte, die mentalen Fähigkeiten der Tiere zu beschneiden. Die zweite kognitive Revolution, von der Techno-Humanisten träumen, könnte das Gleiche mit uns machen, indem sie menschliche Verwandte produziert, die effektiver als je zuvor kommunizieren und Daten verarbeiten, aber nicht wirklich achtsam sein, träumen oder zweifeln können. Über Millionen von Jahren waren wir Schimpansen in verbesserter Ausführung. In Zukunft könnten wir zu Ameisen in Übergröße werden.

 

 

(Ich rieche Angst)

 

 

[…]

 

 

Die normalen Wähler spüren allmählich, dass ihnen der demokratische Mechanismus keine Macht mehr verschafft. Die Welt rings um sie herum verändert sich, und sie verstehen nicht, wie und warum das alles geschieht. Die Macht verschiebt sich weg von ihnen, aber sie können nicht sagen, wohin sie verschwunden ist. In Großbritannien glauben sie, die Macht sei an die EU übergegangen, und so stimmen sie für den Brexit. In den USA bilden sich die Wähler ein, das «Establishment» habe alle Macht an sich gerissen, und so unterstützen sie Anti-Establishment-Kandidaten wie Bernie Sanders und Donald Trump. Die traurige Wahrheit ist, dass niemand weiß, wo all die Macht hin ist. Fest steht nur: Sie wird nicht zu den gewöhnlichen Wählern zurückkehren, wenn Großbritannien aus der EU austritt oder Donald Trump ins Weiße Haus einzieht.

 

 

Das heißt nicht, dass wir in Diktaturen im Stile des 20. Jahrhunderts zurückfallen werden. Autoritäre Regime scheinen vom Tempo der technologischen Entwicklung und der Geschwindigkeit sowie der Menge des Datenflusses gleichermaßen überfordert zu sein. Im 20. Jahrhundert hatten Diktatoren große Zukunftsvisionen. Kommunisten und Faschisten waren gleichermaßen bestrebt, die alte Welt vollständig zu zerstören und an ihrer Stelle eine neue Welt zu errichten. Was immer man von Lenin, Hitler oder Mao halten mag, einen Mangel an Vision kann man ihnen nicht vorwerfen. Heute, so scheint es, hätten Politiker eigentlich die Möglichkeit, noch größere Visionen zu verfolgen. Während die Kommunisten und die Nationalsozialisten mit Hilfe von Dampf- und Schreibmaschinen eine neue Gesellschaft und einen neuen Menschen zu schaffen versuchten, könnten die heutigen Propheten mit Biotechnologie und Supercomputern arbeiten.

 

 

In Science-Fiction-Filmen bedienen sich hitlereske, rücksichtslose Politiker nur zu gerne solch neuer Technologien und stellen sie in den Dienst dieses oder jenes größenwahnsinnigen politischen Ideals. Doch Politiker aus Fleisch und Blut haben zu Beginn des 21. Jahrhunderts selbst in autoritären Ländern wie Russland, Iran oder Nordkorea nichts mit ihren Hollywoodverwandten gemein. Sie scheinen keine schöne neue Welt zu planen. Die kühnsten Träume von Kim Jong-un und Ali Khamenei reichen im Grunde nicht über Atombomben und Langstreckenraketen hinaus – das wirkt wie bei 1945 stehen geblieben. Putins Bestrebungen bleiben offenkundig darauf beschränkt, die alte Sowjetunion oder das noch ältere Zarenreich wiederzuerrichten. In den USA werfen paranoide Republikaner derweil Barack Obama vor, er sei ein rücksichtsloser Despot, der Verschwörungen aushecke, um die Grundlagen der amerikanischen Gesellschaft zerstören – doch in acht Jahren Präsidentschaft brachte er gerade einmal eine bescheidene Gesundheitsreform zustande. Neue Welten und neue Menschen zu schaffen liegt weit abseits seiner Agenda.

 

 

Gerade weil sich die Technologie heute so schnell entwickelt und Parlamente wie Diktatoren durch Daten, die sie nicht schnell genug verarbeiten können, förmlich erschlagen werden, denken heutige Politiker in viel kleineren Dimensionen als ihre Vorgänger vor 100 Jahren. Der Politik fehlt es Anfang des 21. Jahrhunderts folglich an großen Visionen. Regieren ist zu bloßer Administration geworden.

 

 

Man verwaltet das Land, führt es aber nicht mehr. Die Regierung sorgt dafür, dass Lehrer pünktlich bezahlt werden und die Abwasserkanäle nicht überlaufen, aber sie hat keine Ahnung, wo das Land in 20 Jahren sein wird.

 

 

In mancher Hinsicht ist das durchaus eine gute Sache. Wenn man bedenkt, dass einige der großen politischen Visionen des 20. Jahrhunderts uns nach Auschwitz, nach Hiroshima und zum «Großen Sprung nach vorn» führten, sind wir in den Händen kleingeistiger Bürokraten heute möglicherweise besser aufgehoben. Die Verbindung aus gottgleicher Technologie mit größenwahnsinniger Politik würde der Katastrophe Tür und Tor öffnen. Viele neoliberale Ökonomen und Politikwissenschaftler behaupten, am besten sollte man alle wichtigen Entscheidungen dem freien Markt überlassen. Damit liefern sie Politikern die perfekte Entschuldigung für Nichthandeln und Nichtwissen, die als tiefreichende Klugheit uminterpretiert werden. Politiker glauben nur zu gerne, dass sie die Welt deshalb nicht verstehen, weil sie sie nicht verstehen müssen.

 

 

Doch auch die Verbindung von gottgleicher Technologie mit einer Politik, die auf kurze Sicht fährt, hat ihre Schattenseiten. Ein Mangel an Visionen ist nicht immer ein Segen, und nicht alle Visionen sind zwangsläufig schlecht. Im 20. Jahrhundert zerfiel die historische Vision der Nationalsozialisten nicht von selbst. Sie wurde von den gleichermaßen groß angelegten Visionen des Sozialismus und des Liberalismus besiegt. Unsere Zukunft den Kräften des Marktes zu überlassen ist gefährlich, denn diese Kräfte tun, was gut für den Markt ist, und nicht, was gut für die Menschheit oder für die Welt ist. Die Hand des Marktes ist ebenso blind wie unsichtbar, und wenn man sie sich selbst überlässt, wird sie gegen die Bedrohung durch den Klimawandel oder das gefährliche Potenzial künstlicher Intelligenz nichts tun.

 

 

Manche Leute glauben, dass trotzdem jemand verantwortlich ist. Nicht demokratische Politiker oder autokratische Despoten, sondern eine kleine Clique von Milliardären, die insgeheim die Welt regieren. Aber solche Verschwörungstheorien funktionieren nie, weil sie die Komplexität des Systems unterschätzen. Ein paar Milliardäre, die in irgendeinem Hinterzimmer Zigarren rauchen und Whisky trinken, können nicht alles verstehen, was auf der Welt passiert, und es schon gar nicht kontrollieren. Rücksichtslose Milliardäre und kleine Interessengruppen florieren in der chaotischen Welt von heute nicht deshalb, weil sie die Karte besser lesen können als alle anderen, sondern weil sie sehr eng gesteckte Ziele haben. In einem chaotischen System ist der Tunnelblick immer von Vorteil, und die Macht der Milliardäre entspricht genau ihren Zielen. Wollte der reichste Mensch der Welt eine weitere Milliarde US-Dollar verdienen, könnte er das System problemlos manipulieren, um sein Ziel zu erreichen. Wollte er jedoch die weltweite Ungleichheit verringern oder den globalen Klimawandel stoppen, wird nicht einmal ihm das gelingen, weil das System viel zu komplex ist.

 

 

(Wo ist all die Macht geblieben?)

 

 

[…]

 

 

Wenn es dem Dataismus gelingt, die Welt zu erobern, was wird dann mit uns Menschen geschehen? Anfangs wird es wahrscheinlich das menschliche Streben nach Gesundheit, Glück und Macht beschleunigen. Der Dataismus breitet sich gerade deshalb aus, weil er diese menschlichen Sehnsüchte zu stillen verspricht. Um Unsterblichkeit, Glück und göttliche Schöpfungskraft zu erlangen, müssen wir ungeheure Datenmengen verarbeiten, welche die Kapazitäten des menschlichen Gehirns weit überschreiten. Also werden die Algorithmen das für uns erledigen. Doch sobald die Macht von den Menschen auf die Algorithmen übergeht, könnten die humanistischen Projekte irrelevant werden. Sobald wir die homozentrische Weltsicht zugunsten eines datazentrischen Weltbilds aufgeben, könnten Gesundheit und Glück der Menschen immer weiter an Bedeutung einbüßen. Denn warum sollte man sich um obsolete Datenverarbeitungsmaschinen kümmern, wenn es bereits deutlich bessere Modelle gibt? Wir streben danach, das «Internet aller Dinge» zu entwickeln, weil wir hoffen, dass es uns gesund, glücklich und mächtig macht. Doch sobald das «Internet aller Dinge» existiert und funktioniert, könnten wir von Entwicklern zu Mikrochips und dann zu Daten schrumpfen und uns am Ende im Datenstrom auflösen wie ein Klumpen Erde in einem reißenden Fluss.

 

 

Der Dataismus droht somit, Homo sapiens das anzutun, was Homo sapiens allen anderen Tieren angetan hat. Im Verlauf der Geschichte haben die Menschen ein globales Netzwerk geschaffen und alles nach seiner Funktion in diesem Netzwerk bewertet. Jahrtausendelang nährte das den menschlichen Stolz und menschliche Vorurteile. Da wir Menschen die wichtigsten Funktionen in diesem Netzwerk erfüllten, war es ein Leichtes für uns, uns selbst die Errungenschaften des Netzwerks anzurechnen und uns als Krone der Schöpfung zu betrachten. Das Leben und die Erfahrungen aller anderen Tiere galten als minderwertig, weil sie weit weniger wichtige Funktionen erfüllten, und wenn ein Tier gar keine Funktion mehr hatte, wurde es ausgerottet. Doch sobald die Menschen ihre funktionale Bedeutung für das Netzwerk verlieren, werden sie erkennen, dass sie gar nicht die Krone der Schöpfung sind. Die Maßstäbe, die wir selbst entwickelt haben, werden uns dazu verdammen, den Mammuts und den chinesischen Flussdelphinen ins Vergessen zu folgen. Rückblickend betrachtet, wird die Menschheit nichts weiter gewesen sein als ein leichtes Kräuseln im großen kosmischen Datenstrom.

 

 

Wir können die Zukunft nicht wirklich vorhersagen. All die hier in diesem Buch entworfenen Szenarien sollten als Möglichkeiten und weniger als Prognosen verstanden werden. Wenn wir über die Zukunft nachdenken, sind unsere Horizonte üblicherweise durch gegenwärtige Ideologien und Gesellschaftssysteme beschränkt. Die Demokratie ermuntert uns dazu, an eine demokratische Zukunft zu glauben. Der Kapitalismus erlaubt es uns nicht, uns eine nicht-kapitalistische Alternative vorzustellen. Und der Humanismus macht es uns schwer, über eine posthumane Bestimmung nachzudenken. Bestenfalls recyceln wir mitunter vergangene Ereignisse und betrachten sie als alternative Zukünfte. So dienen beispielsweise der Nationalsozialismus und der Kommunismus des 20. Jahrhunderts als Blaupause für viele Dystopien, und Science-Fiction-Autoren bedienen sich des Vermächtnisses von Mittelalter und Antike, um sich Jedi-Ritter und galaktische Kaiser vorzustellen, die mit Raumschiffen und Laserwaffen gegeneinander kämpfen.

 

 

Dieses Buch spürt den Ursprüngen unserer gegenwärtigen Konditionierung nach, um ihren Griff zu lockern und uns in die Lage zu versetzen, weit fantasievoller als bisher über unsere Zukunft nachzudenken. Statt unsere Horizonte durch die Prophezeiung eines einzigen definitiven Szenarios einzuengen, will dieses Buch sie erweitern und uns vor Augen führen, dass es ein viel breiteres Spektrum an Möglichkeiten gibt. Wie ich mehrfach betont habe, weiß niemand wirklich, wie der Arbeitsmarkt, die Familie oder die Ökologie im Jahr 2050 aussehen und welche Religionen, Wirtschaftssysteme oder politischen Strukturen die Welt beherrschen werden.

 

 

Doch eine Horizonterweiterung kann sich auch als Bumerang erweisen, wenn wir danach verwirrter und tatenloser sind als zuvor. Worauf sollten wir angesichts so vieler Szenarien und Möglichkeiten unsere Aufmerksamkeit richten? Die Welt verändert sich schneller als je zuvor, wir werden von unglaublichen Mengen an Daten, Ideen, Versprechungen und Bedrohungen überschwemmt. Die Menschen überlassen nicht zuletzt deshalb, weil sie mit der Datenflut nicht mehr zurechtkommen, die Macht dem freien Markt, der Weisheit der Crowd und externen Algorithmen. In der Vergangenheit funktionierte Zensur dadurch, dass der Informationsfluss blockiert wurde. Im 21. Jahrhundert bedeutet Zensur, die Menschen mit irrelevanten Informationen zu überschwemmen. Die Menschen wissen einfach nicht, worauf sie achten sollen, und vergeuden ihre Zeit oft damit, sich mit Nebenaspekten zu beschäftigen. In früheren Zeiten bedeutete Macht, Zugang zu Daten zu haben. Heute bedeutet Macht zu wissen, was man ignorieren kann. Worauf von all dem, was in unserer chaotischen Welt geschieht, sollten wir uns also konzentrieren?

 

 

Wenn wir in Monaten denken, sollten wir unser Augenmerk vermutlich auf unmittelbare Probleme wie die Wirren im Nahen Osten, die Flüchtlingskrise in Europa und die Abschwächung der chinesischen Wirtschaft richten. Wenn wir in Jahrzehnten denken, spielen der Klimawandel, die wachsende Ungleichheit und der Zusammenbruch des Arbeitsmarkts eine zentrale Rolle. Wenn wir aber das Leben im Großen und Ganzen in den Blick nehmen, werden alle anderen Probleme und Entwicklungen von drei miteinander verknüpften Prozessen überschattet:

 

 

  1. Die Wissenschaft konvertiert zu einem allumfassenden Dogma, das behauptet, Organismen seien Algorithmen und Leben sei Datenverarbeitung.
  2. Intelligenz koppelt sich vom Bewusstsein ab.
  3. Nicht-bewusste, aber hochintelligente Algorithmen könnten uns schon bald besser kennen als wir uns selbst.

 

 

Diese drei Prozesse werfen drei Schlüsselfragen auf, die Sie, so hoffe ich, noch lange nach der Lektüre dieses Buches beschäftigen werden:

 

 

  1. Sind Organismen wirklich nur Algorithmen, und ist Leben wirklich nur Datenverarbeitung?
  2. Was ist wertvoller – Intelligenz oder Bewusstsein?
  3. Was wird aus unserer Gesellschaft, unserer Politik und unserem Alltagsleben, wenn nichtbewusste, aber hochintelligente Algorithmen uns besser kennen als wir uns selbst?

 

 

(Ein Kräuseln im Datenfluss)

 

 

Yuval Noah Harari (1976 – ), Homo Deus. Eine Geschichte von Morgen (2015), passim


Das nenne ich mal einen ordentlichen Klopps an Text, der macht ordentlich satt und zugleich ziemlich voll. Deshalb habe ich mir entgegen des zuletzt beschriebenen Leseplans zunächst und zuvor die beiden oben zitierten Schinken o(h)ral als leidlich gut gelesenes Hör-Buch gegönnt und dadurch in ihrer nötigen Schwere moderat abgemildert. Ich konnte also doch nicht umhin, nach dem reizvollen Lektürebeginn der dritten populär(-wissenschaftlich-)en Monographie aus dem letzten Blog-Artikel zuerst die beiden älteren Bücher in einem zwanghaften Anflug von Werkschronologitis zu konsumieren.

Immehrin und insgesamt will Herr Harari („Danke!“ für diesen lautmalerisch-alliterierenden Namen) darin einiges an Gehalten auftischen: nichts weniger als die gesamte Geschichte der Menschheit, im großen Abriss ebenso wie in der kleinen Alltagsimpression. Derart vielsichichtig wird dieser buchstäblich epische Gegenstand umsichtig beschrieben und klar analysiert, zudem obendrauf noch fleißig kommentiert und reflektiert sowie zuletzt auch politisiert und polemisiert.

Schon an der Grenze zwischen Text-Fast-Food und Text-Slow-Food gelegen, zitiere ich hier tatsächlich querbeet über gut 1100 Druckseiten hinweg und versuche unterdessen ganz unambitioniert, das sog. Wesentliche von sowohl Inhalt (Argument, Beschreibung, etc.) als auch Form und Stil (Erzählung, Wortwahl, Stilistik, usw.) schlimmstenfalls nur anzudeuten oder bestenfalls sogar zu treffen. Bei diesem qualitativ also spannenden und quantitativ eindeutigen Verhältnis von Original zu Abbild kann ich mithin nur von „TFF“ sprechen, auch, weil ich mir zudem erlaube, kurzerhand zwei Werke zitierend in einem Artikel zu kombinieren: Ein kurze Geschichte der Menschheit feat. Homo Deus – namensgeben und eben nicht umgekehrt.

„Feat.“ also und deshalb auch klarer Zitatevorteil für Homo Deus! Denn in Summe lese ich die KGdM als Overtüre zu Homo Deus, weil der Geschichtswissenschaftler von der ersten Seite an förmlich danach drängt, den Bogen, den er nacherzählend zuvor historisch aufgespannt hat, praktisch anzubinden, sprich prognostisch fortzuführen, politisch zu problematisieren und bisweilen prophetisch weiterzuspinnen. Nach der Vergangenheit, die Gegenwart aus besagter und zuvor beschriebener dritten Monografie elegant überspringend, folgt also die Bruch-Landung irgendwo und irgendwann in möglichen Zukünften des Homo sapiens als Selfmade-Gott. Dessen und deren Entwurf sowie Kritik bedarf notwendig und wiederkehrend der Rückbindung an die Geschichte über die Geschichte und nunmehr endlich auch die bisher weithin ausgesparte Gegenwart; und macht zusammengenommen den intellektuell spannenderen Teil des Werkes aus, insbesondere da er auch praktisch-politisch von höhrer Relevanz ist, im Gegensatz zum theoretisch-deskriptiven Anspruch der bloßen Geschichtswissenschaft typischen Schlages, die Harari weit hinter sich zurücklässt.

Der bündige Blick auf 13.500.070.000 (In einem Wort: „Dreizehnmilliardenfünfhundermillionenundsiebzigtausend“) Jahre ist nichtsdestotrotz bewundernswert kompakt gehalten und dabei dennoch so anschaulich erzählt, dass Historie teilweise erlebar wird, in sie so plastisch wie humorvoll nachvollziehbar gemacht wird, wie das noch eben wünschenswert sein dürfte. Stereotypen treffen deshalb bisweilen auf Allgemeinplätzen aufeinander, was jedoch angesichts von Ironie und der zusätzlich brisanten Poly- und Ambivalenz von „Geschichte beschreiben“ und „Geschichten schreiben“ durchaus als Kompliment gemeint sein soll. Abstrakte Geschichte, die konkretes Geschehen für ihre Theoriarbeit zuvor vereinfacht hat, wird nachträglich wieder konkretisiert, indem ihr Farbe, Form und Gefühl zurückgegeben werden. Dadurch widerlegt der Schriftsteller Harari schon sehr früh das im letzten Artikel vorschnell gemachte Vorurteil von stilistischer Karg- und Nüchternheit. Er schreibt einfach und effektiv, was im Blick auf seine offenkundige Intention, (be-)schreibend insbesondere einen historisch aufgeklärten Einfluss auf den Zukunftsdiskurs der Menschheit zu üben, absolut stimmig ist.

Ebenso stimmig ist sein Portrait des Menschen als seßhaft und verkopft gewordenem ehemaligen Wildbeuter, der auf eine evolutionäre bewegte Vorgeschichte zurückblickt und dessen Geschichte unter eingängigen Schlagworten strukturiert und rekonstruiert wird: Auf die „Kognitive Revolution,“ in der wir fiktiv und abstrakt Denken und sozial interagieren gelernt haben, folgte die „Landwirtschaftliche Revolution“, die uns domestizierte und die ersten Hochzivilisationen hervorbrachte, worafhin sich zuletzt die „Wissenschaftliche Revolution“ ereignete, durch die wir technisiert und globalisiert wurden und dabei derart mächtig geworden seien, dass wir nunmehr gottgleich „Krieg, Hunger und Tod“ besiegen könnten oder gar schon hätten. Mit diesem unschuldig-beiläufigen Kippen in den Konjunktiv vollzieht sich bei Harari auch der im Text immer wieder angedeutete Übergang von der Beschreibung des Gewesenen in die Besprechung des Werdenden. Sein Ausblick auf das Zukommende ist dabei neugierig und bisweilen sorgenvoll und wendet sich unbestimmt auf die nähere und moderat fernere Zukunft im von mir grob geschätzten, von ihm nicht explizierten Intervall von 30 bis 100 Jahren.

Der globalisierte Humanismus, plausibel in seine liberale, evolutionäre und sozialistische Traditionslinie differenziert, könnte auf tragische Weise vielfach in die Krise geraten. Nachdem der Mensch sich zum Meister der Erde emporgearbeitet hat, indem er bei seiner Expansion ganze Ökosysteme samt Tieren, Pflanzen und Lebensraum schlicht zerstört oder funktional unterjocht hat, beherrscht er den Planeten zur Gänze. Die technologische Machtfülle hat jedoch massive Kosten verursacht und bringt ebensolche Konsequenzen mit sich: Während die Ressourcen rar werden und die natürlichen Puffer für fast jeden Umweltstressor gefühlt zur Neige gehen, das Klima sich jedenfalls zu unseren Unbilden wandelt, drängen zukünftige Gefahrenpotentiale auf uns ein und uns zu einer gestalterischen Proaktivität in Politik und Wirtschaft.

Nach Harari bedroht insbesondere der sog. „Dataismus“ den in sich spannungsvoll aufgespaltenen Humanismus und profitiert dabei, so lese ich seine Darstellung, von den offensichtlichen Widersprüche zwischen dessen libraler, sozial(-istisch-)er und evolutionärer Prägung. Um diesen drei Begriffen spontan ein griffigeres Bild zu geben: liberal wäre beispielsweise der in die Jahre gekommene „American Dream“, sozial bis sozialistisch der nie verwirklichte, vollendete „Kommunismus“ und evolutionär ein zumal noch biotechnologisch aufgerüsteter „Neo-Faschismus“; überall steht eine Idee, ein Ideal des Menschen im Zentrum, wohingegen Umwelt, Götter, Tiere überall, wenn überhaupt, eine untergeordnete Rolle spielen. Wie also mit der Bedrohung durch den Dataismus, d.h. der potentiellen Allmacht der Datenströme – der KI’s, Algorithmen und sonstigen neuen technologischen Unwesen – umgehen? So ungefähr lautet einer der wichtigsten Fragekomplexe, die Harari an den Anwärter auf den Göttertitel Homo Deus heranträgt.

Dass hier nebenbei eine gänzlich neue Phänomenklasse an Entitäten entsteht, interessiert wohl nur die wenigen Ontologen unter den wenigen Philosophen; der praktische Rest an Konsequenzen sollte aber definitiv jeden angehen. Denn jeder ist – Stichworte: Facebook, Amazon und Google – bereits betroffen und wird das zukünftig womöglich in noch stärkerem Maße sein. Je nach dem, wo man auf unserem Planeten zukünftig zufällig geboren wird, wird man womöglich von autonom fahrenden Autos befördert, in virtuellen Schulen E-unterrichtet, an jeder Ecke von künstlichen Intelligenzen bedient und beraten, sogar von ihnen operiert und stimuliert, bezahlt und gefeuert oder schlussendlich sogar politisch beherrscht. Dieser Klimax wird freilich mehr oder weniger, hier oder dort der Fall sein, aber die Herrschaft der Daten dämmert definitiv.

Ebenso dämmert die Nacht und mir zugleich, dass ich trotz vieler Aknüpfungspunkte und Ideen hier und jetzt einen schließenden Punkt machen sollte, um mich nicht von Hararis Universalitätsgebahren anstecken zu lassen: Er überzeugt in beiden Büchern durch seine lockere Art und die Fähigkeit, schwierige Sachverhalte einprägsam zu illustrieren, klar zu strukturiere, zugleich durch die selbstkritische Schonungslosigkeit seiner Analyse und die trotz versuchter Offenheit und Neutralität immer wieder durchscheinde strikt rationale Grundüberzeugung und einen zustiefst humanen Wertkanon. Deshalb gibt es eine klar Leseempfehlung von mir für Euch!

Gute Nacht und glückliches Gelingen im geschichtlichen Geschehen, Euer Satorius

Auf ein Neues: Hallo Gutenberg, hallo Gegenwart!

Was ist denn hier passiert, frage ich mich als müde gewordener, bisweilen verzagter Blogaspirant nach einer trägen Phase? Gutenberg bringt mich auf Trab, macht nicht nur alles anders, sondern auch vieles neu bei uns in Quanzland! Beispielsweise und konkret ist die ehemalige Formatierung von Text-Fast-Food im Detail unmöglich geworden und vermutlich auch die Form vieler anderer Formate. Deshalb heißt nun die Devise: Nicht zwanghaft am Alten kleben, lieber frei heraus das Neue erschaffen.

Block für Block entsteht hier und heute aus Anlass eines gelesenen Textes, der zuvor gefunden und für relevant oder wenigstens witzig befunden wurde, die neue Konvention für zukünftiges TFF. Mal sehen und abwarten, was hier in wenigen Sekunden erzählter Erzählzeit erscheint und wie lange die wirkliche Arbeitszeit auf dem Weg aus dem soliden Hardcover in meinen Händen heraus hinein in die hiesige Blogsphäre braucht.


Der Philosophie, der Religion und der Wissenschaft läuft die Zeit davon. Die Menschen diskutieren seit Jahrtausenden über den Sinn des Lebens. Wir können diese Debatte nicht endlos fortsetzen. Die sich anbahnende ökologische Krise, die wachsende Bedrohung durch Massenvernichtungswaffen und das Aufkommen neuer, disruptiver Technologien werden das nicht erlauben. Wichtiger noch: Künstliche Intelligenz und Biotechnologie verschaffen der Menschheit die Macht das Leben zu verändern und zu manipulieren. Schon sehr bald wird irgendjemand entscheiden müssen, wie wir diese Macht nutzen – und zwar auf der Basis irgendeiner impliziten oder expliziten Erzählung über den Sinn des Lebens. Philosophen sind sehr geduldige Menschen, doch Ingenieure sind weit weniger geduldig, und am allerwenigsten Geduld haben Investoren. Wenn wir nicht wissen, was wir mit der Macht, Leben zu manipulieren, anfangen sollen, werden die Marktkräfte nicht ein Jahrtausend lang warten, bis wir eine Antwort darauf gefunden haben. Die unsichtbare Hand des Marktes wird uns ihre eigene, blinde Antwort aufzwingen.

Yuval Noah Harari (1976 – ), 21 Lektionen für das 21. Jahrhundert, S. 17 (Einleitung)


Et voilà – ohne die Minuten tatsächlich gezählt zu haben, ist es zwischenzeitlich passiert: Das neue Gewand für den schnellen Texthappen von Heute und Morgen ist fertig geschneidert. Vor allem aber ist ein Bann gebrochen, bin ich wieder frei von Lese-/Schreibunlust und lustig auf Lese-/Schreibgenuss. Auf den Regress folgt nun wieder der Progress – so und soweit zumindest das aktuelle Credo!

Damit zurück zum Wesentlichen: Dem Text und dem Text über den Text, was nicht zufällig an Derridas Bild der Spur der Spur bei simultanem Verlöschen der Spur gemahnt. Hararis Spuren zu folgen, wie sie sich im Staub der Geschichte abzeichnen und durch den Sand der fließenden Zeit winden, immer mit Blick auf das Zukommende orientiert, erfüllt mich mit Vorfreude. Denn schon nach nur kurzer Aufwärm-Recherche, wenigen Seiten der Einleitung und der ursprünglich durch persönliches Gespräch geweckten Neugierde auf diesen Autoren, verspüre ich eine Sympathie für Hararis Denkstil und Werte. Wenn auch der literarische Stil bisher eher karg und nüchtern ausgefallen ist, so tut das der Relevanz der Themen und vermuteten Brillanz des Historikers keinen Abbruch.

Er unternimmt Großes, will vieles auf einmal und wagt große Schritte und Würfe. In seiner dritten Monographie nach Eine kurze Geschichte der Menschheit (2011) und Homo Deus. Eine Geschichte von Morgen (2015) setzt er sich dennoch bisweilen demütig das ambitionierte Ziel, die wichtigsten Entwicklungsstränge der Gegenwart zu entwirren. Nach der Schnellvariante der Menschheitsgeschichte, also aus der beruflichen Domäne heraus mit Blick auf die Vergangenheit, gefolgt von dem inspirierenden Exkurs in die Zukunft, wagt er sich nun also an das Zeitgeschehen und nimmt die Gegenwart in den Fokus seiner Betrachtung. Es geht ihm damit ausdrücklich um den undenkbar schmalen Grat namens Präsens, das zwischen den beiden (Un-)Endlichkeiten Futur und Präteritum fristet, eingekeilt, flüchtig dahineilt, noch keine Erinnerung, kein Dokument, nicht mehr Erwartung, fern der Prognose, stattdessen ereignet sich bloßes, nacktes Geschehen – feucht, heiß, glitschig und mysteriös.

Ob es dem Historiker auf dem Weg durch gefährlichste der drei Zeitebenen abermals gelingt, klare, kritische und konstruktive Begriffe zu entwerfen, um die jüngsten Entwicklungen und Ereignisse stattlich einzukleiden und so gesellschaftsfähig, also verständlich und zumutbar zu machen, bleibt abzuwarten. Die nächsten Wochen werden mich jedenfalls durch die 21 Lektionen führen, soweit ich eben bereit bin, mich belehren zu lassen und gelehrig zu bleiben. Der Lehrer hinterlässt bei mir allenfalls und zunächst einen guten ersten Eindruck – mach‘ was daraus, Yuval!

Euer optimistischer Denk-/Lese- und Schreib-Re­ha­bi­li­tand, Satorius

Der 4. Geburtstag – aber: nachträglich!

Die Chronisten streiten zwar weiterhin höchst kontrovers, ob es vor gut vier Jahren der 15.10 oder doch eher 16.10 war, als Quanzland sich erstmalig in der Raumzeit des Internets manifestierte. Heute jedenfalls ist eindeutig der 23., womit der gesamte Artikel und die damit verbundenen Glückwünsche durch uns, die Metatext-Redaktion, unter einem negativen Attribut: „nachträglich“!

Das ist ein bewusst kalkulierter Affront gegen Satorius, der seine Kopfgeburt, unseren gemeinsamen Zögling zunehmend und mittlerweile schändlich vernachlässigt. Nicht nur mangelt es uns als Textverarbeitern im schimpflichen Maße an Inhalten, Interesse und Initiative durch den werten Herren Autoren, sondern wir wurden auch noch Opfer von inhumaner Rationalisierung: Aus 12 Mann mach 7 – einfach so, über Nacht, ohne jede Kündigungsfrist mal eben so 5 Menschen, Freunde und Mitstreiter sogar, auf dem Feldzug für das freie, freudige Wort gefeuert, entlassen, gekündigt. Gepaart mit Null- und Kurzarbeit im letzten Jahr, gibt es somit gute, schlechte Gründe für miese Laune in der Redaktion.

Trotzdem, so viel Ehre muss sein, soll trotz allem sein; auch wenn es hier nur noch langsam wächst, zunehmend unserer Unterstützung weniger bedarf, so bleiben wir unserer Aufgabe – Quanzland eine Form zu geben – treu ergeben. Wir, die sieben Rest-Redakteuere, gratulieren ausdrücklich dem Werk, weniger seinem Autor, recht herzlich zu seinem 4. Jahrestag:


Herzlichen Glückwunsch zum 4. Geburtstag Quanzland!

wünscht die geschrumpfte Metatext-Redaktion


Obwohl wir also schmollen und deshalb nur das nötigste an Aufwand für diesen, exklusiv uns überlassenen Geburtstagstext aufwenden, wollen wir heute erstmalig einen Blick in die mittelferne und sodann, traditionell rudimentär statistisch, in die nahe Vergangenheit unseres Blogs werfen. Unser anfangs so anklagender Befund wird hierbei leider eindeutig bestätigt. Dass die vierjährige Geschichte Quanzlands derweil eine Chronik des Niedergangs beschreibt, ist somit zugleich ein hartes aber ebendrum auch ein gerechtes und insbesondere von großer Sorge getragenes Urteil.

Ging es noch im ersten Jahr (99) mit knapp Hundert seinerzeit ehrlicherweise „sog.“ Artikeln, zumeist kürzeste und so gut wie immer unoriginelle Beiträge, insgesamt noch heftig zur Sache; wurde es im zweiten Jahr (+59) erwartbar etwas gediegener; gefolgt, und hier wurde es erstmals spannend, von einem dann leider fortgesetzt und somit bezeichnenden Negativtrend in Jahr Nr. 3 (+29) und wird nunmehr im vierten Jahr (+14) zuletzt gekrönt durch ein halbes Jahr Arbeitslosigkeit und sich daran anschließende Kurzarbeit. Die erfreuliche Addition zweier Themenbereiche und eines neuen Formates im vergangenen Jahr wurde akut wieder konterkariert; abermals sorgte die rüde, mehrwöchige Unterbrechung der zuvor initiierten Wochenendlektüren bei uns für Verdruss. Mit dieser folglich neuen Phase der Nullarbeit schließt sich der Kreis des letzten Jahres und Quanzlands Geschichte mündet trist wieder in unsere Gegenwart ein.

Es geht also quantitativ stark bergab und qualitativ, wenn auch die Texte den Namen „Artikel“ derweil eher verdienen, nicht im ausgleichenden Maße wieder bergauf – Talfahrt allenthalben also. Wir langweilen uns dabei definitiv und kommen deshalb zunehmend auf skurrile Gedanken sowie abwegige Ideen. Statt in dieser Richtung weiterzugehen, wollen wir jedoch einer der wenigen wirklichen Konstanten hier in Quanzland ihren entsprechenden Raum geben und der Tradition die Ehre erweisen.

„Quanzland in Zahlen“ sieht für dieses Lebensjahr derzeit so aus:


Thema (+2)       Anzahl der Beiträge: 199 (+14)       Format  (+1)

Fiktionale Kleinode   101 (+5)

Text-Fast-Food   95 (+11)

Denkwelten   52 (+3)

Lichtrausch   45 (+5)

Diskurse der Nacht   33 (+5)

Originale   28 (+6)

Kulinarik 22 (+1)

Quanzland-Zeitgeschehen   18 (+0)

Lyrik-Alarm   18 (+4)

Text-Slow-Food   6 (+4)

Metatext   14 (+4)

NEU: Bilderfolgen   5 (+5)

NEU: Wilde Trips   2 (+2)

NEU: Lebensräume   2 (+2)

Rätsel-Runde   1 (0)


Wir hoffen also, nächstes Jahr noch Teil von Quanzland sein zu dürfen, und vor allem, dass Satorius unsere Anklagen und Bitten ernst nimmt und sich nicht weiterhin ständig selbst demotiviert. Deshalb wiederholen wir auch hier unsere häufig getätigte Einschätzung der Lage: Ja, es gibt faktisch kaum bis keine Leser und definitiv keine anregenden Gespräche; auch ja, es gibt bequemere Zeitvertreibe, als einen Blog zu betreiben; zuletzt abermals ja, es gibt viele alltäglich nötige Konkurrenten um die notwendige Schreib- und Denkzeit. Denn nein, öffentliches Schreiben kultiviert den Geist, ermöglicht bessere Kommunikation, kann zu einer Kunst veredelt werden und ermöglicht Partizipation, Selbstausdruck und Demonstration.

Bevor wir nun aber restlos ins Pädagogische abgleiten, verbleiben wir mit erhobenen Zeigefinger der rechten Hand in Richtung Satorius und winkend mit der linken Hand in Richtung der (wenigen) Leser sowie einem offenen Blick in unsere Zukunft.

Bis bei einer nächsten Gelegenheit und spätestens bis in einem knappen Jahr beim 5. Jahrestag, Ihre Metatext-Redaktion

Poets on drugs?!

Alles neu macht Gutenberg, der neue Editor von WordPress. Einiges wurde damit besser, einiges jedoch auch schlechter. Deshalb werde ich von nun an auf die über Jahre hinweg beinahe schon klassisch gewordene Formatierung für TFF und dergleichen Zitationen verzichten, denn sonst müsste wie auch beim Blocktyp Überschrift gänzlich auf Farbe und weitere Formatoptionen verzichten. Da ich das nicht will, Verzicht in dieser Hinsicht keine Optiondarstellt, behelfe ich mir mit einem stark veränderten Absatz-Block und versuche mich ansonsten nicht über die Steuerung von Zeilen und Absätzen aufzuregen.

Dergestalt pflege ich mit dem heutigen Artikel zugleich mit Lyrik-Alarm ein Fomat und mit Bilderfolgen ein Thema, die zwar nicht vom Aussterben bedroht, aber doch selten sind. Gemischt wird das ganze thematisch noch mit Fiktionalen Kleinoden und Denk-Welten und fertig ist der Blogbeitrag:


An den Mond

Füllest wieder Busch und Tal
Still mit Nebelglanz,
Lösest endlich auch einmal
Meine Seele ganz;

Breitest über mein Gefild
Lindernd deinen Blick,
Wie des Freundes Auge mild
Über mein Geschick.

Jeden Nachklang fühlt mein Herz
Froh- und trüber Zeit,
Wandle zwischen Freud‘ und Schmerz
In der Einsamkeit.

Fließe, fließe, lieber Fluß!
Nimmer werd‘ ich froh;
So verrauschte Scherz und Kuß
Und die Treue so.

Ich besaß es doch einmal,
was so köstlich ist!
Daß man doch zu seiner Qual
Nimmer es vergißt!

Rausche, Fluß, das Tal entlang,
Ohne Rast und Ruh,
Rausche, flüstre meinem Sang
Melodien zu!

Wenn du in der Winternacht
Wütend überschwillst
Oder um die Frühlingspracht
Junger Knospen quillst.

Selig, wer sich vor der Welt
Ohne Haß verschließt,
Einen Freund am Busen hält
Und mit dem genießt,

Was, von Menschen nicht gewußt
Oder nicht bedacht,
Durch das Labyrinth der Brust
Wandelt in der Nacht.

   

Johann Wolfgang von Goethe (1749 – 1832), An den Mond (1777)


Liebliches

Was doch Buntes dort verbindet

Mir den Himmel mit der Höhe?

Morgennebelung verblindet

Mir des Blickes scharfe Sehe.

     

Sind es Zelte des Wesires, 

Die er lieben Frauen baute?

Sind es Teppiche des Festes,

Weil er sich der Liebsten traute?

     

Rot und weiß, gemischt, gesprenkelt

Wüßt ich Schönres nicht zu schauen.

Doch wie, Hafis, kommt dein Schiras

Auf des Nordens trübe Gauen?

       

Ja, es sind die bunten Mohne,                                                                                

Die sich nachbarlich erstrecken

Und dem Kriegesgott zu Hohne

Felder streifweis freundlich decken.

    

Möge stets so der Gescheute                                                                          

Nutzend Blumenzierde pflegen

Und ein Sonnenschein wie heute

Klären sie auf meinen Wegen!

     

Johann Wolfgang von Goethe (1743 – 1832), Liebliches (1819; in: West-östlicher Divan – Buch des Sängers)


SONNET 76

Why is my verse so barren of new pride?
So far from variation or quick change?
Why with the time do I not glance aside
To new-found methods and to compounds strange?
Why write I still all one, ever the same,
And keep invention in a noted weed,
That every word doth almost tell my name,
Showing their birth and where they did proceed?
O, know, sweet love, I always write of you,
And you and love are still my argument;
So all my best is dressing old words new,
Spending again what is already spent:
For as the sun is daily new and old,
So is my love still telling what is told.


Was bleiben allen neuen Reizen fern, Eintönig, ohne Wechsel meine Sänge? Und warum schiel‘ ich nicht, wie es modern, Nach neuer Form und seltnem Wortgepränge? Was Schreib‘ ich immer gleich und eines nur Und kleide meinen Sang nach alter Art, Daß jede Silbe weist auf meine Spur Und ihren Stamm und Herkunft offenbart? Muß, Liebster, ich von dir doch immer singen! Du und die Liebe bist mein ganzer Sang, Mein Bestes ist, in neue Form zu bringen Die alte Weise, die schon oft erklang. Alt ist die Sonne, und doch täglich neu, So bleibt mein Herz dem alten Liede treu.

William Shakespeare (1564 – 1616), SONNET 76 (Entstanden: 1592 – 1598; Veröffentlichung: 1609)

Weitere Übersetzungen und Lyrik bis zum Morgengrauen: http://www.deutsche-liebeslyrik.de/europaische_liebeslyrik/shakespeare/shakespeare_76.htm


SONNET 118

Like as, to make our appetites more keen,
With eager compounds we our palate urge,
As, to prevent our maladies unseen,
We sicken to shun sickness, when we purge,
Even so, being tuff of your ne’er-cloying sweetness,
To bitter sauces did I frame my feeding,
And, sick of welfare, found a kind of meetness
To be diseas’d, ere that there was true needing.
Thus policy in love, to anticipate
The ills that were not, grew to faults assured,
And brought to medicine a healthful state,
Which, rank of goodness, would by ill be cured:
   But thence I learn, and find the lesson true,
   Drugs poison him that so fell sick of you.


Wie man, um seine Essenslust zu mehren,
Den Gaumen reizt durch scharfe Arzenein
Und, sich verborgner Leiden zu erwehren,
Aus Furcht vor Krankheit impft die Krankheit ein:
So würzte ich, der ich mich übernommen
An deiner Süße, bitter meinen Trank,
Der Schmerz war als Erholung mir willkommen
Nach zu viel Lust, von Wohlergehen krank.
So dachte Liebe schlau vorauszueilen
Der künft’gen Not und kam zu sicherm Leid;
Die Krankheit sollte den Gesunden heilen,
Der, krank am Guten, suchte Bitterkeit.
Doch lernt‘ ich dies, daß Arzenei wie Gift
Für den ist, den durch dich die Krankheit trifft!

William Shakespeare (1564 – 1616), SONNET 118 (Entstanden: 1592 – 1598; Veröffentlichung: 1609)


Schrieb Shakesspear auf Dope und ergözte sich Goethe am tiefen Opiumschlummer? Zwei Titanen der Literaturgeschichte, fließige und geehrte Männer, sollen solch liederlichen Lastern gefrönt haben, wie man sie höchsten bei Hippie-Poeten, exzentrischen Rockstars und insgesamt bei  zeitgenössischen Stars erwartet und duldet: Dorgen, Rausch und womöglich sogar am Ende auch noch Sucht!

In der aktuellen, durchaus sehr sehenswerten Folge von Terra X, die unter dem Untertitel DrogenEine Weltgeschichte thematisch einschlägig firmiert, werden archäologisch bis literaturgeschichtliche These zu beiden Autoren artikuliert: Von Francis Thackeray werden drogentechnisch positiv getestete Pfeifen präsentiert, nachdem er in den zwei sicherlich gelesenen Gedichten untrügliche Hinweise auf Cannabis gefunden haben wollte – das „Weed“ und die Ode an den anonymen Appetitanreger; vager und weniger empirisch schlagend fällt die an- und die Sendung abschließende Bezichtigung unseres lieben Volksdichters aus, der West und Ost in seiner Biografie vereinend, wohl ein Freund des Mohns und seines wertvollen Saftes gewesen sein soll. Daneben findet ein farbenfroh illustrieter Roadtrip durch die Menschheitsgeschichte statt, währenddessen ein nüchtern-anerkennender Umgang mit dem sooft tabuisierten Grundmotiv des Lebens gepflegt und viel Wissenswertes erzählt wird. Soviel sei angedeutet, denn die Mediathek lockt leichterhand zum Ansehen der eigentliche Quelle: Drogen – Eine Weltgeschichte (1/2). Zwischen Rausch und Nahrung

Ich persönlich lese ja den Mond als starkes und subtiles Symbol, als poetischen Platzhalter für das Objekt der Sehnsucht; wobei ich den Romatikern trotz aller Freakigkeit eher langweilig eine Sucht nach Liebe, eine Begierde nach der sexuellen Lust mitunter, unterstelle. Wein, Weib und Gesang sind zwar die klassischen Genüsse, aber mit dem Begriff des Fetisch wird alles zum potentiellen Objekt des libidinösen Willens. Der Baum am Wegesrand, die Schuhe der galanten Nike, womöglich sogar eine Virtualität wie Warcraft oder perverserweise Tote, Kind und Kegel, alles taugt für den Exzess mit Anhaftungsabo. Ohne Ethos, sei es stoisch strikt oder epikuräisch elegant, droht immer der Wunsch nach und die Wirklichkeit der Wiederholung. Den Psychonauten locken Baudrillards künstliche Paradiese, geschockt durchlebt er Dantes Inferno und verwirrt verlässt er unterdessen Carolls Wunderland ebenso wie Baums Oz und trennt sich von Rabelais Riesen. Was ich damit abschließend und explizit behaupten möchte, wer Trip sucht, der findet ihn überall in der Literatur, denn Fantasie und Rausch, Wonne und Kreativität sind gute alte Freunde.

Euer bilderfolgender und lyrik-alarmierter Gelegenheitsblogger, Satorius

Sommerzwitschern nach der Insel

Auch wenn ich noch nie das Bedürfnis verspürt habe, einen Tweet zu verfassen, noch gar Tweets anderer zu lesen, erlaube ich mir ein kurzes sommerliches Zwitschern, dem jedoch ein kleines Paket an Inhalten an- und nachhängt. Luftig zu beginn, bewegt im Abgang ist also das heutige Motto.

Ich war Camper auf der Ostseeinsel Fehmarn! Jeder hat ja so seine lebenslangen Träume und Projekte; eines meiner Vorhaben: Ich will alle deutschen (Meeres-halb-)Inseln mit Zelt und Fahrrad, wo nötig natürlich auch Auto, besuchen. Bisher sind nicht viele Ziele zu verbuchen: Wangerooge (Klassenfahrt), Rügen (Kurzbesuch), Fischland-Darß-Zingst (2016) und nun also Fehmarn. So viel sei dazu nun also nur eben kurz gezwitschert:

Fehmarn ist eine touristisch gut erschlossene Insel, die bestens zum Campen und befriedigend zum Fahrradfahren einlädt; denn man muss  auf Höhenmeter verzichten können. Ich konnte es einigermaßen und hatte wunderbare 10 Tage auf der Insle, ihren Stränden und vor allem an und in der sie umgebenden Ostsee. Während ganz Deutschland unter der heftigen Hitze litt, ließ ich mich von frischer Seeluft und den Wogen des Meeres erfrischen, laß viel und machten fleißig Yoga. Es war schlicht ein toller Urlaub. Der Ort: Fehmarn im Kreis Ostholstein, ist eine landschaftlich nicht allzu diverse, aber dennoch wunderschöne Insel. Sie bietet neben vielen Ortschaften, die auf „-dorf“ enden, ettliche Campingplätze und viel landwirtschaftlich genutzte Landschaft. Kleine idyllische Dörfer und Höfe im Herzen und wilde Naturstrände drumherum, mit nur wenigen urbanen und hypertouristischen Orten dazwischen laden zum Kennenlernen und Erholen ein. Über enge Landstraßen und staubige Feldweg erreicht man mit dem Fahrrad fast jeden Winkel der Insel, was mir mit knapp 200km Tourenstrecke bis auf ein Areal rund um den wohlklingenden Ort „Gold“ auch gelungen ist beinahe komplett gelungen ist.

Bevor nun aus dem Zwitschern doch wieder ein Gackern wird, schließe ich den Kurzbericht mit zwei neuen Bilderfolgen über und von Fehmarn und verweiße für die Touren und deren Dokumentation auf meinen Account bei Komoot. Damit wird zwar das Netz an Informationen um mich herum engmaschiger, werden die Tentakel, Beine und Augen Legion; aber auch ich füttere gelegentlich gerne die Kraken und Spinnen und Monster im Allgemeinen – guten Appetit damit: Satorius (Link zu meinem Komoot-Benutzer)


Ostseebrandung im Osten von Fehmarn nahe Katharinenhof

Die Markelsdorfer Huk im Nordwesten der Insel

Euch allen einen erholsamen Restsommer und bis bald bei den Wochenendlektüren, Euer Satorius



Gretchenfrage 2.0: Und wann killst du Mutter Erde dieses Jahr?


Liste weiterführender Links zum Themenkomlpex:


Von nun an prellen wir die Zeche – und wir tun dies zudem höchst unsolidarisch, also kaum auf unsere eigene Rechnung, sondern wir schreiben die Kosten auf den Deckel anderer Regionen und zukünftiger Genetationen! Denn der Tag, an dem der globalen Durchschnittsmenschen die Erde dieses Jahr „abgeschossen“ hat, oder genauer und weniger heftig formuliert: ihre Ressourcen und Regeneration „überlastet“ hat, liegt jetzt bereits hinter uns. Deutschlands Durchschnitt fällt dabei noch schlechter aus: Wir Bundesbürger haben Mutter Erde bereits Anfang Mai gekillt und bedürfen zum Erhalt unseres aktuellen Lebensstandards ganze drei Erden. Den Rest unseres Jahres leben wir nun nach dem Motto „Nach uns die Sintflut“ oder, um die Redewendungen letztlich auf die Spitze zu treiben, werden wir dem Mutterschiff Erde zu den sprichwörtlichen Ratten, die das Schiff (wenigstens durch Unterlassung) versenken. 

Mein Zugang mag etwas morbid im Abgang wirken, aber die Drastik der Darstellung dient eindeutig pädagogischen Zwecken, wie insgesamt das zu Grunde liegende Konzept des ökologischen Fußabdrucks. Dabei hat dieser Sachverhalt auch etwas zutiefst Tröstliches, gibt er  uns doch die Verantwortung zurück und erhöht damit unseren Einfluss: Es liegt an uns; wir handeln und unterlassen; jeder einzelne Mensch ist alltäglich gefragt. Ökonomie, Ökologie und insbesondere Politik werden praktisch und konkret, finden bei uns zuhause statt, sind nicht mehr nur theoretisch und abstrakt.

Der Preis dessen, wenn man diese Sache (mit oder ohne den Selbsttest des eigenen Fußabdrucks) denn überhaupt ernst nimmt, ist vermutlich ein gerüttelt Maß an kognitiver Dissonanz, also dem unangenehmen Gefühl und der entsprechenden (verdrängten) Erkenntnis, dass das eigene Handeln und Denken, unser Leben und unsere Werte im Spannungsverhältnis, womöglich sogar im Widerspruch zueinander stehen. Was an dieser Stelle bleibt, ist psychologisch gesehen recht einfach: Umdeutung oder Leugnung der Fakten, Anpassung durch Umgewöhnung des Verhaltens oder eine teuer erkaufte Ignoranz bei fortschreitendem Missverhältnis. Zwei dieser Wege führen in oder an den Abgrund heran, die goldene Mitte ist das Ideal, aber wie die meisten echten Lösungen mit Anstrengung und Verzicht verbunden: Wer will schon radfahren oder laufen, Bus- oder Bahnfahren, statt sich mit dem Auto fortzubewegen; Urlaub in der Nähe, Deutschland oder Europa, machen, statt die weite Welt zu entdecken; globalen Burger, Steak, Käse und Wurst für regionales Gemüse, Obst, Nuss und Brot eintauschen; statt des Filmabends mit Smartphone-Intermezzo bei hellstem Lampenschein und optimalem Klima, einfach nur dasitzen und ohne Strom Spaß haben; zuletzt die luxuriöse Higtech-Stadtvilla in bester Lage räumen und in die spartanische Blockhütte im Wald ziehen?

Nur der Anwärter zum totalen Gutmenschen bejaht hier weitreichend und zweifelsfrei, aber das ist auch nicht der Punkt, denn es geht nicht bloß ums gute Gewissen, sondern um eine ernsthafte Reflexion über das eigene Verhalten. Was und wie weit man seinen Alltag dann verändert, ist überhaupt erst der zweite Schritt nach dem ersten. Spieglein, Spieglein an der Wand, was tue ich und was könnte ich tun, wollte ich besser leben, steht ganz am Anfang und ist mein bescheidenes Artikel-Ziel. Denn nur, wer sich der Möglichkeit von mentalen Misstönen, der besagten „Kognitiven Dissonanz“, öffnet, kann sich selbst überzeugen oder von anderen überzeugt werden. Überreden also, bloßes Erlassen und Verordnen zumal, mag manchem als Mittel demokratisch-liberaler Politik erscheinen, ich jedoch begnüge mich mit diesem Diskursangebot und vertraue den Rest Euch selbst an. Ob daraufhin persönliche Klugheit, kalkulierendes Selbstinteresse, Moralität und was dergleichen mehr ist, letztendlich nur zu Denk- oder gar zu Verhaltensänderung führen, bleibt jedem Selbst überlassen. Wir Westler leben, (fast) wie wir wollen und können wählen – glücklicherweise!

Hoffen und Handlen darf und werde ich. Jedenfalls mir gefiel das Bild nicht, das ich zu sehen bekam, als ich mich zuerst vor den Spiegel stellte, um mich selbstkritisch zu betrachten. Und es geht mir weiterhin noch so, wenn auch nur (noch) relativ, verbrauche ich doch angeblich derzeit nur 1.1 Erden pro Jahr und werde erst ab dem 29.11.2018 zum Täter. Dass meine Opfer namen-, ort- und zeitlos sind, macht die Tat zwar leichter und bequemer, ändert aber nichts an meinem Spiegelbild und bringt die existenzielle Kakophonie zwischen meinen Ohren nicht zum Verstummen. Vielleicht sollte ich alternativ ganz laut „Fake News!“ schreien, mich konsumierend Zestreuen oder schlicht und einfach ganz und gar Betäuben? Eher nicht, wenn ich mir die Tendenz anschaue und eine Prognose auch nur vage vorstelle:

Euer immer-ambivalenter Adept zwischen Gut- und Schlechtmenschentum, Satorius